Titel: Ueber die Zusammensezung und einige Eigenschaften des Chlorkalks, von Emil Maximilian Dingler in Augsburg.
Autor: Dr. Emil Maximilian Dingler [GND]
Fundstelle: Band 29, Jahrgang 1828, Nr. CXXXV., S. 459
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CXXXV. Ueber die Zusammensezung und einige Eigenschaften des Chlorkalks, von Emil Maximilian Dingler in Augsburg. E. Dingler, uͤber die Zusammensezung des Chlorkalks. Viele der ausgezeichnetsten Chemiker haben bisher den Chlorkalk fuͤr eine Verbindung von Chlor mit Kalkhydrat gehalten, ohne, wie es schien, die Richtigkeit dieser Ansicht im Geringsten in Zweifel zu ziehen. Ganz abgesehen von dem chemischen Verhalten dieses merkwuͤrdigen Koͤrpers sehe ich auch keinen Grund ein, warum eine solche Ansicht an und fuͤr sich unwahrscheinlich seyn sollte. Faraday hat eine krystallisirte Verbindung von Chlor mit Wasser entdekt; man sollte nun glauben, daß wenn das Chlor sich mit einem Oxyd, welches es unter dem Einfluß des Lichts so leicht zersezt, chemisch verbinden kann, es auch mit einem Metalloxydhydrat eine Verbindung eingehen wird, die offenbar constanter seyn muß. Berzelius haͤlt es nun aber fuͤr wahrscheinlicher, daß bei der Vereinigung des Chlors mit Kalkhydrat einerseits Chlorcalcium, und andererseits chlorichtsaure Kalkerde (oder vielleicht eine Verbindung von einem noch unbekannten Chloroxyde mit Kalkerde) entsteht, welcher lezteren die bleichende Eigenschaft des sogenannten Chlorkalks zugeschrieben werden mußDa die chlorichte Saͤure nach der Analyse des Grafen von Stadion 3 Aeq. Sauerstoff (= 30) auf 1 Aeq. Chlor (= 44,013) enthaͤlt, so muͤßten sich 5 Aeq. Chlorcalcium (= 203,84) auf 1 Aeq. chlorichtsaure Kalkerde (= 109,62) bilden enthaͤlt aber die chlorichte Saͤure, wie Davy und Gay-Lussac fanden, 4 Aeq. Sauerstoff (= 40) auf 1 Aeq. Chlor (= 44,01), so muͤßten 4 Aeq. Chlorcalcium (= 278,452) auf 1 Aeq. chlorichtsaure Kalkerde (= 119,613) entstehen.. Dieser beruͤhmte Chemiker gruͤndet seine Meinung zum Theil auf Analogie nach dem Verhalten des Chlors zum Kali und Natron, zum Theil auf Versuche mit Blei- und SilberauflosungenMan vergleiche seine Abhandlung: uͤber die bleichende Verbindung des Chlors mit den Basen, aus dem schwedischen Jahresberichte fuͤr 1827, uͤbersezt in Poggendorff's Annalen der Physik 1828, Bd. 12. S. 529.. Ich hatte gefunden, daß das aus Chlorkalk durch Schwefelsaͤure entbundene Gas, man mag es zuvor auf 190° (C.) erhizen oder nicht, von Queksilber und Kali vollkommen absorbirt wird, und daher weder Sauerstoff noch Chlorwasserstoffsaͤure, Chloroxyd oder chlorichte Saͤure enthaͤlt; daraus schloß ich, daß der Chlorkalk nicht als ein Gemenge von Chloxcalcium mit chlorichtsaurer Kalkerde betrachtet werden kann, in der Voraussezung, daß die Schwefelsaͤure aus einem solchen Gemenge Chlorwassersfoffsaͤure und chlorichte Saͤure entbinden muͤßte. Berzelius erklaͤrt nun aber die Thatsache, daß der Chlorkalk mit Schwefelsaͤure zersezt, reines Chlor entwikelt, folgendermaßen: Die Schwefelsaͤure zersezt zuerst die chlorichtsaure Kalkerde; dadurch entsteht schwefelsaurer Kalk und chlorichte Saͤure wird frei; diese frei gewordene chlorichte Saͤure oxydirt dann das Calcium in dem Chlorcalcium (welches dem chlorichtsauren Kalk innig beigemengt ist), wodurch sie selbst zu Chlor reducirt wird und mit dem von dem Calcium getrennten Chlor entweicht. Hieraus folgt nothwendigerweise, daß wenn es auf irgend eine Art moͤglich ist, das Chlorcalcium aus dem Chlorkalk ganz zu entfernen, nur chlorichtsaurer Kalk zuruͤkbleiben wird, der mit Schwefelsaͤure zersezt, entweder chlorichte Saͤure, oder ihre Elemente, Chlor und Sauerstoff entbinden wird; ferner daß, wenn das Chlorcalcium nur zum Theil von dem chlorichtsauren Kalk getrennt werden kann, sich außer Chlor auch noch diejenige chlorichte Saͤure entwikeln wird, welche nicht mehr die noͤthige Menge Chlorcalcium vorfindet, um sich zu Chlor zu reduciren. Nun ist bekannt, daß neutraler Chlorkalk nicht weniger als sein zehnfaches Gewicht Wasser von 15° zur vollstaͤndigen Aufloͤsung bedarf, waͤhrend Chlorcalcium sich in weniger als der Haͤlfte seines Gewichts Wasser von 45° aufloͤst; behandelt man daher neutralen Chlorkalk mit seinem fuͤnffachen Gewichte Wasser von 15°, so muß sich der groͤßte Theil des Chlorcalciums darin aufloͤsen, waͤhrend wenigstens die Haͤlfte des chlorichtsauren Kalks zuruͤkbleibt, wenn der Chlorkalk wirklich ein Gemenge von diesen beiden Substanzen ist. Als ich jedoch Chlorkalk. welcher nach der Methode von Houton-Labillardière Journal de Chimie médicale. I. p. 501. sehr sorgfaͤltig bereitet war, in dem angegebenen Verhaͤltniß mit Wasser abrieb, und die Fluͤssigkeit von dem Unaufgeloͤsten, durch das Filter so gut es thunlich war, trennte, entband der Ruͤkstand durch Schwefelsaͤure ein Gas, welches von Queksilber bis auf einen sehr geringen (aus atmosphaͤrischer Luft und einer Spur Kohlensaͤure bestehenden) Ruͤkstand absorbirt wurde, beim Erhizen mittelst gluͤhender Kohlen weder explodirte noch Sauerstoffgas ausgab, und alle characteristischen Eigenschaften des reinen Chlors besaß. Ich sehe es dadurch als entschieden an, daß trokener Chlorkalk weder chlorichte Saͤure, noch Chloroxyd oder irgend ein anderes noch unbekanntes Oxyd des Chlors enthaͤlt. Ueber das Verhalten des neutralen Chlorkalks zum salpetersauren Silber haben mir zahlreiche Versuche folgendes Resultat gegeben: 1) Wird eine stark verduͤnnte Aufloͤsung von salpetersaurem Silber (z.B. eine solche, welche in 100 Theilen nur 0,30 Theile geschmolzenes salpetersaures Silber enthaͤlt) mit einer gesaͤttigten Chlorkalkaufloͤsung versezt, so entsteht sogleich ein reichlicher weißer Niederschlag von Chlorsilber, und die Fluͤssigkeit enthaͤlt chlorsaures Silberoxyd Wenn bei diesem Versuche das salpetersaure Silber, in Ueberschuß vorhanden ist, so behaͤlt die Fluͤssigkeit dennoch einige Zeit die Eigenschaft, schwach zu bleichen, weil die lezten Antheile des Chlorkalks in viel zu viel Wasser vertheilt sind, als daß das Chlor energisch auf das Silberoxyd wirken koͤnnte. Das in der Fluͤssigkeit aufgeloͤste chlorsaure Silberoxyd betraͤgt beinahe 1 Aeq. (= 239,17) auf 5 Aeq. gefaͤlltes Chlorsilber (= 895,85); daß diese beiden Substanzen nicht genau in dem angegebenen Verhaͤltniß sich bilden, ruͤhrt daher, daß waͤhrend der Aufloͤsung des trokenen Chlorkalks in Wasser immer eine geringe Menge chlorwasserstoffsaurer Kalk entsteht. Wenn der Chlorkalk gegen das salpetersaure Silber uͤberschuͤssig ist, so bleibt die Reaction dieselbe; nur enthaͤlt die Fluͤssigkeit an Statt chlorsauren Silberoxyds, chlorsauren Kalk aufgeloͤst. – Eine Silberaufloͤsung von der oben angegebenen Concentration zeigt also die von Gay-Lussac beobachtete Reaction. 2) waͤhrend, wie wir gesehen haben, eine sehr verduͤnnte Silberaufloͤsung mit Chlorkalk versezt durch gegenseitige Zersezung salpetersauren Kalk und Chlorsilberoxyd gibt, welches augenbliklich in Chlorsilber und chlorsaures Silberoxyd zerfaͤllt, tritt eine ganz andere Reaction mit einer concentrirteren Silberaufloͤsung ein. Versezt man naͤmlich eine Aufloͤsung von neutralem salpetersaurem Silber, welche 18 Procent von diesem Salze enthaͤlt, mit weniger Chlorkalkaufloͤsung, als zu ihrer gaͤnzlichen Zersezung noͤthig ist, so entsteht sogleich ein schwarzer Niederschlag, der, wie Berzelius bewiesen hat, Silberhyperoxyd ist, worauf sich Sauerstoffgas entbindet und das schwarze Oxyd schnell in Chlorsilber umgeaͤndert wird. Untersucht man nach einiger Zeit die uͤber dem Niederschlage stehende Fluͤssigkeit, so findet man, daß sie vollkommen neutral ist, ein wenig chlorsaures Silberoxyd enthaͤlt, und nicht im Mindesten bleicht. Der Niederschlag ist fast ganz weiß und besteht aus Chlorsilber, mit einer hoͤchst unbedeutenden Quantitaͤt Silberhyperoxyd vermengt, die der mit dem neutralen Chlorkalk aufgeloͤst gewesenen reinen Kalkerde proportional ist. Filtrirt man die auf die oben angegebene Weise gemischte Fluͤssigkeit sogleich nach Entstehung des schwarzen Niederschlags, so laͤuft sie klar durch das Filter, bleicht sehr schnell, truͤbt sich aber bald und sezt immer mehr Chlorsilber ab. Bei uͤberschuͤssigem salpetersaurem Silber von der oben angegebenen Concentration wirkt naͤmlich der Chlorkalk so, daß zuerst Doppeltchlorkalk entsteht und Silberoxyd ausgeschieden wird, welches sich im Augenblik der Faͤllung auf Kosten eines Theiles nicht zersezten Chlorkalks hoͤher oxydirt und daher mit Chlorsilber vermengt als Hyperoyd niederfaͤllt, worauf es Sauerstoffgas aus der Fluͤssigkeit entbindet und sich in Chlorsilber umaͤndert. In diesem Falle, wo sich die von Berzelius beobachtete Reaction einstellt, ist also das Endresultat in Hinsicht der Natur der Producte dasselbe, wie im vorhergehenden, aber in Hinsicht ihres quantitativen Verhaͤltnisses weder dem vorigen gleich, noch constant. 3) Wenn Doppeltchlorkalk mit salpetersaurer Silberaufloͤsung versezt wird, so faͤllt nie Silberhyperoxyd, sondern immer Chlorsilber nieder, und die Fluͤssigkeit enthaͤlt ein chlorsaures Salz. 4) Versezt man eine Silberaufloͤsung, welche 18 Procent neutrales salpetersaures Silber enthaͤlt, mit gesaͤttigter Chlorkalkaufloͤsung in Ueberschuß, so faͤllt zwar auch Silberhyperoxyd mit Chlorsilber nieder, und es entbindet sich Sauerstoffgas; aber der Niederschlag erscheint, wenn die Gasentbindung aufgehoͤrt hat, nicht weiß, sondern roͤthlichgelb, und die daruͤberstehende Fluͤssigkeit goldgelb. Nach einiger Zeit verliert die Fluͤssigkeit diese gelbe Farbe, und nimmt die gewoͤhnliche blaßgruͤne der Chlorkalkaufloͤsung an; versucht man es, den Niederschlag auf einem Filter auszuwaschen, so aͤndert er ebenfalls seine Farbe und wird weiß; es scheint, daß unter obigen Umstaͤnden entweder Chloroxyd oder chlorichte Saͤure in geringer Menge entsteht, aber da sich die Producte unter der Hand veraͤndern, so laͤßt sich nichts Bestimmtes ausmitteln. Wenn eine Aufloͤsung eines neutralen Bleisalzes mit Chlorkalkaufloͤsung versezt wird, so kann man nicht annehmen, daß das Chlor mit dem Bleioxyd, Chlorblei und chlorsaures Bleioxyd erzeugt, so wie unter gewissen Umstaͤnden das Silberoxyd, Chlorsilber und chlorsaures Silberoxyd hervorbringt, weil Berzelius gefunden hat, daß der Niederschlag basisches Chlorblei ist, und ich mich jezt uͤberzeugt habe, daß nicht so viel Chlorsaͤure entsteht, als sich unter obiger Voraussezung bilden muͤßte. Versezt man naͤmlich eine Aufloͤsung von krystallisirtem salpetersaurem Blei mit verhaͤltnißmaͤßig wenig Chlorkalkaufloͤsung, so entsteht ein voluminoͤser weißer Niederschlag, welcher bald darauf gelb und oft sogar braun wird, ehe man ihn durch das Filter von der Fluͤssigkeit trennen kann. Dieser Niederschlag enthaͤlt außer Bleihyperoxydul oder Hyperoxyd basisches und neutrales Chlorblei, welches leztere man ihm durch Auskochen mit Wasser entziehen kann. Die uͤber dem gebildeten Niederschlag stehende Fluͤssigkeit laͤuft klar durch das Filter; sie enthaͤlt Doppeltchlorkalk, welcher allmaͤhlich auf das uͤberschuͤssige Bleisalz wirkt und Chlorblei ausfaͤllt, waͤhrend chlorsaures Bleioxyd aufgeloͤst bleibt. Das gefaͤllte Chlorblei aͤndert sich nach und nach in Bleihyperoxyd um; da hierauf die Fluͤssigkeit freie Saͤure enthaͤlt, so nimmt sie einen starken Chlorgeruch an, indem sich Chlor aus dem Doppellchlorkalk entbindet. Ich hatte gefunden, daß vorsichtig bereiteter Chlorkalk immer etwas salzsauren Kalk, aber keinen chlorsauren Kalk enthaͤlt, obgleich sich waͤhrend der Absorbtion des Chlors durch den Kalk kein Sauerstoffgas entband;Polytechn, Journ. Bd. XXVI, S. 227 ich habe mich jezt uͤberzeugt, daß dieser salzsaure Kalk sich bei dem Abreiben des Chlorkalks mit Wasser bildet, indem sich, wahrscheinlich durch den Einfluß des Lichts, etwas Sauerstoffgas entwikelt. Berzelius hat gezeigt, daß sich zuerst Chlorkalium ausscheidet, wenn man Chlor in eine gehoͤrig concentrirte Kaliaufloͤsung leitet, und daß erst spaͤter das viel schwerer loͤsliche chlorsaure Kali fast rein auskrysiallisirt; dieß beweist gewiß, daß sich zugleich mit dem Chlorkalium eine Verbindung eines Chloroxydes (mit geringerem Sauerstoffgehalt als die Chlorsaͤure) mit Kali gebildet hat, welche spaͤter in Chlorkalium und chlorsaures Kali zerfallt; aber aus dieser Thatsache kann man, wie es mir scheint, nicht schließen, daß dieselben Producte auch entstehen, wenn Chlor von sehr verduͤnntem Kali absorbirt wird. In der That zeigt neutrales Chlorkali, welches man durch Zersezung der Chlorkalkaufloͤsung mittelst verduͤnnten einfachkohlensauren Kalis erhaͤlt, Eigenschaften, die denen des Chlorkalks so analog sind, daß es sehr sonderbar waͤre, wenn in dem einen die Basis mit Chloroxyd und in dem anderen mit Chlor vereinigt seyn sollte. Da Silberhyperoxyd nicht reducirt wird, wenn es Sauerstoffgas aus dem Chlorkalk entbindet, so muß man annehmen, daß Kupferoxyd, Kobalt- und Nikelhyperoxyd den Chlorkalk geradezu disponiren, sich in salzsauren Kalk und Sauerstoff, nicht aber in salzsauren Kalk und oxydirtes Wasser zu zersezen, welches leztere ich fruͤher anzunehmen geneigt war. Eben so muß man annehmen, daß Chlor, wenn es mit Pigmenten in Beruͤhrung kommt, geradezu den Sauerstoff des zersezten Wassers an ihre Elemente abgibt, und sie dadurch entmischt, ohne daß dieser Sauerstoff zuvor mit Wasser zu Wasserstoffhyperoxyd zusammentritt, denn ich habe durch vergleichende Versuche gefunden, daß eine Aufloͤsung von Chlor in Wasser die Pigmente viel schneller zerstoͤrt, als eine entsprechende Menge oxydirtes Wasser von derselben Verduͤnnung.