Titel: Ueber die gefrornen Kartoffeln; von J. Girardin.
Fundstelle: Band 69, Jahrgang 1838, Nr. C., S. 441
Download: XML
C. Ueber die gefrornen Kartoffeln; von J. Girardin. Aus dem Journal de Pharmacie. Jun. 1838, S. 301. Girardin, uͤber die gefrornen Kartoffeln. Die heftige Kaͤlte des verflossenen Winters hat den Verlust einer großen Menge Kartoffeln herbeigefuͤhrt, ein Schade, der vorzuͤglich die kleineren Oekonomien betroffen hat, die nicht mit den erforderlichen Einrichtungen zur Aufbewahrung, Silo's, Kellern u.s.w., wie die groͤßeren versehen sind. Ungeachtet der Belehrungen, welche die Wissenschaft gegeben hat, wirft man die gefrornen Kartoffeln als unbrauchbar weg, und jeder strenge Winter fuͤhrt so den Verlust einer ungeheuren Masse von Nahrungsstoff herbei. Es ist wirklich schmerzlich, zu sehen, mit welcher Langsamkeit nuͤzliche Wahrheiten sich verbreiten. Auf Veranlassung der Akerbaugesellschaft des Departements der unteren Seine habe ich mannichfaltige Versuche uͤber die gefrornen Kartoffeln in der doppelten Absicht angestellt, die Art der Veraͤnderung kennen zu lernen, welche die Kartoffeln durch den Frost erleiden, und zu erfahren, wie man die durch den Frost veraͤnderten Knollen am zwekmaͤßigsten benuzen koͤnne. Die gefrornen Kartoffeln sind hart wie Holz; sobald sich aber die Temperatur uͤber 0° erhebt, erweichen sie sich nach und nach, werden welk und weich, geben beim Druke eine große Menge Wasser von sich, endlich nach Verlauf einiger Tage werden sie an der Oberflaͤche naß, geben einen eigenthuͤmlichen unangenehmen Geruch von sich, und faulen gaͤnzlich. Ich verglich die Kartoffeln, die schon durch begonnenes Thauen erweicht waren, in einem Versuche mit gesunden und nicht gefrornen derselben Art (patraque jaune commune). 1) Nach dem Waschen und Abtroknen, um sie von der anhaͤngenden Erde zu befreien, schnitt ich sie in duͤnne Scheiben und brachte sie in eine auf 25–30° C. geheizte Trokenstube, bis sie troken und bruͤchig geworden waren, und ließ sie dann in Mehl verwandeln. Sie verloren beim Troknen auf diese Weise 72,13 Proc., so daß sie sowohl gefroren als ungefroren bestanden aus: Trokner Substanz   27,87 Wasser   72,13 –––––– 100,00. Das Mehl von den gefrornen Kartoffeln hat alle Eigenschaften desjenigen von ungefrornen. 2) Ich zog aus den einen wie dem anderen das Staͤrkmehl aus, indem ich die Knollen in einem Marmormoͤrser zu feinem Brei zerrieb und diesen Brei auf einem Siebe bis zur voͤlligen Erschoͤpfung des Zellgewebes wusch. Das Staͤrkmehl, gesammelt und gereinigt, wurde bei einer gelinden Temperatur getroknet. Die gefrornen Kartoffeln gaben genau dieselbe Menge Staͤrke wie die ungefrornen. Von den einen wie von den anderen gaben 100 Theile dem Gewichte nach: Staͤrkmehl 16,66 Troknes Parenchym   7,52. Die groͤßte Menge, welche in den Fabriken von gesunden Kartoffeln erhalten wird, uͤberschreitet in der Regel nicht 18 Proc, trokner Staͤrke. Das aus gefrornen Kartoffeln erhaltene Staͤrkmehl hat alle Eigenschaften des aus nicht gefrornen erhaltenen. Ich habe Biscuit und anderes Bakwerk mit Staͤrkmehl von gefrornen wie von ungefrornen Kartoffeln bereiten lassen, und es war schwer, wo nicht unmoͤglich, eine Verschiedenheit zwischen beiden wahrzunehmen; ihr Geschmak ist derselbe. Hr. Abbé Gossier hat in seiner Kuͤche Staͤrkmehl von gefrornen Kartoffeln anwenden lassen. Die davon bereiteten Speisen schienen ihm eben so gut und angenehm, als wenn die Staͤrke aus gesunden und ungefrornen Kartoffeln bereitet gewesen waͤre. 3) Durch genaue und analytische Verfahrungsweisen erhielt ich aus gefrornen und ungefrornen Kartoffeln die naͤmlichen Mengen von Wasser, Staͤrkmehl, Faserstoff, Eiweiß, Zuker und salzigen Substanzen. Diese Versuche gaben bei mehrmaliger Wiederholung immer dasselbe Resultat.Hr. Virey knuͤpft hieran eine interessante historische Bemerkung. Er erwaͤhnt naͤmlich, daß er bereits im 3ten Jahre der Republik (1794) im Militaͤrhospitale in Belford, wo er Eleve der Pharmacie war, Versuche uͤber denselben Gegenstand angestellt habe. Nachdem er durch Waschen aus den verdorbenen Kartoffeln eine bedeutende Menge Staͤrke erhalten hatte, suchte er auch aus dem zaͤhen Ruͤkstande noch mehr davon zu gewinnen, indem er ihn in Gaͤhrung versezte. Er erreichte dadurch wirklich seinen Zwek, und theilte das erhaltene Resultat als neu der Commission der Republik fuͤr Akerbau und Kuͤnste mit. Der Beauftragte dieser Commission, der beruͤhmte Berthollet, uͤbersandte ihm in Folge dieser Mittheilung die Instruction von Parmentier uͤber die Kartoffeln und schrieb ihm dabei unterm 9. Germinal des Jahres III. im Style der damaligen Zeit: „Wir wissen Dir Dank, Buͤrger, fuͤr die guten Absichten, die Dich zu beseelen scheinen, und wuͤnschen Dir Gluͤk zu dem Eifer, welcher Deine Aufmerksamkeit zur rechten Zeit auf Gegenstaͤnde des oͤffentlichen Besten lenkt. Gruß und Bruͤderschaft, (gezeichnet:) Berthollet.“ Da nun die chemische Constitution der Kartoffel durch den Frost keine Veraͤnderung erleidet, so fragt es sich, von welcher Art sonst die Modificationen sind, welche sie dabei erfaͤhrt? Meiner Ansicht nach ist es eine rein mechanische Wirkung; das Wasser, indem es im Innern des Zellgewebes gefriert, zerreißt die Zellen, welche es einschließen, und trennt es von den anderen Materien des Gewebes, und dieß ist der Grund, weßhalb die Knollen, wenn man sie nach dem Aufthauen in der Hand zusammendruͤkt, wie ein Schwamm zusammengehen und ihr Vegetationswasser abgeben. Es ist also in den gefrornen Kartoffeln nur die vegetabilische Organisation zerstoͤrt, die Bestandtheile erleiden beim Gefrieren keine Veraͤnderung ihrer Natur; es veraͤndert sich bloß ihre gegenseitige Anordnung, und dieß reicht hin, um die Verschiedenheiten des Geschmakes zu erklaͤren, welchen Kartoffeln vor und nach dem Gefrieren zeigen. Da die gefrornen Kartoffeln noch eben so viel Nahrungsstoff enthalten als vor dem Gefrieren, so wuͤrde es widersinnig seyn, sie ferner wegzuwerfen und keinen Nuzen von denselben zu ziehen. Selbst wenn ihre Veraͤnderung nach dem Aufthauen schon sehr weit gediehen ist, wenn sie fast zu Brei zergangen sind und einen starken Geruch verbreiten, kann man sie noch benuzen. 1) Wenn die gefrornen Kartoffeln hart wie Holz sind, taucht man sie einige Stunden in kaltes Wasser ein, um einen Anfang von Anschauung zu bewirken, welcher ihre weitere Zerkleinerung befoͤrdert; darauf bringt man sie auf eine Reibmaschine oder in ein Stampfwerk. Wenn sie zu einer feinen und gleichartigen Bruͤhe geworden sind, waͤscht man diesen Brei in kleinen Antheilen auf einem uͤber einen Zuber gestellten Siebe. Das Wasser nimmt das Staͤrkmehl mit sich, der gut ausgewaschene Ruͤkstand wird ausgedruͤkt, auf Huͤrden der Luft ausgesezt und dann in einen Bakofen gebracht, nachdem das Brod herausgenommen worden ist. Ein Mal getroknet laͤßt er sich beliebig lange in Faͤssern aufbewahren und zur Fuͤtterung von Schweinen und Rindvieh benuzen, die es sehr lieben, wenn es gekocht ist. Das am Boden des Zubers abgesezte Staͤrkmehl wird gut gewaschen, zum Abtropfen auf Leinewand gebracht und bei gelinder Waͤrme getroknet. Es kann dann als Nahrungsmittel gebraucht und sowohl in der Kuͤche als zu industriellen Zweken statt der gewoͤhnlichen Kartoffelstaͤrke benuzt werden. 2) Wenn die Kartoffeln mehr oder weniger aufgethaut sind, kann man sie derselben Behandlung unterwerfen. Will man sie aber bloß in Mehl verwandeln, so unterwirft man sie in Saͤken der Presse, um daraus die groͤßte Menge von Vegetationswasser auszuziehen, troknet dann den Ruͤkstand im Bakofen und, wenn er troken und zerreiblich geworden ist, verwandelt man ihn auf der Muͤhle in Mehl. Diese Art von Kartoffelmehl kann sehr gut, in dem Verhaͤltnisse von 1/5 oder 1/4 mit Getreidemehl vermischt, zur Brodbereitung verwendet werden. Das Wasser, welches die Presse aus den Kartoffeln entfernt hat, fuͤhrt etwas Staͤrkmehl mit sich, das man sammeln kann. 3) Hr. v. Lasteyrie hat schon vor sehr langer Zeit (Decade vom Jahre 4, 3. Trimester und Nr. 7 des Moniteur vom Jahre 1813) vorgeschlagen, die gefrornen Kartoffeln 6 bis 10 Tage in Wasser maceriren zu lassen, das Wasser von Zeit zu Zeit zu erneuern, bis die Epidermis sich in Brei zu verwandeln anfaͤngt, sie dann in Saͤken von grober Leinewand auszupressen und den Ruͤkstand zu troknen, der dann ein sehr schoͤnes Mehl gibt. Will man die gefrornen Kartoffeln zur Nahrung von Thieren benuzen, so verfaͤhrt man wie zuerst angegeben ist. Die Kartoffeln werden gerieben oder gestampft, ausgepreßt, aber statt den Ruͤkstand zu troknen, laͤßt man ihn kochen, waͤhrend er noch feucht ist. Diese Substanz, mit ein wenig Salz versezt, wird mit Begierde von den Thieren verzehrt. Man kann auch das Kochen des Ruͤkstandes vermeiden und ihn in einem großen Fasse abwechselnd mit Kleie und etwas Salz schichten. Nach Verlauf von 24 Stunden geht das Gemenge in einen Anfang von geistiger Gaͤhrung uͤber, die den Thieren sehr angenehm ist. Dieß sind die einfachen und wenig kostspieligen Mittel, um die gefrornen Kartoffeln nuͤzlich zu verwenden. Ueberall findet man die dazu noͤthigen Apparate, Bakoͤfen, Reibe- oder Stampfwerke, mit deren Huͤlfe man nach Belieben Staͤrke oder Mehl gewinnen kann. Im ersten Falle erhaͤlt man zum wenigsten 10 bis 12 Proc. trokner Substanz. Zu gleicher Zeit mit mir hat sich auch Payen mit den gefrornen Kartoffeln beschaͤftigt, und ist genau zu denselben Resultaten gelangt wie ich. Er hat nachgewiesen, daß die gefrornen Kartoffeln eben so viel trokne Substanz enthalten als im Normalzustande, daß das Verhaͤltniß der loͤslichen Substanzen nicht minder groß ist, daß das Staͤrkmehl selbst in denselben Mengen darin enthalten, uͤberhaupt daß in diesen Beziehungen nichts in den Kartoffeln nach dem Aufthauen veraͤndert ist. Er hat uͤberdem gefunden, daß die durch das Gefrieren hervorgebrachten physiologischen Modificationen von der allgemeinen Zerstoͤrung des Zellgewebes herruͤhren. Diese Ansicht ist ganz der von mir ausgesprochenen gleich. Nur in einem Punkte sind meine Beobachtungen nicht mit denen von Payen in Uebereinstimmung. Er gibt an, daß die Kartoffeln nach dem Aufthauen kaum ein Viertheil des Staͤrkmehls gaͤben, das man vorher aus ihnen erhielt, und daß dieses Staͤrkmehl von sehr unangenehmem Geschmake sey. Payen erklaͤrt diesen Verlust daraus, daß die durch das Gefrieren von einander getrennten und gegenseitig keinen Druk mehr auf einander ausuͤbenden Zellen rundliche Gestalt annehmen, wenn die Zaͤhne der Reibe sie treffen, und sich einzeln oder zu mehreren vereinigt losreißen, ohne jedoch Widerstand genug zu leisten, um zerrissen zu werden. Hieraus folgt, daß die groͤßte Menge dieser Zellen, noch mit Staͤrkmehl gefuͤllt, nicht durch feine Siebe gehen, und indem sie in dem Breie bleiben, die Ausbeute vermindern. Ich kann aber im Gegentheil kein der Qualitaͤt nach geringeres Product an Staͤrkmehl aus gefrornen Kartoffeln zugeben, denn ich habe die naͤmliche Menge aus gefrornen wie aus ungefrornen erhalten. Ich habe die Knollen in einem Moͤrser zerstoßen und nicht zerrieben, denn wenn sie ein Mal erweicht und welk geworden sind, so ist es fast unmoͤglich, sie mittelst der Reibe gehoͤrig zu zerreißen. Diesem unvollkommenen Mittel der Zerkleinerung muß man den Verlust zuschreiben, welchen Payen erhielt. Es wird deßhalb besser seyn, die Kartoffeln zu stampfen als zu reiben, wenn man die Staͤrke daraus gewinnen will. Die Staͤrke, welche ich aus aufgethauten Kartoffeln erhielt, hatte keinen unangenehmen Geschmak, wenn sie gehoͤrig gewaschen war. Aus allem diesem darf man folgende Schluͤsse ziehen: 1) Daß der Frost keine chemische Veraͤnderung in den Kartoffeln bewirkt, daß er vielmehr bloß die vegetabilische Organisation zerstoͤrt. 2) Daß, da die gefrornen Kartoffeln die gleiche Menge Nahrungsstoff wie die ungefrornen enthalten, sie sich benuzen lassen theils zur Gewinnung von Staͤrke, theils zur Verwandlung in Mehl. 3) Daß diese einfachen Operationen uͤberall und fast ohne Kosten angewandt werden koͤnnen, so daß man wuͤnschen muß, daß kuͤnftig nirgends mehr eine Substanz weggeworfen werden moͤge, die so nuͤzlicher Verwendung als Nahrung fuͤr Menschen und Thiere faͤhig ist. Zusaz. Nach Beendigung und Mittheilung vorstehender Versuche theilte mir Hr. Pouchet, Professor der Naturgeschichte an der Municipalschule (Rouen), seine Beobachtungen uͤber den naͤmlichen Gegenstand mit. Diese interessanten Beobachtungen bestaͤtigen vollstaͤndig meine Ansichten. Wir sind auf verschiedenem Wege zu demselben Resultate gekommen. Pouchet hat sich durch mikroskopische Untersuchungen uͤberzeugt, daß die gefrornen Kartoffeln noch ihren ganzen Staͤrkmehlgehalt im vollkommensten Zustande enthalten. Wie groß auch der Grad ihrer Veraͤnderung seyn moͤge, so ist doch kein Staͤrkekoͤrnchen verschwunden, selbst die feinsten derselben, ungeachtet ihrer zarten Organisation, lassen sich noch vollkommen entdeken. Wenn die Zersezung nicht allzuweit vorgeschritten ist, so schwimmen sie sogar frei in der Masse und loͤsen sich leichter von den zerrissenen Zellen los als in gesunden Kartoffeln zu geschehen pflegt. Versuche haben ihm bewiesen, daß die Veraͤnderungen, welche der Frost bewirkt, keineswegs, wie Hr. Payen glaubt, in einer Veraͤnderung des Zellgewebes besteht, wodurch dasselbe ausgedehnt, die Zellen und ihr Inhalt getrennt und in sphaͤrische voluminoͤse Kuͤgelchen verwandelt werden, die nicht mehr durch das Sieb bei der Staͤrkefabrication gehen. Pouchet hat deutlich wahrgenommen, daß das Gefrieren verschiedene Zustaͤnde herbeifuͤhrt, und daß seine Wirkung darin besteht, das Zellgewebe unmittelbar zu zerreißen, ohne Zweifel, indem es das Vegetationswasser beim Festwerden ausdehnt. Im ersten Zustande, oder dem des schwaͤchsten Gefrierens, sind die Zellen bloß zerrissen, und man unterscheidet noch leicht die Lappen ihrer haͤutigen Waͤnde; das Staͤrkmehl ist sehr frei. Im zweiten Zustande hat das Zellgewebe eine tiefere Zerstoͤrung erlitten; es zeigt sich nur noch in Gestalt von Faͤden als Ueberbleibsel der Kanten, welche es bildete. Es scheint, daß seine Ueberreste in klebrige Substanz verwandelt sind, deren Gegenwart das Staͤrkmehl einhuͤllt, das weniger frei ist als im vorhergehenden Falle. Endlich im dritten Grade ist die Kartoffel ganz welk und lederartig, oder in eine Art schwaͤrzlichen Breies verwandelt. Man sieht dann keine Spuren von Zellen mehr und der Rest von der Desorganisation derselben, der noch klebriger geworden ist, besizt hie und da eine schwaͤrzliche Farbe. Dieser Ruͤkstand umhuͤllt eine Menge Staͤrkekoͤrner und diese lassen sich durch Pressen nur sehr schwer trennen, aber keins derselben ist zersezt. In diesem Zustande sieht man in der Substanz der Kartoffeln zahlreiche Blaͤschen (globules) von Kohlensaͤure, und diese haben, nach der Meinung von Pouchet, Hrn. Payen getaͤuscht. Sie enthalten kein Staͤrkmehl, dieses liegt außerhalb derselben, und diese Blaͤschen oder Kuͤgelchen von luftfoͤrmiger Fluͤssigkeit sind von so verschiedenem Durchmesser, daß es unmoͤglich ist, sie mit erweiterten vegetabilischen Zellen zu verwechseln.