Titel: Ueber die procentische Zusammensetzung der Schießbaumwolle; von Dr. Max Pettenkofer, Assistent beim königl. Hauptmünzamt in München.
Autor: Dr. Max Josef Pettenkofer [GND]
Fundstelle: Band 102, Jahrgang 1846, Nr. XC., S. 446
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XC. Ueber die procentische Zusammensetzung der Schießbaumwolle; von Dr. Max Pettenkofer, Assistent beim königl. Hauptmünzamt in München. Pettenkofer, über die procentische Zusammensetzung der Schießbaumwolle. Um zu erfahren, wie das Massenverhältniß der einzelnen Elemente der Schießbaumwolle unter einander stehe, und ob sie sich wie das Schießpulver zu den letzten Producten der Verbrennung bei der Explosion zerlegen könne, unterwarf ich dieselbe der Elementaranalyse. Die Wolle war mit einem Gemisch aus Salpetersäure und Schwefelsäure nach bekannter Methode bereitet worden. Sie war vollkommen ausgewaschen und hatte getrocknet eine ganz weiße Farbe; sie explodirte sehr schnell und ohne Rückstand. Hr. Münzwardein Haindl hatte damit mehrere Schießproben gemacht, die ein ausgezeichnetes Resultat, was Triebkraft und Gleichförmigkeit derselben anlangt, ergeben haben. Die erste und mühsamste Aufgabe war, die Schießfaser in einen Zustand zu bringen, daß sie sich mit dem Verbrennungsmaterial, welches bei derartigen Analysen üblich ist, gehörig mengen ließ. Folgenden Weg habe ich befolgt: die Wolle wurde mit einer Schere so fein als möglich zerschnitten, und in kleinen Portionen in einer geräumigen Porzellanreibschale mit einem dazu gehörigen Porzellanpistille mit der 8–12fachen Gewichtsmenge Quarzpulver, welches sich noch wohl sandig anfühlte, abgerieben. – Das Quarzpulver war zuvor mit Salzsäure digerirt, gewaschen und dann geglüht worden. Bei diesem Abreiben wurde, obwohl äußerst langsam und schwierig, die Faser durch das noch rauhe Quarzpulver vollständig zu Pulver zerrissen. (Es wäre vielleicht vortheilhafter gewesen, mit reinem Kalkspath die Wolle zu zerreiben und das Kalkspathpulver durch verdünnte Salpetersäure nachher zu entfernen.) Als ich eine hinlängliche Menge von diesem Schießbaumwolle haltenden Quarzpulver bereitet hatte, wurden die einzelnen Portionen zusammengeschüttet, durch ein feines Drahtsieb gesiebt, und zuletzt in einer großen Reibschale mehrere Stunden lang gerieben, um ein höchst gleichförmiges Gemenge zu erhalten. Hierauf wurde im Wasserbade getrocknet, bis keine Gewichtsabnahme mehr bemerklich war. Um die Menge der in dem Quarzpulver enthaltenen Schießbaumwolle zu ermitteln, wurden in einem geräumigen Platintiegel 2,555 Gramme abgewogen und erhitzt. Hiebei entwickelte sich ein sehr saures, schwach röthlichgelb gefärbtes Gas, von salpetrigem Geruch, die Augen heftig zu Thränen reizend, und das Quarzpulver bräunte sich etwas, wurde aber bei stärkerer Hitze sehr schnell wiederum weiß. Nach dem Erkalten wog das Quarzpulver 2,328 Gramme, hatte mithin 0,227 Gramme verloren, welcher Verlust die Menge der enthaltenen Schießwolle repräsentirt. Bei Wiederholung des Versuchs ergaben 2,468 Gramme Pulver 0,2185 Schießbaumwolle. Berechnet man nun das folgende zur Kohlen- und Wasserstoffbestimmung verwendete Quantum des Quarzpulvers auf seinen Gehalt an Wolle nach dem einen oder andern der beiden Glühversuche, so gibt das Mittel einen möglichen Fehler von 1 Milligramm zu erkennen, welcher nicht merklich auf die procentische Zusammensetzung influenciren kann. 5,847 Gramme = 0,5194 Schießfaser lieferten mit Kupferoxyd verbrannt 0,493 Kohlensäure = 0,1363 Kohlenstoff. 5,847 Gramme lieferten 0,129 Wasser = 0,0143 Wasserstoff. 2,3455 Gramme = 0,208 lieferten nach der Methode von Will und Varrentrapp verbrannt 0,067 Platin = 0,0094 Stickstoff. Hieraus berechnet sich folgende procentische Zusammensetzung: Kohlenstoff   26,26 Wasserstoff     2,75 Stickstoff     4,52 Sauerstoff   66,47 –––––– 100 Obwohl die Schießbaumwolle sehr sauerstoffreich ist, so daß sich die Kohlenstoff- zur Sauerstoffmenge wie 1 : 2,5 verhält, so hat mich dieses Resultat doch in hohem Grade überrascht, da es allen bisher kund gewordenen und plausiblen Meinungen über die Zusammensetzung und Zersetzung der Schießbaumwolle geradezu entgegen steht. Die Schießbaumwolle enthält nach meiner Analyse, die für keinen Fall weit gefehlt seyn kann, obgleich die Methode des Pulverisirens keine absolute Genauigkeit zuläßt – nicht einmal so viel Sauerstoff, um den enthaltenen Kohlenstoff zu Kohlensäure zu verbrennen; denn 26 Theile Kohlenstoff erfordern 99 Theile Sauerstoff zur Verbrennung zu Kohlensäure. Die Schießbaumwolle enthält aber auch noch Wasserstoff. Es waren mir gleich nach Beendigung der Kohlenstoff- und Wasserstoffbestimmung in dem Verbrennungsrohr zwei Dinge sehr auffallend: 1) war eine große Menge Kupferoxyd zu Kupfer reducirt worden, was beweist, daß der Sauerstoff der Substanz zur Verbrennung des Kohlen- und Wasserstoffes bei weitem nicht hingereicht hatte; 2) waren die vorgelegten Kupferdrehspäne fast gar nicht oxydirt, was beweist, daß die Substanz bei ihrer Verbrennung kein Stickoxydgas geliefert hat, was bei stickstoffhaltigen und zugleich sehr sauerstoffreichen Körpern in der Regel geschieht. Wird die von allen fremden Stoffen und von jeder Incrustation gereinigte Pflanzenfaser als isomer mit dem Stärkmehl betrachtet, wie es aus den Arbeiten von Payen sicher hervorgeht, so berechnet sich nach der Formel C₁₂H₁₀O₁₀ für die reine Baumwollenfaser auf 100 Theile: Kohlenstoff 44,5 Wasserstoff   6,1 Sauerstoff 49,4 In der natürlichen Baumwolle verhält sich der Wasserstoff zum Kohlenstoff = 1 : 7,3; in der Schießbaumwolle 1 : 9,5. Nach der überall verbreiteten Vorstellung, daß fast aller Wasserstoff bei der Umwandlung in Schießfaser eliminirt würde, hatte ich eine viel größere Differenz erwartet. Ich habe aus meiner Analyse eine Formel für die Schießbaumwolle berechnet, was freilich sehr kühn ist, da ich die Elemente bloß einmal bestimmt habe; ich theile sie hier übrigens vorläufig doch mit, weil sie 1) mit der gefundenen procentischen Zusammensetzung, und 2) mit der Gewichtszunahme, welche die Baumwolle bei ihrer Umwandlung in Schießbaumwolle erfährt, wohl stimmt, mithin doppelt controlirt werden konnte. Es ist sichtlich, daß der Kohlenstoffgehalt der Pflanzenfaser bei der Behandlung mit concentrirter Salpetersäure nicht geändert wird – die 12 Aequivalente Kohlenstoff bleiben, und nach ihnen richten sich die drei übrigen Elemente. Hiemit berechnen sich aus der gefundenen procentischen Zusammensetzung 12 Aequivalente Kohlenstoff =   904,8   7       „ Wasserstoff =     87,5   1       „ Stickstoff =   177,0 23       „ Sauerstoff = 2300,0 ––––––––   1 Aequivalent Schießbaumwolle = 3469,3 Hieraus wiederum auf 100 Theile berechnet, und mit der gefundenen procentischen Zusammensetzung verglichen:      berechnet     gefunden Kohlenstoff 26,08       26,26 Wasserstoff   2,52         2,75 Stickstoff   5,10         4,52 Sauerstoff 66,30       66,47 Vergleichen wir die Formel der Pflanzenfaser C₁₂H₁₀O₁₀ mit dieser der Schießbaumwolle C₁₂H₇N₁O₂₃, so finden wir, daß drei Aequivalente Wasserstoff aus der Baumwolle herausgenommen worden, und 1 Aequivalent Stickstoff und 13 Aequivalente Sauerstoff dafür hinzugekommen sind. Dieser Bildungsproceß ist also nicht analog mit dem des Xyloidin. Die einfache Substitution eines Aequivalent Salpetersäure oder Untersalpetersäure für jedes ausgetretene Aequivalent Wasserstoff kann hier nicht angenommen werden. Es muß nebst dieser Substitution noch eine wirkliche Oxydation, ein Eintreten von freiem Sauerstoffe angenommen werden. Dafür spricht auch daß, wenn die Baumwolle in der Säure getaucht, und nach dem Auspressen in Wasser geworfen wird, sich eine so große Menge Stickoxydgas entwickelt, welches nur von der Desoxydation der Salpetersäure herrühren kann. Jedem der sich mit der Bereitung der Schießbaumwolle beschäftigt hat, wird diese Gasentwicklung aufgefallen seyn, aus deren Intensität man bei einiger Uebung leicht erkennen kann, ob man eine gute Schießbaumwolle erzeugt hat, oder nicht. Bei Bereitung des Xyloidin kann man diese Erscheinung nicht wahrnehmen. Nach der von mir angegebenen Formel hätte die Schießbaumwolle ein Aequivalent von 3469,3. Das Aequivalent der reinen Pflanzenfaser (mithin auch der reinen Baumwolle) ist nach der Formel C₁₂H₁₀O₁₀ = 2029,9. Wenn nun die Formel der Schießbaumwolle richtig seyn soll, so müssen diese beiden Aequivalente im nämlichen Verhältnisse stehen, wie das Gewicht der unpräparirten Baumwolle zum Gewicht der daraus erhaltenen Schießbaumwolle. Versuche von Mehreren haben nachgewiesen, daß 100 Gewichtstheile gewöhnlicher Baumwolle 167 bis 170 Gewichtstheile Schießbaumwolle liefern. Ich habe im Mittel mehrerer Versuche (bei denen auf das Trocknen vor dem Wägen sehr genau Rücksicht genommen wurde) auf 100 Theile rein aussehende käufliche cardirte Wolle 167 Schießbaumwolle erhalten. – Diese käufliche Baumwolle hat mir nach zwei Versuchen bei der successiven Reinigung im Wasser, sehr verdünnter Aetzlauge, verdünnter Salzsäure, Alkohol und Aether 2 Proc. Abgang ergeben; mithin kann man in 100 Theilen der käuflichen Wolle 98 reine Pflanzenfaser annehmen. Diese 2 Proc. fremde Substanzen werden auch bei der Behandlung mit den concentrirten Säuren hinweggenommen, was man daran erkennen kann, daß schon nach dem ersten Eintauchen von Baumwolle die Säure ihre Farbe und Durchsichtigkeit ändert. 98 Theile reine Baumwollenfaser ergaben 167 Schießbaumwolle. 98 : 167 = 1 : 1,704. Das Aequivalent der Pflanzenfaser 2029,9 verhält sich zum Aequivalent der Schießbaumwolle 3469,3 = 1 : 1,709. Wenn meine Elementaranalyse nicht mit immensen und unerklärlichen Verstößen behaftet war, so mußte die Schießbaumwolle nach ihrer Detonation unter ihren Producten auch ein noch brennbares, noch weiter oxydirbares kohlen – und wasserstoffhaltendes Gas enthalten. Das scheint nun freilich den Meisten sehr unwahrscheinlich auf den ersten Anblick, weil man unter den Producten der explodirten Schießbaumwolle Stickoxyd, oder salpetrige Säure, oder selbst gar Salpetersäure bisher vermuthet hat – Körper, die sämmtlich sehr gerne Sauerstoff an alles was noch brennbar ist, abgeben, und mithin bei einer Zersetzung, welche mit Feuererscheinung begleitet ist, nur da bestehen können, wo bereits alles so hoch als möglich oxydirt, oder sogar ein Ueberschuß von Sauerstoff vorhanden ist. Ich nahm eine an einem Ende zugeschmolzene Glasröhre, von 2 Linien innerem Durchmesser und etwas mehr als 12 Zoll Länge. Diese wurde mit einer 3 Zoll langen Schicht des Pulvers aus Quarz und Schießbaumwolle angefüllt; darauf wurde sie etwa 3 Zoll lang mit sehr lockern, zuvor geglühten Asbestpfröpfchen angefüllt; darnach kam eine 2 Zoll lange Schicht Kupferoxyd und zum Schluß wiederum ein Asbesttröpfchen. Der Theil, welcher das Kupferoxyd enthielt, wurde über einer Fuchs'schen Weingeistlampe rothglühend gemacht. Als das Kupferoxyd die nöthige Temperatur angenommen hatte, wurde nach und nach mit einer zweiten Lampe die Schicht, welche Schießbaumwolle enthielt, von hinten nach vorn erhitzt. Die sich entwickelnden Gase und Dämpfe mußten über das glühende Kupferoxyd streichen. Der Quarz bräunte sich hiebei: die Asbestschicht blieb ungefärbt. Die Kupferoxydschicht war nach dem Versuche auf mehr als 1/3 ihrer Länge zu regulinischem Kupfer reducirt worden. Nach der Kupferoxydschicht am kälteren Theil der Röhre setzten sich während des Versuches viele Wassertropfen an, zum Beweise einer durch das Kupferoxyd bewerkstelligten Verbrennung von Wasserstoff. Dieser Versuch wurde mit ganz gleichem Resultate wiederholt, und zwar mit einer Baumwolle, die mit concentrirter Salpetersäure allein bereitet worden war. Zur Bereitung wurde die ganz zu Anfang von selbst ohne Feuerung übergegangene Säure benützt. Von einem Gemenge aus 10 Pfunden Kalisalpeter und 6 Pfunden rauchender Schwefelsäure gingen 4 Unzen der stärksten Salpetersäure, ohne daß Feuer unter die Retorte kam, von selbst über. Hiemit stellte Hr. Artillerie-Hauptmann Zeller die explosivste Baumwolle her, die ich je gesehen habe. Schießversuche damit übertrafen alle mit andern Wollsorten angestellten weit an Tragkraft und Schnelligkeit. Und doch nicht Sauerstoff genug! Die Gegenwart eines noch brennbaren Products unter den bei der Explosion der Schießbaumwolle auftretenden Gasen scheint mir hiemit völlig erwiesen. Die niedere Temperatur, bei welcher die Explosion erfolgt (nach meinen Versuchen zwischen 185–200° C. je nach Güte der Wolle) und die geringe Hitze, welche sich dabei entwickelt, gestattet hinlänglich das Bestehen solcher Producte. Das Xyloidin von Braconnot hat gleichfalls explosive Eigenschaften, und doch enthält es viel zu wenig Sauerstoff in seiner Mischung, um den vorhandenen Kohlenstoff und Wasserstoff zu verbrennen. Zusammensetzung des Xyloidin in 100 Theilen: Kohlenstoff 36,76 Wasserstoff   4,79 Stickstoff   5,65 Sauerstoff 52,80 Dieser Kohlenstoffgehalt erfordert zu seiner Verbrennung zu Kohlensäure über 98 Theile Sauerstoff, der Wasserstoffgehalt über 38 Theile – zusammen 136 Theile Sauerstoff – und die schon ziemlich explosive Materie enthält bloß 52,8 davon. Dieses brennbare Product nun, welches bei der Explosion der Schießbaumwolle auftritt, ist die Säure, welche bisher für salpetrige etc. Säure erklärt worden ist: denn nachdem die Dämpfe über glühendes Kupferoxyd gestrichen waren, konnte nicht mehr dieser salpetrige Geruch wahrgenommen werden. Diese Säure, deren Entdeckung ich mir hiemit vindicire, bildet mit Silberoxyd ein weißes krystallinisches, in Essigsäure unlösliches Salz. Eine ähnliche, vielleicht die nämliche Säure, bildet sich beim Auflösen der Schießbaumwolle in Aetzkalilauge neben sehr viel Kohlensäure. Vielleicht liefert die Zersetzung der Schießbaumwolle auf nassem Wege die nämlichen Producte, welche die Explosion liefert – Vermuthungen, die ich in Bälde bestätigen oder widerlegen werde. Das Ideal der Schießbaumwolle, oder des Schießmaterials überhaupt, wird dann erst erreicht seyn, wenn man eine Verbindung entdeckt haben wird, welche sich bei der Explosion vollständig in die letzten Producte der Verbrennung und ohne allen Rückstand zersetzt. Es steht dahin, ob dieses Ziel sobald erreicht werden wird.