Titel: Ueber die Coca (Coca-Blätter); von Dr. J. v. Tschudi.
Fundstelle: Band 105, Jahrgang 1847, Nr. XXXIX., S. 139
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XXXIX. Ueber die Coca (Coca-Blätter); von Dr. J. v. Tschudi. Auszug aus dem Edinburgh new philosophical Journal, April 1847. Tschudi, über die Coca. Die Coca (Erythroxylon Coca Lam.) ist ein sechs Fuß hoher Strauch mit glänzenden grünen Blättern und weißen Blüthen; letztern folgen kleine scharlachrothe Beeren. Er wird aus Samen in Gartenbeeten gezogen. Wenn die jungen Schößlinge 1 1/2 oder 2 Fuß hoch sind, werden sie in regelmäßig angelegte Felder (cocales) versetzt, wo sie ungefähr drei Spannen weit auseinander eingesetzt werden. Die Coca erfordert Feuchtigkeit; deßhalb wird im ersten oder die ersten zwei Jahre, nachdem sie auf die Felder gepflanzt wurde, Mais (Türkischkorn) zwischen die jungen Schößlinge gesäet, um sie vor zu heftiger Einwirkung der Sonne zu schützen. Wenn die Blätter reif sind, d.h. wenn sie beim Biegen krachen oder abbrechen, beginnt das Einsammeln derselben. Die Blätter werden von den Zweigen abgestreift, welches Geschäft gewöhnlich von Weibern verrichtet wird und viele Aufmerksamkeit erfordert, damit die zarten Blätter und jungen Zweige nicht beschädigt werden. In einigen Gegenden sind die Indianer so vorsichtig beim Einsammeln der Coca, daß sie, statt die Blätter abzustreifen, sie von dem Zweig durch Einschnitte mit ihren Nägeln abschneiden; die auf diese Weise entblätterte Pflanze ist bald wieder mit grünem Laube überwachsen. Die eingesammelten Blätter werden auf groben wollenen Tüchern ausgebreitet und an der Sonne getrocknet; getrocknet sind sie blaßgrün. Auch das Trocknen erfordert große Sorgfalt; denn wenn die Blätter Feuchtigkeit anziehen, so werden sie dunkel, wo dann ihr Werth bei weitem nicht so groß ist, als wenn sie grün sind. Die trockne Coca wird zuletzt in wollene Säcke verpackt und mit Sand bedeckt. Diese Säcke sind in den verschiedenen Theilen der Gebirge (Montanas) von verschiedener Größe und Farbe. In Huanuco sind sie grau oder schwarz und wiegen gefüllt 75 bis 80 Pfd.: in Vitoc grau und weiß und enthalten 150 Pfd.; in Huanto und Anco sind sie klein, schwarz oder braun von Farbe und enthalten nur eine Aroba (circa 25 Pfd.). In den Montanas von Urubamba, Calca und Paucartambo werden die Cocablätter in kleine Körbe (cestos) gepackt und mit Sand bedeckt. Auch beim Transport der Coca ist große Sorgfalt erforderlich, denn wenn Feuchtigkeit in die Säcke eindringen kann, so erhitzen sich die Blätter und werden dadurch unbrauchbar. Die Indianer kauen die Coca; jeder führt einen ledernen Beutel und eine kleine Kürbisflasche bei sich; ersterer enthält einen Vorrath von Cocablättern, letztere ist mit gepulvertem gebranntem Kalk angefüllt. Gewöhnlich viermal, niemals unter dreimal im Tage, unterbricht der Indianer seine Arbeit, um Coca zu kauen. Dieß geschieht auf folgende Weise: einige Blätter, deren Stiele sorgfältig abgebrochen wurden, werden gekaut, bis sie eine kleine Kugel bilden; nun wird ein dünnes Spänchen feuchten Holzes in die Flasche gestoßen, an welchem, wenn es herausgezogen wird, etwas gestoßener Kalk hängen bleibt; die Cocakugel wird nun noch im Munde liegend mit dem Hölzchen gestochen, bis der sich damit vermengende Kalk ihr einen besondern Geschmack verleiht und der so erregte reichlich fließende Speichel wird zum Theil ausgeworfen, zum Theil verschluckt; wenn die Kugel keinen Saft mehr von sich gibt, wird sie weggeworfen und auf dieselbe Weise eine neue gebildet. In Cerro de Pasco und noch weiter südlich bedienen sich die Indianer statt des ungelöschten Kalks eines Präparats aus der beißenden Asche der Quinua (Chenopodium Quinua L.); um sich dieses Präparats (Llucta oder Llipta) zu bedienen, wird ein Stück davon abgebrochen und zugleich mit der Kugel (acullico) gekaut. In einigen Gegenden der Montana wird die Llucta aus der Asche der Wurzel der Musa (des Pisangs) bereitet. Die Anwendung des ungelöschten Kalks erfordert einige Vorsicht, denn wenn derselbe in unmittelbare Berührung mit den Lippen und dem Zahnfleisch kömmt, so erregt er ein sehr schmerzhaftes Brennen. Der Geschmack der Coca ist nicht unangenehm; er ist etwas bitter, aromatisch und der geringsten Sorte des grünen Thees ähnlich; mit der Asche der Pisangwurzel vermengt, ist er etwas beißend und europäischen Gaumen angenehmer, als ohne diese. Der Geruch der frisch getrockneten Blätter in Masse greift etwas an; wenn sie aber in Säcke verpackt wird, verliert er sich ganz. Alle Personen welche Coca kauen, haben einen sehr übelriechenden Athem; ihre Lippen und ihr Zahnfleisch sind blaß, ihre Zähne grünlich und stumpf und eine häßliche schwarze Spur davon in den Mundwinkeln. Einen eingefleischten Cocakauer erkennt man auf den ersten Blick; sein unstäter Gang, seine gelbgefärbte Haut; seine trüben eingesunkenen, mit einem purpurrothen Ring umgebenen Augen, seine zitternden Lippen und seine allgemeine Apathie, alles dieß zeigt die verderblichen Wirkungen des in Uebermaaß genommenen Cocasaftes. Alle Gebirgsbewohner Indiens sind dem Cocakauen mehr oder weniger ergeben; jeder braucht täglich im Durchschnitt 1 bis 1 1/2 Unzen Cocablätter und an Festtagen zweimal so viel. Die Bergwerks- und Plantagenbesitzer erlauben ihren Arbeitern dreimal täglich das Cocakauen (chacchar), wozu sie in der Regel über 1/4 Stunde bedürfen; hierauf wird eine Papiercigarre geraucht, welches dieser Siesta die Krone aufsetzt. Wer das Cocakauen einmal eine Zeitlang getrieben hat, kann sich desselben kaum mehr entwöhnen; von Personen aus höhern Ständen wird es aber als gemein betrachtet und wenn sie es auch thun, so geschieht es heimlich. Doch gibt es auch Europäer, welche es sich angewöhnen; in Cerro de Pasco existiren Gesellschaften von Engländern, die sich dazu versammeln; diese nehmen statt des Kalks oder der Asche Zucker. Die Wirkung der Coca gleicht derjenigen der narkotischen Mittel in kleiner Dosis; mehr jedoch der des Stechapfels als des Opiums. Eine Wirkung hat sie, welcher bisher noch nicht erwähnt wurde – daß nämlich nach dem Kauen einer großen Menge Coca das Auge das Licht nicht gut Extragen kann und die Pupille merklich ausgedehnt wird. Von dem Opium unterscheidet sie sich dadurch, daß sie, auch im größten Uebermaaß genommen, die Geisteskräfte niemals ganz lähmt oder Schlaf bewirkt; doch hat sie dessen übrige aufregende Eigenschaften. Es ist eine wohlbekannte Thatsache, daß die regelmäßig Cocakauenden Indianer nur wenig Nahrung bedürfen und dennoch ihre anstrengende Arbeit mit Leichtigkeit verrichten. Sie schreiben daher der Coca die ausgezeichnetsten Eigenschaften zu und glauben sogar, daß sie die Nahrungsmittel ganz vertreten könne. Ohne von solchen Uebertreibungen Notiz zu nehmen, bin ich fest überzeugt, daß der mäßige Gebrauch der Coca nicht nur nicht schädlich ist, sondern der Gesundheit recht zuträglich werden kann. Dieß beweisen die vielen Beispiele von langem Leben unter den Indianern, die das Kauen derselben seit ihrer frühesten Jugend treiben. Die beinahe ausschließlich vegetabilische Nahrung, gerösteter Mais und Gerste, würde ohne dieses entgegenwirkende Mittel sehr oft Verstopfung und andere Uebel zur Folge haben. Außer dieser temporär stimulirenden Wirkung aber ist es außer allem Zweifel, daß sie im höchsten Grad nahrhaft ist. Dafür geben die peruanische Infanterie und die indianischen Grubenarbeiter Beweise ab, welche bei sehr spärlicher Kost, aber dem regelmäßigen Genuß der Coca, sich bei ihrer sehr schweren Arbeit sehr wohl befinden. Ferner sind die Cocablätter, jedoch nicht gekaut, sondern zum Getränk abgesotten, ein sehr gutes Präservativmittel gegen das schwere Athmen beim Bergsteigen, wozu es an den Kordilleren und dem Puna sehr gute Dienste thut, wovon sich der Verf. selbst zu überzeugen Gelegenheit hatte. Bei den peruanischen Indianern wird die Cocapflanze als heiliger Gegenstand verehrt. Nach der Eroberung Peru's durch die Spanier, welche alle Gebräuche der Eingebornen mit Verachtung behandelten, wurde die Coca ein Gegenstand des Widerwillens für die Weißen; Beamten und Geistliche schrieben ihr einen dämonischen Einfluß zu und suchten ihren Gebrauch auszurotten. Erst die peruanischen Grubenbesitzer erkannten wieder den Werth der Chaccar um den Indianern bei ihrer schweren Arbeit Kraft zu verleihen, und sie wurden in Verbindung mit den Plantagenbesitzern die eifrigsten Vertheidiger der Coca. Mehrere Schriftsteller machten schon darauf aufmerksam wie wünschenswerth es wäre daß der Arme in Europa dieses Mittel gegen Hunger und Durst benutzen könnte; auch wurde schon vorgeschlagen, Versuche zu machen, die Coca auf den europäischen Kriegsflotten einzuführen. In frühern Zeiten war die Cocacultur in dem Vitocgebirge sehr bedeutend. Auf dem Markt von Turma wurden jährlich über 4000 Arobas (1 Aroba = 25 Pfd.) gebracht; gegenwärtig werden nur 50 Aroba's dahin gesandt.