Titel: Ueber die Ursachen des Ganges der nassen Gasuhr.
Autor: Ludwig Seidel
Fundstelle: Band 164, Jahrgang 1862, Nr. XLVI., S. 173
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XLVI. Ueber die Ursachen des Ganges der nassen Gasuhr. (Bemerkungen zu den Aufsätzen von Pettenkofer und Walther über diesen Gegenstand.) Seidel, über die Ursachen des Ganges der nassen Gasuhr. Der Aufsatz Pettenkofer's „über die Bewegung der Meßtrommel einer nassen Gasuhr“ im 2ten Februarheft dieses Journals (Bd. CLXXIII S. 274) hat Hrn. Professor C. Walther veranlaßt, unter dem Titel „Einige Worte zur Beleuchtung etc.“ einige polemische Bemerkungen dagegen im 2ten Märzheft (Bd. CLXIII S. 424) zu veröffentlichen. Diese Bemerkungen scheinen nicht frei von Mißverständnissen und Irrungen: es möge daher gestattet seyn, den Gegenstand mit Beziehung auf dieselben nochmals zu erörtern. Was man an den gewöhnlichen Darstellungen des Ganges der Gasuhr mit vollem Rechte tadeln kann, ist ihre Unvollständigkeit. Man spricht nach denselben ganz einfach von dem Drucke, den das in die Eine Kammer eintretende Gas ausübt auf die Scheidewand, welche diese Kammer von der bei der Drehung ihr vorausgehenden trennt, – als ob das Vorhandenseyn dieses Druckes hinreichend wäre die Bewegung zu erklären: – man thut dabei, als ob es keine Naturgesetze gäbe, nach welchen derselbe Druck auf die entgegengesetzte, vom Wasser überspülte Scheidewand, in gleicher Stärke, aber wirksam in einem der Drehung entgegengesetzten Sinne, übertragen werden muß, – wornach sich doch die zwei entgegengesetzten, aus dem Druck des Gases auf die beiden Innenwände resultirenden Kräfte vollständig aufheben. Eine Bewegung der Maschine wird erst möglich nach dem Hinzutreten noch einer dritten auf die festen Theile wirksamen Kraft, – von der man, wenn ihre Entstehung erörtert ist, nach Belieben sich denken mag, daß sie selbst die Bewegung erzeugt, oder, daß sie die Eine der zwei entgegengesetzten Druckkräfte ganz oder zum Theile compensirt, und damit die andere von beiden, um es so auszudrücken, frei macht. Wenn man freilich, mit Hrn. Prof. Walther, die Leser nur unterscheidet in solche, die von selbst die Einrichtung der Maschine „wirklich verstehen“, und in solche, denen zu keinem Verständniß zu helfen ist, so braucht man über das Auftreten jener dritten Kraft kein Wort zu verlieren: die Leser der ersten Art wissen darüber viel besseren Bescheid, als ihnen irgend Jemand zu geben im Stande ist. Dennoch würde man gewiß auch in ihren Augen gewinnen, wenn man statt einer unvollständigen Erklärung entweder gar keine, oder eine durchgeführte geben wollte. Nimmt man vollends an, daß es noch eine dritte Classe von Lesern gibt, die, ohne im Voraus gleich Alles zu verstehen, doch einer Aufklärung zugänglich sind, und denkt man etwa, wie Viele thun, daß Bücher und Journalaufsätze gerade für diese Classe von Lesern überhaupt geschrieben werden, – so muß man für sie, um den Gang der Gasuhr zu erklären, Rechenschaft davon ablegen, in welcher Weise der Gasdruck nach rückwärts compensirt wird. Es geschieht dieß nicht anders als durch die Niveau-Aenderung des Wassers, dessen Spiegel im Inneren der Kammer, in welche das Gas tritt, gegen außen so lange vermittelst der unteren Communications-Oeffnungen erniedrigt wird, bis der Ueberschuß des Druckes in der Zuleitung gegen denjenigen in der Ableitung einen Niveau-Unterschied zwischen innen und außen erzeugt hat, dessen Druck ihm selber die Waage hält: von dem Augenblicke an, wo dieß geschehen ist, aber nicht früher, steht die überspülte Innenwand der Kammer unter gleichen Druckkräften von beiden Seiten, und jetzt erst ist der auf die andere (vorausgehende) Scheidewand wirksame Druck frei gemacht, wie ich es vorhin nannte. Man muß also, um diesen Druck als treibende Kraft darstellen zu können, ganz nothwendig die Differenz zwischen dem Stande des Wassers innerhalb und außerhalb der Kammer, in welche das Gas tritt, in Betracht ziehen. Es ist klar, daß man mit eben so gutem Rechte, sowie Pettenkofer es vorzieht, die auf die Maschine wirkende bewegende Kraft in dem Ueberdrucke des Wassers, der von rückwärts her auf die überspülte Kammerwand stattfindet, selber erblicken kann: bei dieser Anschauungsweise denkt man sich den auf dieselbe Wand (durch das Wasser hindurch) wirkenden, der Bewegung entgegengesetzten Gasdruck aufgehoben gegen den gleich starken Gasdruck, der auf die andere Innenwand nach vorn thätig ist, und behält also den Wasser-Ueberdruck übrig. In der That hat diese Art der Betrachtung vor der ersteren den Vorzug größerer theoretischer Strenge: die beiden Kräfte, welche man hier gegen einander aufhebt, sind wirklich vom Anfang an gleich groß, während die beiden, welche nach der ersteren Anschauungsweise als sich compensirend gedacht werden, erst von dem vorhin bezeichneten späteren Momente an sich das Gleichgewicht halten. Praktisch ist dieser Unterschied, bei der Kürze des Zeitintervalles vom Anfang der Wasserbewegung bis zu jenem Augenblick, nur wenig erheblich; man mag indessen die eine Art der Darstellung vorziehen oder die andere, so ist es klar, daß man immer den Wasser-Ueberdruck, welcher von rückwärts auf die eingetauchte Scheidewand der Kammer wirkt, in Betracht ziehen muß als ein ganz wesentliches Moment, dessen Beseitigung sofort die ganze auf die festen Theile der Gasuhr wirkende drehende Kraft auf Null reduciren würde. Der Erfinder der Maschine, Samuel Clegg, ein Mann, dem vielleicht auch Hr. Professor Walther einiges praktische Verständniß zugestehen wird, hat also mit sehr gutem Grunde und in der That mit schlagender Richtigkeit von seinem Apparate gesagt, daß das Gas denselben dadurch umtreibe, daß es Wasser aus der Kammer deplacirt in welche es eintritt. Hr. Professor Walther glaubt die Argumentation Pettenkofer's, in welcher auf die Bedeutung des Wasserdrucks hingewiesen war, zu widerlegen, indem er einen Theil der Cylinderwand der Maschinentrommel abnimmt: er findet, daß dadurch die Bewegung (so lange die gebildete Oeffnung unter Wasser bleibt) nicht gestört wird. Offenbar wird damit gar nichts gegen unsere Theorie bewiesen: der Wasserüberdruck auf die im Innern des Cylinders befindliche ebene Scheidewand der Kammer besteht nachher vollkommen ebenso wie vorher, und ist für die Bewegung der verstümmelten Maschine ebenso nothwendig, als für die der vollständigen. Es scheint, als hätte der Hr. Verfasser die Ansicht Pettenkofer's dahin mißverstanden, daß die dem Ueberdrucke des Wassers zugeschriebene drehende Kraft ihren Angriffsort irgendwo an der Cylinderwand haben sollte, während sie ihn natürlicherweise nicht an dieser, sondern an der ebenen Scheidewand der Kammern hat. Durch diese Einwendungen und das zu denselben gehörige Experiment wird also die Sache nicht getroffen, und am wenigsten die Frage motivirt, „was wohl von einer Erklärung zu halten sey, die Etwas zur Hauptsache macht, das, ohne eine Veränderung in den Erscheinungen hervorzurufen, beliebig weggenommen oder hinzugefügt werden kann.“ Denn indem Hr. Professor Walther einen Theil der Cylinderwand abgenommen denkt, kann er sich Das nicht mit als beseitigt denken, was in Pettenkofer's Erklärung wirklich die Hauptsache ausmacht: den einseitigen Ueberdruck des Wassers auf jene ebene Scheidewand. Es scheint zwar, nach einer Vergleichung die der verehrte Herr andeutet, zwischen der Kammer einer Gasuhr und der Glocke eines Gasometers, daß er stillschweigend voraussetzt, man könne auch, ohne die Bewegung der ersteren zu alteriren, ihre vom Wasser bedeckte untere Wand selbst sich ohne Weiteres hinweggenommen denken. Allein bei der Betrachtung der Bewegung einer Maschine kann man natürlicherweise nur solche Theile als nicht vorhanden ansehen, welche für sich im Gleichgewicht stehen: will man also bei der Gasuhr jene Wand, die wirklich vorhanden ist und für den stetigen Fortgang der Maschine nicht entbehrt werden kann, sich hinwegdenken, so muß man vorerst nachweisen, daß auf sie gleiche Kräfte von beiden Seiten her thätig sind. Dieß ist nicht der Fall am Anfang der Bewegung des Ganzen, weil in diesem Augenblicke von der Einen Seite (der Umdrehung der Maschine entgegen) der Wasserdruck und der Druck des Gases aus dem Zuleitungsrohre, von der anderen noch der gleiche Wasserdruck, verbunden mit dem Druck im Ableitungsrohr wirken, und weil der Gasdruck im ersteren Rohr stärker ist als der in dem letzteren: erst von dem mehrfach bezeichneten späteren Momente an heben sich auf beiden Seiten der bezeichneten Wand die Kräfte wirklich auf, und zwar wieder nur deßwegen, weil jetzt der Wasserdruck von beiden Seiten her ungleich geworden ist, und weil seine Differenz diejenige des Drucks der elastischen Flüssigkeiten im Zu- und im Ableitungsrohre jetzt ausgleicht. Man sieht, daß man auch zur Rechtfertigung dieser Betrachtungsweise gezwungen ist, den Unterschied im Niveau, und also im Drucke des Wassers vor und hinter der betreffenden Wand in Betracht zu ziehen: ohne ihn zu berücksichtigen würde man die Berechtigung nicht nachweisen können, diese vom Wasser überspülte Kammerwand als für sich im Gleichgewichte stehend anzusehen. In der That bildet dieselbe wegen der auf sie wirkenden ungleichen Kräfte ein Hinderniß für die Bewegung so lange bis der volle Niveau-Unterschied erreicht ist: sie würde die Drehung gar nicht zu Stande kommen lassen, wenn nicht die Oeffnung bliebe, welche dem Wasser gestattet, aus der Kammer zu treten, und so die von uns erörterte Rolle zu übernehmen. Die gewöhnliche Gasglocke bietet bei ihrem Steigen kein analoges Hinderniß dar: würde man auch bei ihr ein solches schaffen, indem man sie unten etwa bis auf einen seitlichen Schlitz oder ein kleines Loch abschlösse, so würde sie unter anderen Gesetzen als jetzt, und langsamer steigen. Mathematisch würde dann ihre Bewegung, ebenso wie die der festen Theile der Gasuhr, den charakteristischen Umstand darbieten, daß für ihren Beginn (auch wenn mit demselben sogleich eine endliche Quantität Gas als eingetreten gedacht wird) nicht allein die Geschwindigkeit (v) gleich Null wäre, – was bei allen Bewegungen der Fall ist die ohne Stoß durch continuirlich wirkende Kräfte hervorgerufen werden, – sondern gleichzeitig auch die beschleunigende Kraft (dv/dt) verschwände, welche im Allgemeinen schon vom ersten Moment an einen endlichen Werth hat. Hr. Professor Walther hat seiner Polemik noch ziemlich ausführliche Bemerkungen einverleibt über den Einfluß, welchen theoretische oder praktische Beschäftigung auf Geistesrichtung und Vorstellungsart verschiedener Individuen ausüben soll. 'Er selbst äußert gleich darauf, daß er sich damit zu weit von der Sache entfernt habe. Ich glaube, daß man diesem Urtheile ohne Rückhalt beipflichten muß, und will daher, um nicht in einen ähnlichen Fehler zu fallen, die Stichhaltigkeit jener Bemerkungen ebenso wenig als ihre Neuheit einer Prüfung unterziehen. Dr.Ludwig Seidel.