Titel: Ueber die Wirkungen des Schnee's auf die Eisenbahnen; von Séguier.
Fundstelle: Band 172, Jahrgang 1864, Nr. XLIV., S. 177
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XLIV. Ueber die Wirkungen des Schnee's auf die Eisenbahnen; von Séguier. Aus den Comptes rendus, t. LVIII p. 389. Séguier, über die Wirkungen des Schnee's auf die Eisenbahnen. Die neulichen Vorgänge auf den südfranzösischen Bahnen und auf der französischen Ostbahn sind sehr beachtenswerth. Ganze Züge wurden aufgehalten und blieben in bedrängtester Lage stecken. Die Unmöglichkeit, das durch die Anhäufung von Schneemassen, in Südfrankreich, erwachsene Hinderniß zu bewältigen, kann nur als ein seltener Fall, als Folge von meteorologischen Zuständen gelten, welche nur in langen Zwischenräumen entstehen dürften; in den Gebirgsländern aber, welche die Eisenbahnen zu durchfurchen beginnen, werden derartige Uebelstände immer ein schlimmes, mit jedem Winter wiederkehrendes Hemmniß bleiben. Die gegenwärtige Art der Bewegung der Eisenbahnzüge bloß durch die aus der Last der Locomotive resultirende Adhärenz der Locomotivräder an den Schienen ist als die Ursache solcher Unfälle anzusehen, deren Bedeutung und deren Gefahren durch die oben berührten Vorgänge in klares Licht gestellt worden sind. Denn ein Zug bewegt sich nur dann vorwärts, wenn die Treibräder der Locomotive auf die Schienen eine Reibung ausüben, welche der Erfahrung zufolge, bei gewöhnlichem Wetter etwa dem zwanzigsten Theil der auf den Treibrädern ruhenden Last gleichkommt. So hat eine zwanzig Tonnen schwere Locomotive bei trockenem Wetter, wenn die Schienen nicht durch Feuchtigkeit schlüpfrig geworden sind, auf einer horizontalen Ebene in dem Reibungs-Coefficienten ihrer Treibräder die Zugkraft von einer Tonne. Sind aber, wie dieß namentlich in Tunnels vorkommt, die Schienen mit einer schlüpfrigen, schleimigen Substanz überzogen oder mit Schnee oder Glatteis bedeckt, dann wird die aus der Reibung resultirende Adhärenz so gering, daß die Treibräder umlaufen, ohne von der Stelle zu kommen, daß sie „Schlittschuh laufen,“ wie der französische Locomotivführer sagt. Wem ist es wohl nicht schon widerfahren, daß er beim Beschreiten der in den Trottoirs der Städte liegenden gußeisernen Platten auf der durch Schmutz, durch Schnee oder Glatteis schlüpfrig gewordenen Metallfläche „ausgeglitscht“ ist? Die auf derartige Weise reducirte Kraft einer Locomotive genügt kaum, um die ihr angehängten Wagen unbefrachtet nachzuziehen; erfolglos sind die Versuche, Vorrichtungen an ihr anzubringen, mittelst welcher sie den Schnee zur Seite werfen und sich selbst einen Weg brechen könnte. Es hilft nichts, die Schienen vor den Treibrädern beständig mit grobem Sand zu bestreuen und dadurch die Adhärenz wieder herzustellen; es läßt sich auf diese Weise allerdings der Reibungs-Coefficient vermehren, das gestehen wir zu; gleichzeitig müssen wir aber auch bemerken, daß unter solchen Umständen der große Vorzug der Locomotive auf der Eisenbahn leicht durch die weit weniger vortheilhaften Bedingungen einer gewöhnlichen Fortbewegung auf einer gut chaussirten Straße ersetzt werden kann, d.h. die Zugkraft beträgt, anstatt sie im Verhältniß zu der gezogenen Last wie 1 : 300 sich verhalten sollte, nur 1 : 60, allerhöchstens 1 : 70. Somit ist es begreiflich, weßhalb eine Locomotive in vergeblichem Kampfe gegen den in einem Durchstiche aufgehäuftem Schnee ihre Dampfkraft in einem erfolglosen Gleiten ihrer Treibräder auf den schlüpfrigen Schienen erschöpft und zuletzt stecken bleibt, bis sie durch menschliche Muskelkraft wieder flott gemacht und aus ihrer kritischen Lage befreit wird. Das ist die Folge eines Locomotions-Systems, dessen Anwendung man von vorn herein nicht gewagt hatte. Ein Rückblick auf den Ursprung der Eisenstraßen zeigt uns, daß die erste Idee einer Eisenbahn sich den Ingenieuren nur mit der Anwendung von gezahnten Radkränzen und gezahnten Schienen, deren Zähne nach Art von Trieb und Zahnstange in einander griffen, ausführbar erschien. In dieser Art wurde der erste zum Transport von Steinkohlen bestimmte Schienenweg zwischen Stockton und Darlington in England angelegt. Erst als Stephenson auf experimentellem Wege bewiesen hatte, daß die Last einer Locomotivmaschine, bei deren Construction der ausgezeichnete Mechaniker Braithwaite möglichst große Leichtigkeit im Auge gehabt hatte, allein hinreichte, gewöhnlichen Rädern eine Adhärenz auf dem ebenen Schienengeleise zu geben, welche zur Fortbewegung eines Wagenzuges mehr als genügend war, erst dann entschloß sich jener ebenso kühne als geniale Ingenieur, zwischen Liverpool und Manchester, in einer fast ganz ebenen Gegend, die erste Eisenbahn von der Einrichtung anzulegen, wie wir dieselbe noch jetzt sehen. Hierbei wollen wir noch daran erinnern, daß Polonceau für die Versailler Eisenbahn (linkes Seineufer) sich an die möglich geringsten Steigungen hielt, und Clapeyron nicht über 5 Millim. Steigung auf 1 Meter annahm, in der Absicht einem möglichen Gleiten der Treibräder auf glatten Schienen vorzubeugen. Etwas später betrachtete man noch die schiefe Ebene von Etampes mit 7 Millimeter Steigung per Meter als einen bedauerlichen Fehler in der Tracirung der Orleanslinie; denn sehr schwache Steigungen von höchstens 2–3 Millim., große Curven von 1200 Meter Halbmesser waren in den Kinderjahren der Eisenbahnindustrie für unerläßlich erklärte Bedingungen, und die ungeheuren Opfer, welche gebracht wurden, um denselben bei den Eisenbahnentwürfen entsprechen zu können, beweisen uns, daß die Ingenieure erst durch allmählich gewagte kühne Griffe sich davon zu emancipiren wagten. Die Locomotions-Methode mittelst der allein aus dem Gewichte der Locomotive resultirenden Adhärenz war in den ersten Perioden der Eisenbahnindustrie durchaus berechtigt, weil sie zur Ueberwindung von geringen Steigungen genügt; sie wird aber jetzt der Kritik unterworfen, und alle zu ihrer Vervollkommnung getroffenen sinnreichen Einrichtungen tragen nur dazu bei, ihre Unzulänglichkeit in ein helleres Licht zu stellen. Eine Locomotive von 60 Tonnen Gewicht und darüber, zur Befahrung von Gebirgsbahnen! Ein wie bedeutender Theil der Triebkraft einer solchen colossalen Maschine muß dazu verwendet werden, diese letztere selbst fortzubewegen. Der Gedanke an die Geschwindigkeit, welche eine solche Masse, durch den nachfolgenden Wagenzug vorwärts gedrängt, beim Niederfahren zu Thal möglicherweise annehmen könnte, muß mit Schauder erfüllen, wenn man erwägt, daß das Leben sämmtlicher Reisenden nur von den Bremsvorrichtungen abhängt, welche sich nahezu unzulänglich erweisen, sobald sie nur die rollenden Vehikel in gleitende Schlitten verwandeln. Der in entgegengesetzter Richtung umgesteuerte Dampf, durch welchen die Locomotion zu einer umgekehrten Richtung gezwungen und dadurch genöthigt wird, nach Art eines Gabelpferdes zu wirken, welches an Abhängen mittelst der Deichsel das Gefährt einzuhemmen sucht, kann zu größerer Sicherheit nur insoweit beitragen, als dieß die Solidität der Dampfvertheilungsvorrichtungen zuläßt; gerathen diese in Unordnung, so ist es ebenso, als wenn dem Pferde die Kräfte vergehen und es dann von dem Fahrzeuge im Weiterrollen zerschmettert wird. Es bedarf – wir sagen es dreist heraus – der ganzen Zuversicht, mit welcher uns die täglich gefahrvolleren, dennoch aber erfolgreichen Versuche erfüllen, um Linien mit starken Steigungen in Gebirgsländern bei einer so wenig normalen Locomotionsmethode zu entwerfen. Es sey mir gestattet zu erklären, was ich unter normaler Locomotionsmethode verstehe. Unter einer solchen begreife ich die, welche allen zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes nothwendigen Bedingungen vollkommen genügt. Ich will dieß durch einige Beispiele erläutern. Die Stemmthore einer Schleuße, welche einander mit um so größerer Kraft genähert werden, je stärker das Wasser gegen sie drückt; die Liederung einer hydraulischen Presse, welche dem Entweichen der Flüssigkeit um so stärkeren Widerstand entgegensetzt, je stärker die letztere zusammengepreßt wird – dieß entspricht dem, was ich normale Locomotionsmethode nenne, da diese Vorrichtungen ihrem Zwecke genügen und durch keine anderen besser ersetzt werden können. Zwei horizontale Räder, welche nach Art der Walzen eines Walzwerkes Wirten und durch den Widerstand des Wagenzuges gegen eine in der Mitte der Bahn solid befestigte Schiene gedrückt werden, realisiren gleichfalls eine normale Lösung des Problems der Fortbewegung auf Eisenbahnen. Bei einer solchen Anordnung läßt sich die totale Dampfkraft der Maschine bei der höchsten Dampfspannung zur Locomotion ausnutzen. Diese normale Lösung der obschwebenden Frage habe ich schon vor einundzwanzig Jahren der Akademie vorgelegtPolytechn. Journal Bd. XCI S. 107. und vor einigen Wochen auf die Nachricht, daß ein englischer Ingenieur dieselbe bei der Uebersteigung des Mont Cenis mittelst einer Eisenbahn anzuwenden beabsichtige, für dieselbe die Priorität reclamirt. Diese Lösung der Frage gibt zur Ueberwindung der durch Schneefall erwachsenden Hindernisse die günstigsten Bedingungen an die Hand, welche wir nun kurz andeuten wollen. An der Spitze eines Zuges ist eine gewöhnliche Locomotive nicht im Stande, sich durch den Schnee Bahn zu brechen, sobald die massenhafte Anhäufung desselben ein Hinderniß darbietet, welches die sehr verminderte Adhärenz der Treibräder an den mit Glatteis überzogenen Schienen übersteigt; bei einer mit Horizontalrädern, welche so fest gegen eine centrale Schiene pressen, daß sie nie gleiten können, versehenen Maschine kann man auf die Kolben Dampf von der höchsten Spannung wirken lassen, welche das Sicherheitsventil des Dampfkessels zuläßt. Bei einer solchen Maximalkraft des Dampfes von höchster Spannung wird die Maschine im Stande seyn, den Schnee wegzuräumen, wozu noch die Wirkung von Hülfsvorrichtungen beitragen kann. Wir sind fest überzeugt, daß mit einem gewöhnlichen Röhrenkessel und großen Kolben, welche mittelst großer Kurbeln kleine Horizontalräder in Bewegung setzen, durch letztere Geschwindigkeit in Kraft verwandelt werden kann, ohne daß Gleiten möglich ist, da dieselben eben durch den stattfindenden Widerstand an die Mittelschiene angedrückt werden, und daß es mittelst einer solchen Maschine in den meisten Fällen möglich seyn würde, bei Schneefall die Communication auch auf Gebirgsbahnen frei zu halten. Denken wir uns eine solche Maschine an ihrem Vordertheile mit einer Pflugschar mit doppeltem Abstreichbret versehen, ähnlich dem zum Auswerfen der Draingräben üblichen Pfluge. Diese Maschine passirt bei Schneefall die Bahn in bestimmten Tageszeiten, bevor der Schnee sich zu sehr anhäuft; mit sicherem Gange wirft sie den letzteren von der Bahn rechts und links zur Seite, und versieht in dieser Weise auf mechanischem Wege den Dienst eines Bahnbrechers mit weit geringerem Zeit- und Kostenaufwands, als dieß bei der Ohnmacht der jetzigen Maschinen, in Folge des Gleitens ihrer Treibräder, mit der Anwendung der weit kostspieligeren und viel Zeit beanspruchenden Kraft zahlreicher Arbeiter möglich ist.