Titel: Populäre Darstellung der endosmotischen Erscheinungen bei der Saftgewinnung aus Rüben, insbesondere mittelst der Diffusionsmethode; von Dr. C. Scheibler.
Fundstelle: Band 182, Jahrgang 1866, Nr. XCII., S. 341
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XCII. Populäre Darstellung der endosmotischen Erscheinungen bei der Saftgewinnung aus Rüben, insbesondere mittelst der Diffusionsmethode; von Dr. C. Scheibler. Aus der Zeitschrift des Vereins für die Rübenzucker-Industrie im Zollverein, 1866, S. 231. Scheibler, über die Saftgewinnung aus Rüben mittelst der Diffusionsmethode. Bei dem großen Interesse, welches gegenwärtig dem Diffusionsverfahren des Hrn. Jul. Robert in Seelowitz mit Recht zugewendet wird, dürfte es vielleicht kein undankbares Unternehmen seyn, denjenigen Lesern dieser Zeitschrift, welchen es an Zeit gebricht, umfangreichen Specialstudien für das Verständniß einer streng wissenschaftlichen Erklärung der Erscheinungen bei der Diffusion obzuliegen, ein anschauliches Bild für diese Erscheinungen vorzuführen. Für klare, durch theoretische Schlüsse und Folgerungen befestigte Anschauungen lassen sich meist auch einfache Darstellungsformen finden, die Jedem verständlich sind, auch wenn die Mittel und Wege unerörtert bleiben, wie sie erhalten wurden. Die populäre Darstellung einer Theorie ist nur eine kurzgefaßte, ihrer wissenschaftlichen Basis und Ausdrucksweise entkleidete Umschreibung derselben; sie soll das Neue und Eigenthümliche derselben nur als ein aus Bekanntem und Geläufigem componirtes Bild erscheinen lassen, nur muß der Empfänger eines solchen sich stets bewußt bleiben, daß er nur ein Bild vor sich hat. Aus diesen Gesichtspunkten wird es vielleicht entschuldigt, wenn ich neben den gediegenen wissenschaftlich-theoretischen Abhandlungen über Diffusion in nachstehenden Zeilen eine populäre Darstellung der Diffusions-Erscheinungen zu geben versuche. Der Körper der Rüben wird bekanntlich aus einer großen Zahl einzelner Zellen gebildet, die verschieden an Größe und Form sind und nach ihrer Natur und Lage einen verschiedenartig zusammengesetzten Inhalt haben. Innerhalb dieser Zellen sind der Zucker, das Eiweiß, die Salze, überhaupt alle diejenigen löslichen Stoffe, welche sich später im Safte finden, nebst einigen anderen unlöslichen, welche in den Preßlingen oder Schnittlingen verbleiben, abgelagert. Die Zellen sind ringsum geschlossen, d.h. von einer Wand umgeben, die ihre Form bedingt, doch muß man sich diese Wand nicht als absolut geschlossen, sondern vielmehr nur als ein überall geschlossenes Sieb vorstellen, welches aus mehr oder weniger großen Maschen gebildet ist, und zwar kann man sich denken, daß die kleineren Maschen in bedeutenderer Anzahl vorhanden sind als die größeren. Die Zellenwände sind darnach gleichsam mit kleinen Säcken, welche aus einem lockeren, unregelmäßig gewebten Zeuge bestehen, zu vergleichen. Den Inhalt dieser sackartigen Siebe, die oben bezeichneten Körper, muß man sich denken als aus Körnchen von verschiedener Größe gebildet, die unter gegebenen günstigen Umständen wegen ihres Größenunterschiedes mit ungleicher Leichtigkeit durch die Maschen der siebartigen Wände hindurchschlüpfen, und zwar würden, wie nicht anders vorstellbar, die kleineren Körnchen durch alle Maschen der Siebwandungen die Zellen verlassen können, während die größeren Körner nur durch die in geringerer Zahl vorhandenen weiten Maschen aus den Zellen würden austreten können, und etwa noch gröbere Körner vollständig in der Zelle verbleiben müßten. – Ich brauche hier wohl kaum zu wiederholen, daß die Anschauung von Körnern, Maschen u.s.w. nur in der Vorstellung besteht, da auch mittelst der besten Mikroskope oder anderer Hülfsmittel der Beweis ihrer Existenz bisher nicht geführt ist. Die relativen Größenverhältnisse, die Volumina, gedachter Körner der verschiedenen Saftbestandtheile, wie des Zuckers, des Kochsalzes, des Eiweißes u.s.w., lassen sich nur aus den Atomgewichten und den spec. Gewichten dieser Körper berechnen; man findet sie, wenn man die die Atomgewichte repräsentirenden Zahlen durch die Zahlen der specifischen Gewichte dividirt. Ohne hier weiter auf derartige Berechnungen einzugehen, sey nur bemerkt, daß demnach Körper von hohem Atomgewichte und kleinem spec. Gewichte, wie Gummi, Pektin, Eiweiß u.s.w., ein großes Atomvolumen besitzen, also grobe Körner darstellen, während Körper von kleinerem Atomgewicht, und größerem spec. Gew., wie einige Salze, Zucker u.s.w., ein kleineres Atomvolumen haben, feinere Körner darstellend. Es zeigt sich nun im Allgemeinen, daß die Fähigkeit löslicher chemischer Verbindungen, eine Zelle verlassen zu können, d.h. nach unserer Vorstellung durch die kleinen Oeffnungen der Zellwand hindurchgehen, zu können, um so größer ist, je kleiner das Atomvolumen derselben ist; doch findet man unter sonst gleichen Umständen diese Fähigkeit hinwiederum stärker bei solchen Verbindungen, welche zu krystallisiren vermögen, wie bei den meisten Salzen, dem Zucker, dem Asparagin u.s.w. (Graham's Krystalloïde), als bei den der Krystallisation unfähigen Stoffen (Colloïde); kurz, diese Fähigkeit setzt sich aus zwei Factoren zusammen; sie ist um so größer, je kleiner das Atomvolumen der fraglichen Stoffe und je größer ihre Neigung zu krystallisiren ist. Die Saftgewinnung durch Diffusion, d.h. die Erzielung des Inhaltes der Zellen, würde nun nach dieser Anschauung ein wirkliches „Sieben,“ selbstverständlich im mikrochemischen Sinne, seyn und unterschieden werden müssen von den Arten der Saftgewinnung, bei denen die Zellwände absichtlich durch mechanisch wirkende Mittel vorher zerrissen werden (Reibeverfahren), in welchen letzteren Fällen eine einfache Auswaschung des gesammten Inhaltes der Zellen stattfindet. Dieses „Sieben“ findet nun bei der Diffusion unter Wasser statt; es werden demnach durch die Maschen der Zellwand nicht allein Körper austreten, sondern dafür auch Wasseratome in die Zelle eintreten, welcher Proceß sich so lange fortsetzt, bis auf beiden Seiten der Zellwand eine gleichartige Mischung von Wasseratomen und siebfähigen Zellkörnern vorhanden ist; alsdann ist keine weitere Veranlassung eines wechselweisen Austausches vorhanden, es ist Gleichgewicht eingetreten. Entfernt man dann aber den entstandenen äußeren Saft und ersetzt ihn durch frisches Wasser, so beginnt das „Sieben“ von Neuem, bis abermals Gleichgewicht eingetreten u.s.f. Das in die Zellen eingedrungene Wasser scheint einigen Erscheinungen zufolge noch einen besonderen Einfluß auf denjenigen Theil des Zelleninhaltes auszuüben, welcher nach obiger Vorstellung grobkönig zu denken ist. Diese der Krystallisation unfähigen Körper haben nämlich die Tendenz, in Berührung mit Wasser aufzuquellen oder untereinander zusammenzuballen, wodurch sie dann um so unfähiger werden, die Zelle zu verlassen. Man kann sich vorstellen, daß die Atome dieser Körper durch dazwischen gelagerte krystallisirte Körper außer Berührung mit einander stehen, in dem Maaße aber, als die letzteren durch Sieben die Zelle verlassen, in Berührung mit einander kommen und dann zusammenkleben. Die technische Chemie besitzt ein Prüfungsverfahren, welches ein treffliches Bild für diesen Fall bietet: es ist dieß die sogenannte Bamihl'sche Mehlprobe. Das Weizenmehl enthält vorwiegend Stärkemehl und Kleber, welche als solche in dem Mehle in inniger Mischung vorkommen. Umhüllt man nun eine kleine Quantität Weizenmehl (einen Theelöffel voll) mit feinster seidener Müllergaze und bindet diese zu einem Beutelchen fest zu, so kann man durch Drücken und Kneten desselben unter einem Wasserstrahle alle Weizenstärke durch die Maschen der Gaze auswaschen, während zusammenhängender, fadenziehender Kleber zu einem aneinandergeballten Klumpen in dem Beutel zurückbleibt. Wir haben in diesem Versuche ein vollkommenes Bild der Diffusion; eine geschlossene, mit Maschenwandung umgebene Zelle, feine Körner (Stärke, entsprechend Zucker, Salze u.s.w.), welche unter Wasser die Zelle verlassen, und grobe Körner (Kleber, entsprechend Eiweiß, Pektin u.s.w.), welche sich zusammenballen und in der Zelle verbleiben. Die osmotische Saftgewinnung kann also als ein Siebproceß aufgefaßt werden, der als Endresultat einerseits eine durchgesiebte Flüssigkeit liefert, die unter anderen Stoffen hauptsächlich den für die Zuckerfabrication allein wichtigen Zucker enthält, andererseits ein Sieb, welches einen für die Zwecke der Viehfütterung werthvollen Rückstand einschließt. Dieser Siebproceß ist durchaus abhängig von der Art der Maschen des Siebes und ist es wohl denkbar, daß eine edle Rübensorte Siebe von feineren, zarteren Maschen besitzt, als eine entartete, oder daß die Schnelligkeit des Wachsens der Rüben, Cultur, Witterung, Bodenverhältnisse u. dgl. m. auf die Structur des Zellwand-Siebes und damit auf die Beschaffenheit der erzielten Diffusionssäfte von größtem Einflusse seyn können. Bei der Saftgewinnung mittelst Diffusion wird bereits durch die Thätigkeit der Zellwand selbst eine theilweise Trennung des Zelleninhaltes in Zucker einerseits und gewisse Nichtzuckerstoffe andererseits bewirkt, während bei den übrigen Methoden der Saftgewinnung, die mit einem absichtlichen Zerreißen der Rübenzellen ihren Anfang nehmen, der Zelleninhalt völlig ausgewaschen wird und in den Saft wandert, um demnächst in der Form von Scheideschlamm verloren zu gehen oder in der Form von Melasse einen lästigen Ballast zu bilden. Am idealsten findet Letzteres statt, wo nach der ersten Saftabpressung aus dem Rübenreibsel die Preßlinge mittelst Nachreiben eine nochmalige Zersetzung erleiden; hierbei wird der Nichtzuckergehalt einiger bevorzugten Zellen, denen es wenigstens bei der ersten Operation vergönnt war, ein kurzes gepreßtes Diffusionsdaseyn zu führen, schonungslos seiner bescheidenen Verborgenheit entzogen, um auf die zwecklose Wanderung zu gehen.