Titel: Untersuchungen über die Schießbaumwolle; von Professor Fr. A. Abel, Chemiker des brittischen Kriegs-Departements.
Fundstelle: Band 185, Jahrgang 1867, Nr. XLIII., S. 148
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XLIII. Untersuchungen über die Schießbaumwolle; von Professor Fr. A. Abel, Chemiker des brittischen Kriegs-Departements. Aus der Chemical News, 1866, vol. XIV p. 18. Abel, Untersuchungen über die Schießbaumwolle. Das Fabricationssystem der Schießbaumwolle, wie es von dem österreichischen General Baron v. Lenk verbessert wurde,Dieses Verfahren ist im polytechn. Journal Bd. CLXXVIII S. 145 nach der Patentbeschreibung mitgetheilt. hat in England bei seiner Anwendung nur unbedeutende Abänderungen erfahren. Ich habe dasselbe zum Gegenstande sorgfältiger Untersuchungen gemacht,Einen ausführlichen Bericht über diese Untersuchungen hat Professor Abel in den Transactions of the Royal Society for 1866, p. 269–308 mitgetheilt. A. d. Red. und die Resultate zahlreicher Fabricationsversuche, sowie die Prüfung der dabei erhaltenen Producte beweisen, daß der Proceß der Umwandlung der Baumwolle in die explosivste Form des Pyroxylins oder die Schießbaumwolle, sowie das Verfahren der Reinigung des Rohmaterials durch Baron v. Lenk in solchem Grade verbessert worden ist, daß man sich nur streng an seine einfachen und genauen Vorschriften zu halten braucht, um mit Sicherheit sehr gleichartige Producte zu erhalten, welche hinsichtlich ihrer chemischen Zusammensetzung einem Präparate von vollkommener Reinheit sehr nahe kommen. Obgleich die Folgerungen der zahlreichen Chemiker, welche sich nach Schönbein's Entdeckung mit der chemischen Zusammensetzung der Schießbaumwolle beschäftigten, sehr von einander abweichen, so galt dieselbe seit den i. J. 1854 veröffentlichten Untersuchungen von Hadow doch sehr allgemein als definitiv festgestellt. Nach diesem Forscher wird die Zusammensetzung der die stärkste Explodirbarkeit besitzenden Schießbaumwolle durch die (zuerst von Walter Crum i. J. 1847 aufgestellte) Formel C⁶H⁷N³O¹¹ ausgedrückt und die Substanz kann betrachtet werden als Cellulose, in welcher 3 Atome Wasserstoff durch 3 Atome Stickstoffoxyd ersetzt sind. Demzufolge hat die Schießbaumwolle den Namen Trinitrocellulose erhalten und ihre Zusammensetzung wird ausgedrückt durch die Formel: C⁶ H⁷3 NO² O⁵. Später wurde Hadow's Ansicht durch andere Chemiker, namentlich Redtenbacher, Schrötter und Schneider bestätigt, welche Proben von der unter v. Lenk's Direction dargestellten Schießbaumwolle analysirten. Indessen veröffentlichten i. J. 1864 Pelouze und Maurey einen Bericht,Mitgetheilt im polytechn. Journal Bd. CLXXIV S. 209. in welchem sie für das v. Lenk'sche Product die Formel C²⁴ H³⁶ O¹⁸; 5 N² O³ aufstellen. Hierzu wurden sie theils durch die bei einigen Analysen erhaltenen Resultate, theils durch die bei der Behandlung der Baumwolle mit dem Säuregemisch stattfindende Gewichtszunahme derselben bestimmt, als deren Maximum sie 78 Proc., also etwas mehr fanden, als der von ihnen aufgestellten Formel entsprechen würde. Hinsichtlich der Zusammensetzung der nach dem v. Lenk'schen Verfahren dargestellten Schießbaumwolle bestätigen die von mir erhaltenen sehr zahlreichen analytischen und synthetischen Resultate die Richtigkeit der von Crum und Hadow für die explosivste Art der Schießbaumwolle aufgestellten Formel und liefern den Beweis, daß die durch strenge Befolgung der v. Lenk'schen Vorschriften erhaltenen Producte stets Trinitrocellulose von einer Reinheit sind, wie dieselbe bei fabrikmäßiger Darstellung eines chemischen Präparates nur immer erwartet werden kann. Die am stärksten explosive Schießbaumwolle ist in Gemischen von Aether und Alkohol vollständig unlöslich; durch Abänderung der relativen Mengenverhältnisse und der Stärke der zum Nitriren der Baumwolle dienenden Säuren lassen sich aber Producte von geringerer Explodirbarkeit darstellen, welche in Aether-Alkohol leichter löslich sind (und das bekannte Collodium geben). Daraus geht hervor, daß wenn bei der Fabrication von Schießbaumwolle die zur Erzeugung von unlöslichem Pyroxylin nothwendigen Bedingungen nicht streng befolgt werden, die Gleichmäßigkeit des Productes in höherem oder geringerem Grade leiden muß. Die gewöhnlichen Fabricationsproducte sind niemals ganz frei von löslicher Schießbaumwolle; die Menge der letzteren ist jedoch klein und ziemlich constant: sie beträgt etwa 1,5 Proc. Außerdem enthalten diese Producte eine geringe Menge (etwa 0,5 Proc.) einer in bloßem Alkohol löslichen Substanz, welche den Charakter einer Säure zeigt und offenbar durch die Einwirkung der Salpetersäure auf die kleinen Mengen harziger oder anderer, der reinen Cellulose beigemengten fremden Körper entstanden ist, von denen die Baumwollfaser bei ihrer Reinigung nicht vollständig befreit werden kann. Es liegt hinlänglicher Grund zu der Annahme vor, daß diese Verunreinigung der Schießbaumwolle in ihrem Gewichtsverhältniß eine schwankende ist, und daß die von Pelouze und Maurey, de Luca u.a. bei manchen Sorten dieses Präparates beobachtete starke Geneigtheit zu freiwilliger Zersetzung zum großen Theile vorhandenen größeren Mengen jener Nebenproducte zugeschrieben werden muß. Nach meinen Untersuchungen geben 100 Th. sorgfältig gereinigter Baumwolle 181,8 bis 182,5 Th. Schießbaumwolle. Ganz reine Cellulose müßte bei absolut vollständiger Umwandlung in eine der Formel C⁶H⁷N³O¹¹ entsprechende Substanz (Trinitrocellulose) um 83,3 Proc. an Gewicht zunehmen; durch die angegebenen gefundenen Resultate wird also die Richtigkeit dieser allgemein angenommenen Ansicht von der Zusammensetzung der Schießbaumwolle vollkommen bestätigt. Bei der Fabrication dieses Präparates im Großen nach dem v. Lenk'schen Verfahren werden etwas niedrigere Resultate erhalten, einestheils in Folge der in der angewendeten Baumwolle enthaltenen fremdartigen Beimengungen, anderntheils in Folge eines beim Reinigen des Productes stattfindenden Verlustes. In Woolwich sind seit mehreren Jahren sehr ausgedehnte Versuche im Gange, durch welche ergründet werden soll, wie weit die Schießbaumwolle sich freiwillig verändern kann, wenn sie längere Zeit hindurch der Einwirkung des Lichtes und verschiedener zwischen der gewöhnlichen Temperatur der Atmosphäre und dem Siedepunkte des Wassers liegenden Wärmegraden ausgesetzt wird. Wenn auch die bisher erzielten Resultate den Beweis geben, daß das Pyroxylin unter gewissen Bedingungen eine freiwillige Zersetzung erleiden kann, so bestätigen sie doch keineswegs die von den französischen Chemikern bezüglich der großen Unbeständigkeit dieses Körpers gezogenen Schlüsse. So behauptet de Luca,Man vergleiche den Aussatz von S. de Luca über die freiwillige Zersetzung der Schießbaumwolle im polytechn. Journal Bd. CLXXIV S. 389. daß alle Proben von Schießbaumwolle, auf welche er das directe Sonnenlicht einwirken ließ, sich entweder schon am ersten Tage oder innerhalb weniger Tage zersetzten. Aber in Woolwich ist kein einziges Beispiel einer so raschen Zersetzung der nach dem gegenwärtigen Verfahren bereiteten Schießbaumwolle vorgekommen. Wird die Substanz dem Sonnenlichte ausgesetzt, so beobachtet man allerdings nach einiger Zeit eine sehr allmähliche und geringe Gasentwickelung; aber die Gasmenge, welche in Woolwich von Proben aufgefangen wurde, die zwei und ein halbes Jahr hindurch dem directen Tageslichte ausgesetzt worden waren, ist sehr klein und sämmtliche Proben hatten nach Verlauf dieser Zeit ihr ursprüngliches Aussehen beibehalten. Pelouze und Maurey stellen (a. a. O.) die Behauptung auf, daß Schießbaumwolle sich stets binnen wenigen Tagen vollkommen zersetzt, wenn sie einer Temperatur von 55 bis 60° C. ausgesetzt wird, und sie legen großes Gewicht darauf daß eine Probe sofort explodirte, als sie in ein auf 47° C. erhitztes Gefäß gebracht wurde. In Woolwich jedoch hat eine Probe des gewöhnlichen Productes, welches nunmehr seit zwölf Monaten einer Temperatur von 65° C. ausgesetzt worden ist, bis jetzt nur eine geringe Menge Gas entwickelt und zeigt noch ganz ihr früheres Ansehen. Verschiedene Proben wurden mehrere stunden lang einer Temperatur von 90° C. ausgesetzt, und entwickelten alle während dieser Zeit salpetrige Dämpfe; dann wurden sie in geschlossenen Gefäßen etwa zwanzig Monate lang der Einwirkung des Lichtes ausgesetzt und besitzen noch ihr ursprüngliches Aussehen und ihre explosiven Eigenschaften. Mehrere große mit Schießbaumwolle dicht voll gepackte Munitionskisten wurden sechs Monate lang in einem Zimmer aufbewahrt, dessen Temperatur drei Monate lang auf 49° C. und dann eben so lange auf 54° bis 55° C. erhalten ward, wobei Anordnungen zur periodischen Registrirung der Temperatur in den verschlossen gehaltenen Kisten getroffen waren. Bei keinem dieser Versuche fand eine solche Erhöhung der letztgenannten Temperatur Statt, daß man daraus auf eine chemische Veränderung der Schießbaumwolle in den Kisten hätte schließen können, sie blieb nämlich stets unter derjenigen der Luft im Zimmer. Wir führen diese wenigen, bereits erhaltenen Resultate an, um zu zeigen, daß das Verhalten der in England nach dem v. Lenk'schen Verfahren dargestellten Schießbaumwolle das Verdammungsurtheil, welches diesem Präparate namentlich in Frankreich zu Theil geworden ist, durchaus nicht rechtfertigt. Die französischen Chemiker haben einen, die Aufbewahrung der Schießbaumwolle betreffenden, sehr wichtigen Punkt unbeachtet gelassen. Diese Substanz läßt sich nämlich auf's Vollkommenste und, wie es scheint, beliebig lange Zeit hindurch aufbewahren, entweder unter Wasser, oder noch einfacher durch Tränken mit soviel Feuchtigkeit, daß sie vollständig unentzündbar gemacht wurde. In diesem Zustande ist Schießbaumwolle bei weitem ungefährlicher als Schießpulver selbst durch Versatz mit sehr großen Mengen unverbrennlicher Körper gemacht werden kann; sie läßt sich eben so sicher transportiren als rohe Baumwolle; sie ist sogar, wenn sie in feuchtem Zustande sehr lange Zeit hindurch aufbewahrt wird, weit weniger zum allmählichen Verderben geneigt als Baumwolle und andere pflanzliche Substanzen. Zahlreiche Proben von Schießbaumwolle, welche mehrere Monate lang zusammen mit Papier, baumwollenen Stoffen und Holz in einem sehr feuchten Raume aufbewahrt worden waren, hatten die ursprüngliche Stärke ihrer Faser und ihre sämmtlichen früheren Eigenschaften beibehalten; auch zeigte sich keine Spur von Schimmelpilzen auf denselben, wogegen die in unmittelbarer Berührung mit der Schießbaumwolle gewesenen Papiere und Gewebe vollständig weggefault waren und das Holz sich mit Pilzen bedeckt zeigte. Uebrigens sind auch hinsichtlich der Zubereitung der Schießbaumwolle, um die explosiven Wirkungen derselben beliebig modificiren zu können, beträchtliche Fortschritte gemacht worden. Die Schnelligkeit, mit welcher dieses Präparat an freier Luft abbrennt, läßt sich durch Anwendung einfacher Hülfsmittel bedeutend modificiren: nämlich durch Spulen, Zusammendrehen oder Flechten von Schießbaumwoll-Garn von verschiedener Stärke. Obgleich man aber im Stande ist, selbst größere Massen von Schießbaumwolle durch festes Zusammendrehen der einzelnen Stränge in einen solchen Zustand zu versetzen, daß sie verhältnißmäßig langsam abbrennen, wirkt doch eine Ladung der in solche Form gebrachten Substanz, wenn sie in einer Feuerwaffe explodirt, ebenso zerstörend, wie eine gleiche, aus sehr lose zusammengewundenem Schießbaumwolle-Garn bestehende Ladung, weil in Folge des durch die erste Entzündung der Ladung erzeugten Gasdruckes die compacte Packung der Schießbaumwolle nicht mehr im Stande ist das augenblickliche Durchschlagen der Flamme zwischen den einzelnen Schichten des Materials zu verhindern. Die Behauptung, daß man die explosive Wirkung der Schießbaumwolle in einem Laufe durch bloße Abänderung der Compactheit, womit das Schießmaterial als Garn zusammengedreht wird, nach Belieben zu modificiren im Stande sey, erweist sich daher als eine ganz irrige. Es stehen indessen zur Verminderung der Schnelligkeit, mit welcher die Schießbaumwolle explodirt, doch zwei Methoden zu Gebote. Die erste derselben besteht in einer Verdünnung der Substanz entweder mit einer weniger explosiven Art von Pyroxylin, oder mit einer ganz unexplodirbaren Substanz, z.B. mit gewöhnlicher Baumwolle. Die letztere Verdünnungsweise haben kürzlich die HHrn. Prentice zur Anfertigung von Patronen für Jagdzwecke angewendet; ihrer Angabe nach versprechen die bisher erzielten Resultate viel. – Die zweite Methode besteht in einer durch Druck bewirkten Verdichtung der Schießbaumwolle zu compacten, homogenen Massen, und in einer Beschränkung der ersten Entzündung dieses comprimirten Pyroxylins in dem Laufe auf gewisse Flächen. In die Form von Garn, Flechten oder Zöpfen gebrachte Schießbaumwollfaser läßt sich zu sehr compacten Massen umwandeln, wenn sie in Cylinder von starker Pappe oder ähnlichem passendem Material eingestampft wird; weit homogenere und festere Massen werden aber ohne Cylinder und andere Hüllen, mittelst eines kürzlich von mir erfundenen Verfahrens hergestellt, welches wesentlich darin besteht, die Schießbaumwollfaser zu einem, dem Ganzzeuge der Papierfabriken ähnlichen feinen Brei zu zertheilen und denselben durch Druck in feste Massen von geeigneter Form und Dichtigkeit umzuwandeln. Mittelst dieser Erfindung lassen sich beide Methoden zur Verminderung der Explosionskraft der Schießbaumwolle, die Verdünnung und die Compressionsmethode, ganz gut combiniren. Die Substanz wird nach diesem System in der That in einer den Processen, durch welche die explosive Wirkung des Schießpulvers in so bemerkenswertem Grade modificirt und regulirt wird, ganz entsprechenden Weise bearbeitet. Die Resultate mehrerer Versuche haben bereits veranlaßt, daß höheren Orts weitere Versuchsreihen angeordnet worden sind, durch welche von dem oben erwähnten Comité zu Woolwich erprobt werden soll, ob durch meine Erfindung die Schießbaumwolle zur Anwendung für artilleristische Zwecke geeignet gemacht werden kann. – Eine weit weniger schwierige Aufgabe, deren vollständige Lösung in nächster Aussicht steht, ist die, das Pyroxylin in eine für Kleingewehr passende Form zu bringen. Zur Anwendung für Hohlgeschosse und zu Minen, sowohl Land- als submarinen Minen, bietet die comprimirte oder feste Form der Schießbaumwolle besondere Vortheile dar, und zwar in Folge der großen Dichtigkeit, welche sich ihr in dieser Form ertheilen läßt; letztere ist der Art, daß solche Schießbaumwolle denselben Raum einnimmt, wie die gleiche Gewichtsmenge Schießpulver, während die Schießbaumwolle in den bisher zu diesen Zwecken angewendeten Formen ungefähr das dreifache Volum der gleichen Gewichtsmenge von Pulver einnimmt. Mit Schießbaumwolle lassen sich auch leicht schöne pyrotechnische Effecte erzielen, wenngleich die völlige Abwesenheit von Rauch – welche für manche, namentlich bergmännische Zwecke, dem Pyroxylin einen so bedeutenden Vorzug sichert – gewisse, mit pyrotechnischen Compositionen erreichbare Zwecke beeinträchtigt. Dagegen lassen sich Pyroxylin-Feuerwerke ohne jede Belästigung recht gut im Zimmer abbrennen. Nach dem Vorstehenden läßt sich nicht mehr bezweifeln, daß die Benutzung der Schießbaumwolle zu wenigstens einigen der wichtigeren Zwecke, zu denen bisher das Schießpulver diente, binnen kurzer Zeit mit Erzielung sehr bedeutender Vortheile allgemein eingeführt seyn wird und daß dieser interessante explosive Körper eine bleibende und hervorragende Stellung unter den wichtigsten Producten der chemischen Industrie einzunehmen bestimmt ist.