Titel: Die projectirte Eisenbahnverbindung zwischen England und Frankreich.
Fundstelle: Band 198, Jahrgang 1870, Nr. LXIX., S. 285
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LXIX. Die projectirte Eisenbahnverbindung zwischen England und Frankreich. Projectirte Eisenbahnverbindung zwischen England und Frankreich. Die Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, 1870 Heft 3, enthält unter obigem Titel einen Vortrag des Ingenieurs A. Fölsch, welchem wir Folgendes entnehmen: Das europäische Eisenbahnnetz zeigt eine auffallende Lücke und zwar zwischen England und Frankreich, für welche Strecke man bis jetzt lediglich auf eine sehr unvollkommene Schiffsverbindung angewiesen ist. Im Jahre 1868 verkehrten mehr als 310,000 Reisende zwischen England und den vier französischen Häfen Calais, Boulogne, Dieppe und Havre, wovon mehr als die Hälfte den kürzesten Weg über Dover und Calais gewählt haben, was die ziemlich allgemein herrschende Scheu vor einer längeren See-Passage erkennen läßt. Der Warenaustausch zwischen beiden Ländern hat ebenfalls enorme Dimensionen angenommen. Daß aber der bestehende Schiffsverkehr den berechtigten Anforderungen nicht zu entsprechen vermag, ist genügend bekannt und wurde auch neulich im Vereine der englischen Marine-Ingenieure die Erklärung ausgesprochen, daß die gegenwärtige Communication zwischen England und Frankreich geradezu als ein der Jetztzeit unwürdiger Zustand betrachtet werden müsse. Die Schiffe auf diesen Routen sind klein und von geringem Tiefgange; größere Schiffe lassen sich, der seichten Häfen wegen, nicht anwenden. Dann tragen die klimatischen Verhältnisse wesentlich zur Steigerung der Uebelstände bei, indem auf 365 Tage des Jahres durchschnittlich 90 Tage mit ruhiger See, 144 Tage mit einigermaßen erträglicher Witterung, jedoch 120 Tage mit heftiger Brise und stark bewegter See, endlich 29 Tage mit Sturm und sehr schwerer See entfallen. Während einzelner Tage in jedem Jahr ist das Ein- und Auslaufen von Schiffen durchaus unmöglich, somit jeder Verkehr zwischen Frankreich und England, selbst für die Post ganz abgeschnitten. Bei dem riesigen Personen- und Frachtenverkehr, wie er jetzt schon besteht, ist man wohl berechtigt, die höchsten Anforderungen in Bezug auf Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit zu stellen. Es sind auch schon viele Verbesserungs-Vorschläge gemacht worden. Schon vor etwa 70 Jahren hat ein Hr. Mathieu es versucht, den ersten Consul Bonaparte von der Möglichkeit und dem Vortheil einer unterseeischen Verbindung Englands mit Frankreich zu überzeugen, jedoch ohne Erfolg. Im Jahre 1856 veröffentlichte Hr. Thoméde Gamond den Plan, unter dem Canale einen Eisenbahntunnel herzustellen. Es sollten im Meere 13 künstliche Inseln durch Anschüttung gebildet und darin Schächte abgeteuft werden, welche zur Herstellung des Tunnels, sowie später zur Ventilation desselben zu dienen hätten. Dieser kühne Plan erregte großes Aufsehen und rief eine Anzahl von anderen Projecten hervor. Vor Allem wollte man, anstatt des Tunnels, große eiserne Röhren auf den Boden der See versenken oder in gewisser gleichmäßiger Tiefe unter dem Meeresspiegel mittelst Verankerung und Bojen aufhängen. Andere wollten den Canal mittelst einer Gitterbrücke überschreiten und glaubt ein gewisser Hr. Boutet, die kostspieligen Monstrepfeiler dadurch auf das Minimum reduciren zu können, daß er Brückenfelder von 10,000 Fuß Spannweite zur Ausführung beantragte. Inmitten dieser Fluth von Projecten sind drei Entwürfe in den Vordergrund getreten, welche wegen ihrer Gründlichkeit, sowie wegen ihrer Verschiedenheit von einander wohl geeignet wären, die Aufmerksamkeit eines jeden Technikers zu fesseln. Der erste dieser Vorschläge von Fowler, Wilson und Abernethy bezweckt die Einrichtung von möglichst vollkommenen Fähren zur Uebersetzung der Eisenbahnzüge. Hierzu sind vor Allem an beiden Küsten gut geschützte Häfen anzulegen, welche das sichere Ein- und Auslaufen, unabhängig von Wind und Wetter, zu jeder Zeit ermöglichen. Die Dampfschiffe, welche zwischen den beiden neuen Häfen laufen sollen, würden eine solche Größe und so starke Maschinen erhalten, daß man davon genügende Bequemlichkeit, auch bei stark bewegter See hofft und soll die Zeit der Ueberfahrt kaum eine Stunde betragen. In jedem der beiden Häfen wird eine große Halle von 140 Fuß Spannweite erbaut, unter welche das Schiff einläuft, um sowohl bei der Ankunft, als auch bei der Abfahrt genügenden Schutz gegen die Witterung darzubieten. Die Eisenbahnzüge werden zum Ausgleich der durch den Wechsel von Fluth und Ebbe erzeugten beträchtlichen Niveau-Differenz auf einer Plattform mittelst hydraulischer Pressen gehoben, resp. gesenkt und alsdann in der Mitte des Fährschiffes aufgestellt, in solcher Weise daß die Ueberführung des aus je 10 bis 12 Wagen bestehenden Zuges vom Hafengeleise auf die Schiffe und umgekehrt jeder Zeit leicht und binnen wenigen Minuten vollzogen ist. Die Kosten von Häfen, Fährschiffen und Eisenbahnen sind auf 2 Millionen Pfd. Sterl. veranschlagt. Binnen drei Jahren ließe sich das ganze Unternehmen verwirklichen. Es wäre alsdann die Zeit der Reise zwischen London und Paris auf 8 Stunden abgekürzt. Man brauchte während der ganzen Fahrt die Plätze nicht zu wechseln und könnte von Paris bis London in dem nämlichen Schlaf-Coupé verbleiben. Die Lastwagen sollen vom Kontinente in Audrecelles, von England aber in Dover zusammengeführt und in Zügen über den Canal gebracht werden, weßhalb man mindestens zehn solcher großen Fährschiffe in Aussicht genommen hat. Obgleich durch dieses Project eine wesentliche Verbesserung gegen den jetzigen Zustand geschaffen würde, so bleibt dabei doch noch viel zu wünschen übrig, namentlich wird das sehr ungemüthliche seitliche Schwanken des Schiffes, wegen der Längsströmungen im Canal, keinesfalls vermieden. Ein zweites, weit kühneres Project der Herren Bateman und Revy besteht darin, auf den Boden des Meeres quer durch den 180 Fuß tiefen Canal eine gußeiserne Röhre zu legen, welche als Eisenbahn-Tunnel zu dienen hat. Das gußeiserne Rohr, dessen ganze Länge etwa 4 1/2 Meilen betragen würde, besteht nach diesem Projecte aus einzelnen Ringen, je 13 Fuß lang mit Wandungen von 4 Zoll Dicke. Jeder einzelne Ring ist wiederum aus sechs gleichen Segmenten zusammengesetzt mit Flantschen zur Verschmutzung an einander und an die Nächstliegenden Ringe. Bei der Herstellung eines derartigen Rohres auf dem Boden des Canales in Tiefen bis 180 Fuß sind offenbar ganz außergewöhnliche Schwierigkeiten zu überwinden, namentlich dadurch, daß das Rohr von innen heraus gelegt werden muß, ohne daß man von außen irgendwie arbeiten kann. Die zur Lösung dieses Problemes construirten Vorrichtungen und Hülfsmaschinen sind sehr genial erdacht und verweisen wir den sich näher dafür Interessirenden auf die Beschreibung und Abbildungen in oben genannter Zeitschrift. Man glaubt, daß bei regelmäßigem Betriebe sich ein täglicher Fortschritt von 100 lauf. Fuß erzielen ließe, daß also die gegenüber liegende Küste binnen drei Jahren erreicht würde, welche Arbeitsdauer jedoch wegen der sehr langwierigen Vorbereitungen und wegen der unausbleiblichen Zufälle mindestens verdoppelt werden muß. Für den Locomotiv-Betrieb durch einen 4 1/2 Meilen langen Tunnel liegt offenbar die Hauptschwierigkeit in der Ventilation. Dieß führte zu dem naheliegenden Gedanken, die Locomotiven ganz wegzulassen, den zur Ventilation ohnedieß erforderlichen kräftigen Luftstrom noch um etwas zu verstärken und denselben als pneumatische Triebkraft für die Züge zu benutzen, wobei durch gänzlichen Ausschluß der Verbrennung im Tunnelrohre und durch beständige Circulation von frischer Luft jede Unzukömmlichkeit für die Reifenden beseitigt bleibt. Dieses Project, so interessant es auch ist, hat doch viele Bedenken erregt und würde, abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, durch ein solches Unternehmen bei einem Aufwande von 8 Millionen Pfd. Sterl. nur ein einziges Geleise auf 4 1/2 Meilen Bahnlänge geschaffen. Die Regierungs-Ingenieure beider Länder richteten daher ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise auf einen dritten Vorschlag, nämlich den der Herren Hawkshaw, Brunlees und Low, welcher dahin geht, einen Tunnel unter der Sohle des Canales durchzuführen. Auf Grundlage sehr sorgfältig angestellter Prüfung der geologischen Verhältnisse beider Küsten, dann vorgenommener Sondirungen und sonstiger Vorarbeiten ist das Project zu dem unterseeischen Tunnel wie folgt festgestellt: Die Bahn soll auf englischer Seite mit der Verbindung der London-Chatham-Dover Eisenbahn und der ebenfalls nach Dover führenden South-Eastern beginnen, dann 1 : 60 fallen, in der Nähe der Küste den tiefsten Punkt erreichen, dann bis zur Mitte des Canales, der Entwässerung wegen 1 : 5280 steigen, nach der französischen Seite ebenso sanft fallen, sodann aber mit 1 : 60 sich erheben, um in die französischen Bahnen nach Calais und Boulogne einzumünden. Die ganze Länge dieser englischfranzösischen Verbindungsbahn wird 7 Meilen betragen, davon 7/10 Meilen gewöhnlicher Bahn, 1 6/10 Meilen Tunnel unter dem Lande, 4 7/10 Meilen Tunnel unter der Meerenge. Der Tunnel, welcher etwa 230 bis 320 Fuß unter der Sohle des Canales liegen wird, soll das gewöhnliche Profil für zwei Geleise haben, das Mauerwerk überall 3 Fuß dick, in der Mitte ein ebenfalls gemauerter Entwässerungs-Canal für das etwa durchschwitzende Wasser seyn. Zum Zwecke der Ausführung will man zunächst in der Nähe der Küste je einen Schacht abteufen und von demselben ausgehend unter dem Meere zwei Stollen durchtreiben, welche (mit der Außenkante 34 Fuß von einander entfernt) beide in das Profil des definitiven Tunnels fallen. Die Kosten des ganzen Projectes sind auf 10 Millionen Pfd. Sterl. berechnet, von welchen 2 Millionen Pfd. Sterl. auf die Versuchsstollen entfallen. Man hofft den ganzen Bau in 9 bis 10 Jahren vollenden zu können. Obwohl die Chancen des Unternehmens nach allen Seiten mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit geprüft sind, läßt sich doch nicht verkennen, daß man hier vor einem Projecte steht, welches an Kühnheit und Großartigkeit Alles dasjenige überragt, was bisher auf dem Felde der Technik geleistet worden ist. In einer Zeit jedoch, welche uns die Dampfkraft unterthänig und für die riesigsten Leistungen dienstbar gemacht hat – in einer Zeit, welche die Verkehrsmittel vertausendfacht, und selbst bisher nur von Wilden durchstreifte Urwaldungen mit Eisenbahnen durchzogen hat – in einer Zeit, welche das rothe Meer mit dem mittelländischen Meer verbunden, den Niagarafall überbrückt und durch das unterseeische Kabel den momentanen Austausch von Mittheilungen zwischen Europa und Amerika ermöglicht hat: in solcher Zeit darf uns die Neuheit und Größe eines Unternehmens allein nicht von demselben zurückschrecken. Das zur Verwirklichung des Unternehmens gebildete internationale Consortium hat die Mitwirkung der Regierungen von England und Frankreich beantragt und zwar in Form einer 5procentigen Garantie auf je die Hälfte des für den Probestollen erforderlichen Kostenbetrages. Gegen diese auf 50 Jahre zu gewährende Garantie will das Consortium unter Aufsicht der Regierungen den Bau führen, und für den Fall, als der Versuchsstollen gelingt, den Regierungen das freie Verfügungsrecht über die Concessionirung der definitiven Bahn belassen. Die Regierungen beider Länder haben auch bereits umfassende Gutachten eingeholt, welche für das Unternehmen günstig lauten; ein definitiver Entschluß ist jedoch noch noch nicht erfolgt, steht aber im laufenden Jahre noch zu erwarten. Der englische Regierungs-Consulent Capt. Tyler empfiehlt überdieß, da vielleicht noch 10 bis 12 Jahre verfließen, bis der Tunnel wirklich prakticabel sey, andererseits aber bis dahin der Verkehr nicht unter den jetzigen Uebelständen leiden dürfe, für die Zwischenzeit eine bessere Schifffahrts-Verbindung etwa nach dem Projecte der Herren Fowler und Abernethy in Ausführung zu bringen. Hierin ist zugleich der Berührungspunkt gegeben, in welchem sich die drei anscheinend ganz divergirenden Projecte zusammenfinden können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man den Tunnel nach dem Projecte der Herren Hawkshaw und Talabot ausführen, den Betrieb nach dem von Bateman und Revy vorgeschlagenen System einrichten, und bis zur Verwirklichung dieses Unternehmens die Fähren von Fowler und Abernethy zur Ueberführung der Eisenbahnzüge benutzen. (Zeitung des Vereines deutscher Eisenbahn-Verwaltungen, 1870, Nr. 32.)