Titel: Meyer's Locomotive „Avenir.“
Fundstelle: Band 207, Jahrgang 1873, Nr. IV., S. 16
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IV. Meyer's Locomotive „Avenir.“ Meyer's Locomotive mit Doppel-Bogie. Die zu Brüssel erscheinende Chronique de l'industrie enthält folgende Beschreibung der von St. Cail gebauten und gegenwärtig auf der Grand Luxembourg – Eisenbahn laufenden Meyer'schen Locomotive „Avenir“: „Die Maschine besteht aus einem einzelnen Kessel gewöhnlicher Construction auf zwei Bogies, deren jede zwei Cylinder und vier gekuppelte Räder hat. Der Kessel dient in keiner Weise zur Transmission der Zugkraft von einer zur anderen Bogie oder von der Maschine zu den Wagen; er ruht auf den Bogies ohne Beihülfe eines besonderen Rahmens. Der vordere Support liegt unter dem Kesselbauche in der Mitte der vorderen Bogie, die zwei hinteren Supports auf jeder Seite der Feuerbüchse. Um den Bogies vollkommene Freiheit der Bewegung sowohl in horizontaler als auch senkrechter Richtung zu sichern, haben die drei Supports sphärische Träger, während die seitlichen Träger auf entsprechend angebrachten Platten gleiten. Durch diese Einrichtung haben die Unebenheiten des Schienenstranges nur eine geringe Wirkung auf die Federn und daher auch auf die Belastung der Räder. Die Maschine geht trotz der bedeutenden Länge durch scharfe Curven mit größter Leichtigkeit ohne Nachtheil für sich oder die Schienen. Der Kessel kann sich frei ausdehnen und zusammenziehen, da der Rahmen mit ihm nicht in Verbindung steht, wodurch die Platten einer Beschädigung nicht ausgesetzt sind. Der Regulator und die Umsteuerung sind so angebracht, daß der Führer nach Belieben eine oder beide Dampfbogies entsprechend der zu führenden Last oder der Steigung in Thätigkeit setzen kann. Der Dampf wird den Cylindern durch bewegliche Rohre zugeführt, deren relative Bewegung – in Folge der schwachen Bewegung in dem Centrum der Drehgestelle – sehr gering ist, so daß der Gebrauch von besonderen Nußgelenken ganz vermieden wird. Es reicht hin, an jedem Röhrenende gewöhnliche Stopfbüchsen anzubringen; diese benöthigen nur von Zeit zu Zeit eine Erneuerung der Hanf- oder Gummidichtung. Der gebrauchte Dampf wird in den Schornstein geführt durch eine allen vier Cylindern gemeinschaftliche Röhre, welche rückwärts an der vorderen Bogie angebracht ist und in den ausgehöhlten centralen Bogie-Balken mündet, wodurch das Dampfausströmen continuirlicher und regelmäßiger bei ausgezeichnetem Zug erfolgt. Die übrigen Theile der Maschine sind von dem gewöhnlichen Locomotiv-Typus. Es wird nur eine einzige Excenter-Bewegung angewendet – System Heusinger von Waldegg, verbessert von Walschaerts. Die Wasserkästen befinden sich auf der vorderen, die Kohlenbehälter auf der hinteren Bogie. Die Maschine hat Chatelier'sche und zwei Hand-Bremsen; Kessel und Bogies können behufs Reparatur leicht von einander getrennt und ihre Haupttheile mit jenen anderer ähnlicher Maschinen ausgewechselt werden. Die Dimensionen des „Avenir“ sind: Länge des Rostes   3 Fuß 8 15/16 Zoll =     1,142 Met. Breite   „       „   4 Fuß 9 15/16 Zoll =     1,472 Met. Flächenraum 18 Quadratfuß =     1,67 Quadratmet. Entfernung der Rohre von Mitte zu Mitte   0 Fuß 2 5/8 Zoll =     54 Millimet. Aeußerer Röhrendurchmesser   0 Fuß 1 15/16 Zoll =     0,0495 Met. Länge der Röhren 15 Fuß 10 Zoll =     4,826 Met. Heizfläche der Röhren, Mittel zwischen   innerem und äußerem Durchmesser 1552 Quadratfuß = 144,6 Quadratmet. Feuerbüchse-Heizfläche     92 Quadratfuß =     8,54 Met. Gesammte Heizfläche 1644 Quadratfuß = 152,6 Quadratmet. Mittlerer Durchmesser des Kessels 4 Fuß 7 1/8 Zoll =     1,4 Met. Wasser-Volum im Kessel 3 15/16 Zoll über   der Feuerbüchse-Decke 147,799 Kubikfuß =     4,18 Kubikmet. Dampfraum   90,58 Kubikfuß =     1,56 Kubikmet. Rad-Basis jeder Bogie     9 Fuß 6 1/8 Zoll =     2,898 Met. Gesammt-Rad-Basis   28 Fuß 9 13/16 Zoll =     8,783 Met. Gesammt-Gewicht der leeren Maschine   40,525 Tonnen. Gewicht von Wasser, Kohle etc.     7,0 Tonnen. Gewicht der arbeitenden Maschine   52,09 Tonnen. Durchmesser der Cylinder     0 Fuß 13 3/8 Zoll =     0,340 Met. Hubhöhe   21 5/8 Zoll =     0,550 Met. Raddurchmesser     4 Fuß 3 13/16 Zoll =     1,301 Met. Dampfdruck auf den Quadratzoll     156 Pfd. Theoretische Zugkraft 23670 Pfd. = 10736 Kil. Die Constructeure wählten zu ihrem Projecte eine Maschine von der Stärke der gewöhnlichen Achtkuppler, um den Einfluß der Kuppelung von vier Rädern gegenüber jener von acht Rädern zu erproben, namentlich aber den Grad der Reibung bei Curven von scharfer Krümmung (240–400 Met. Radius), worüber bisher wenige oder gar keine Erfahrungen existiren. Der „Avenir“ lief vom September an 34250 Meilen (55656,25 Kilomet.) auf verschiedenen Bahnen in Frankreich, der Schweiz und Belgien; seither regelmäßig auf der Luxemburger Eisenbahn zwischen Gemelle und Arlon, dem schwierigsten und steilsten Theile der Linie, 3575 Kilometer durchschnittlich per Monat. Er zog leicht 18 Waggons je zu 15 Tonnen Bruttogewicht, einen Bremswagen von 10 Tonnen oder 280 Tonnen bei einer Steigung von 1: 55,5 und 1: 63,3 mit einer Schnelligkeit von 9,25 Meilen (englisch) die Stunde = 15 Kilometer. Nimmt man den Widerstand des Zuges zu 4 Kilogrm. per Tonne, so ist der ganze Widerstand welcher an der Maschine angreift (bei einer Steigung von 1 : 55) 280 × 22 = 6160 Kil.; der Widerstand und die Wirkung der Schwere der Maschine von 52 Tonnen × 30 Kil. = 1560 hinzu, so ist der Gesammtwiderstand an dem Umfang der Räder 7720 Kil., entsprechend ungefähr einem Sechstel des Maschinengewichtes bei leeren Behältern oder 0,71 der theoretischen Leistungsfähigkeit. Die Gesammtleistung beträgt 422 Pferdekräfte, oder 0,257 Pferdekraft per Quadratfuß der Heizfläche. Man hat behauptet, daß die achträderigen gekuppelten Maschinen mit getrenntem Tender zwei Waggons mehr als der „Avenir“ ziehen. Das ist aber nur Maximal-Laft bei ausnahmsweise günstigen Bedingungen, denn dann wäre die Zugkraft am Räderumfang 1/4,9 des Adhäsion-Gewichtes von 46 Tonnen oder 9616 Kil., was nothwendigerweise ein Gleiten zur Folge hätte. Diese Arbeitsleistung von 9616 Kil. kann nur durch verstärkten Dampfdruck im Kessel und in den Cylindern erreicht werden. Selbst angenommen, die Adhäsion sey 1/6 – eine ziemlich allgemeine Annahme – so könnte die Zugkraft 7666 Kil. betragen, was bei einer Steigung von 1: 55,5 nach Abzug der Widerstände per 2596 Kil. bloß 5070 Kil. zur Bewegung des Zuges, folglich erst einem Train-Gewicht von 230 Tonnen entsprechen würde. So ist daher der „Avenir“ der achträderigen gekuppelten Maschine an Zugkraft und Nutzeffect überlegen, was schlagend aus dem Verbrauche an Brennmaterial bewiesen wird, der bei dem „Avenir“ 71 Pfund als Maximum per Zugmeile, bei der anderen Maschine 88 Pfund beträgt, trotzdem die Heizfläche des „Avenir“ nur 1644 Quadratfuß gegen 2131 Quadratfuß der anderen Maschine beträgt. Auch kann der „Avenir“ seine Schnelligkeit bedeutend erhöhen; während die anderen Maschinen nur 15 1/2 Meilen (25,18 Kilomet.) per Stunde (im Mittel nur 12 1/2 Meilen, 20,3 Kilomet.) leisten, durchläuft der „Avenir“ 22 bis 28 Meilen (35,51 bis 45,5 Kilomet.) per Stunde mit Sicherheit; in einem Falle sogar 50 Meilen (81,25 Kilomet.) mit einem gemischten Zuge. Der „Avenir“ hat 34000 Meilen, 55250 Kilomet. durchlaufen, und ist zwei Jahre in Verwendung, ohne Ausbesserungen zu bedürfen, nur die Stopfbüchsen der Dampfrohre erforderten frische Packung. Die Tyres der vorderen Bogie wurden noch nicht, jene der hinteren nach 20000 Meilen (32500 Kilomet.) abgedreht; letzteres wurde aber nur durch eine zufällige Verletzung durch die Bremsbacken nöthig. Die kleineren Auslagen für die Instandhaltung sind nur wie für eine sechsräderige Maschine. Die Vorzüge des „Avenir“ gegenüber einer achträderigen gekuppelten Maschine sind daher: 1) größerer Nutzeffect in der Zugkraft; daher 2) eine bedeutende Ersparniß an Brennstoff (bis 20 Procent); 3) geringere Abnutzung im Allgemeinen wegen verminderter Reibung; 4) die Leichtigkeit, wodurch eine größere Schnelligkeit angewendet werden kann; 5) größere Sicherheit wegen vermehrter Stabilität; 6) größere Ersparniß in den Anlagekosten, da der „Avenir“ nur wenig mehr als eine achträderige gekuppelte Maschine sammt Tender kostet und 50 Procent mehr leistet.“ Soweit das obengenannte Journal. Meyer und Fairlie befürworten beide das System der zwei Bogies und theilen die Räder in zwei Gruppen, deren jede von einem selbstständigen Cylinderpaare getrieben wird. Hier endet aber auch die Aehnlichkeit beider Systeme und in allen Einrichtungen welche das System der Doppel-Bogie praktisch machen, hat Fairlie's System entschieden den Vorzug.Man sehe Gebauer's Bericht über das Fairlie'sche Locomotiv-System, im polytechn. Journal Bd. CXCVI S. 392; ferner die Mittheilung über neuerliche Versuche mit diesem Locomotiv-System in Bd. CCIII S. 166. Eines der Haupterfordernisse für Maschinen von großer Arbeitsleistung ist ein großer Kesselraum; Fairlie benutzt dazu zwei Kessel die von einer centralen Feuerbüchse sich nach beiden Seiten erstrecken, Meyer nur einen von großen Dimensionen. Nun hat aber die Fairlie'sche Maschine für die mexicanische Eisenbahn 44 Quadratfuß = 4,98 Quadratmeter Heizfläche mehr als der „Avenir“ und doch sind die Röhren nur 11 Fuß (3,35 Meter) lang und der Kessel hat nur 3 Fuß 10 3/4 Zoll (1,187 Met.) Durchmesser. Daher wird die Wasserhöhe über der Feuerbüchse bei einer Kesselneigung nicht beeinflußt, während bei dem langen Kessel von Meyer das Fallen und Steigen des Wassers an einem Ende große Nachtheile mit sich bringt. Die Länge der Feuerbüchse ist bei Meyer's System durch ihre Lage auf der hinteren Bogie beschränkt, nicht so bei Fairlie's System. Aus der Lage der Feuerbüchse folgt ferner, daß sie bei Meyer's System zu niedrig ausfallen muß und daher nicht die nöthige Capacität haben kann. Bei Fairlie's System wird das ganze Gewicht des Kessels, der Behälter u.s.w. direct auf die Mitte der Bogies übertragen und folglich die Last auf die Räder gleich vertheilt, daher die Abnutzung der Tyres geringer. Nicht so bei Meyer's System. Hier ist der Kessel nur an drei Punkten unterstützt; die Verbindung der beiden Bogies wird durch eine lange Verbindungsstange bewerkstelligt, statt direct zu seyn, und durch Nothketten gesichert, wodurch die Freiheit in der Bewegung beeinträchtigt wird. Die Dampfrohre bei Meyer's Maschine sind schwer zugänglich; ebenso die Kolben. Zwei Fairlie-Maschinen, jede fast von gleichem Gewichte wie Meyer's Locomotive, gestatten Vergleichungen beider Systeme. Der „Avenir“ entwickelt nur drei Viertel der Pferdestärke der Tamboff-Saratoff-Maschine, wobei noch bemerkt werden muß, daß die Fairlie-Maschine Holzheizung hatte und die Bahn bei Thauwetter in einem elenden Zustande war. Die andere Fairlie-Maschine, welche mit dem „Avenir“ zu vergleichen ist, ist eine der mexicanischen Maschinen auf dem Grange-Colliery-Zweige der Manchester-Sheffield- und Lincolnshire-Eisenbahn. Diese Maschine schob 367 1/2 Tonnen bei einer Steigung von 1 : 32, wogegen jene Leistung des „Avenir“, 280 Tonnen bei einer Steigung von 1 : 55 1/2, unbedeutend ist. (Engineering vom 22. November 1872; Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines, 1872 S. 436.)