Titel: Th. Ricour's Kolbenschieber für Locomotiven.
Autor: Müller-Melchiors
Fundstelle: Band 255, Jahrgang 1885, S. 453
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Th. Ricour's Kolbenschieber für Locomotiven. Mit Abbildungen auf Tafel 32. Ricour's Kolbenschieber für Locomotiven. In den Annales des Mines, 1884 Bd. 6 S. 7 bis 70 gibt Th. Ricour einen eingehenden Bericht über die Einführung von Rundschiebern auf den Locomotiven der französischen Staatsbahnlinie Clermont-Tulle, einer an Krümmungen reichen Gebirgsbahn, welche mit Steigungen bis zu 25 : 1000 das Hochland der Auvergne durchschneidet. Auf den langen Gefällen wird vielfach mit Gegendampf und Lechatelier's Apparat (vgl. 1866 181 73. 1870 195 * 8), oder auch mit vorwärts ausgelegter Steuerung und geschlossenem Regulator gefahren, wobei eine auſsergewöhnlich starke Abnutzung der Schieber und schwerer Gang der Maschinen nachgewiesen worden sein soll. Dies gab den Anlaſs zu einer eingehenden Untersuchung aller hier zur Geltung kommenden Faktoren und führte in dem weiteren Verfolge zu einer vollständigen Umgestaltung der inneren Steuerung, deren Nothwendigkeit vielleicht nicht durchaus begründet scheinen wird, welche aber als in sich geschlossenes Ganzes und durch mehrjährige Praxis bewährt alle Beachtung verdient. Betrachtet man die Vorgänge im Locomotivcylinder, beim Abwärtsfahren mit ausgelegter Steuerung und geschlossenem Regulator, so ergibt sich, daſs bei jedem Kolbenhube nicht bloſs der vor dem Kolben befindliche Raum, dem normalen Gange der Steuerung entsprechend, mit der Ausströmung in Verbindung steht, sondern auch der hinter dem Kolben evacuirte Cylinderraum mit der Ausströmung zweimal in Verbindung tritt: das erste Mal kurz vor dem Hubende, wenn bei Dampfarbeit die Voraus Strömung beginnt, hier aber, da ja hinter dem Kolben bei geschlossenem Regulator ein luftverdünnter Raum geschaffen wurde, eine kurze Einströmung aus der Rauchkammer in den Cylinder eintreten muſs; das zweite Mal nach erfolgter Umkehr des Kolbens während der Dampfzulassung, wo sich das hinter dem Kolben gebildete Vacuum in den Schieberkasten fortpflanzt, hier ein Abklappen des Schiebers veranlaſst und so abermals das Einströmen des Rauchkammerinhaltes in den Cylinder ermöglicht. Eine Folge dieses stoſsweisen Einsaugens der im Rauchkasten befindlichen Verbrennungsproducte sind die Ablagerungen einer mehr oder weniger fest zusammengebackenen schwarzen Masse, welche nach den a. a. O. angeführten Analysen zu 70 bis 90 Proc. aus Kohlenstoff, ferner zu 4 bis 10 Proc. aus Fettrückständen und endlich aus Eisenoxyd und Kupferoxyd, den Ergebnissen der Schieberabnutzung, besteht; dieselbe lagert sich – oft einen vollständigen Kuchen bildend – an den Cylinderdeckeln an, sowie im Ausströmrohre, besonders stark an den scharfen Abbügen – wie aus Fig. 6 Taf. 32 hervorgeht –, endlich aber auch in den Kanälen und beeinträchtigt hierdurch unmittelbar die Dampfvertheilung. Der wesentlichste Nachtheil des Einsaugens von Heizgasen in den Cylinder ist jedoch die hierdurch bedingte Verunreinigung und riefenartige Abnutzung des Schiebergesichtes, zuweilen auch des Kolbenlaufes, welche den dichten Schluſs beeinträchtigt und die Reibung unter Umständen auſserordentlich erhöht. Endlich führt Riconr in seiner Abhandlung noch an, daſs nur in Folge der auſsergewöhnlichen Erwärmung des Cylinders, welche durch die eingesaugten Heizgase eintritt, die Anwendung der leicht verdampfenden mineralischen Schmieröle für die Locomotivcylinder nicht platzgreifen kann, während dieselben sowohl wegen der Billigkeit, als der viel geringeren Rückstände halber weit vorzuziehen wären. Alle diese Uebelstände, deren Auftreten bei der betreffenden Linie festgestellt wurde und die in wechselndem Maſse bei allen unter ähnlichen Umständen arbeitenden Locomotiven nachgewiesen werden dürften, können bekanntlich dadurch gemildert und vielleicht ganz behoben werden, wenn dafür gesorgt wird, daſs auch beim Vorwärtsfahren – unter dem Einflüsse der Schwere oder der erlangten Geschwindigkeit – mit geschlossenem Regulator der Schieberkasten eine geringe Dampfmenge zugetheilt erhält. Selbstthätig geschieht dies schon durch die unvermeidliche Undichtheit des Regulators, sowie aller Dichtungen; endlich dient auch die Undichtheit der Cylinderausblashähne zum Herabdrücken der hinter dem Kolben entstehenden Luftleere; vollkommen wirksam aber erfolgt ein mäſsiger Dampfzuschuſs durch ein geringes Oeffnen des Regulators oder seines Hilfsschiebers und, wenn die Maschine eine mit Dampfhahn ausgerüstete Centralschmierung besitzt, durch diese. Um aber jedes Ansaugen von Heizgasen, auch ohne Eingreifen des Führers, unmöglich zu machen, brachte Ricour ein besonderes Luftventil an das Einströmrohr an, welches sich selbstthätig öffnet, sowie ein Vacuum im Cylinder eintritt und bei einem Querschnitte von 80mm Durchmesser einen reichlichen Luftzuschuſs in den Cylinder einläſst. Dieses Ventil, welches in Fig. 1 Taf. 32 dargestellt ist, arbeitet seit etwa 2 Jahren auf 36 Maschinen der betreffenden Linie und es ist erwiesen, daſs seit dessen Anwendung die Schieber in einem weitaus besseren Erhaltungszustande bleiben, daſs die Ablagerungen von Kohlentheilchen in Cylindern, Ausströmrohren von 1 bis 2k im Monate auf ebenso viel Gramm vermindert wurden und daſs man endlich mit allem Erfolge auf die Mineralölschmierung übergehen konnte. Als wichtigste Folge der Anwendung dieses Luftventiles muſs uns jedoch die Thatsache erscheinen, daſs bei dessen Anwendung zum ersten Male die Kolbenschieber zur dauernden Bewährung beim Locomotivbetriebe gelangt sind. Die bekannte Thatsache, daſs sich der Kolbenschieber trotz mannigfacher Versuche – als letzten derselben erwähnen wir die Zimmermann'sche Locomotive auf der Pariser Ausstellung 1878 – und ungeachtet des Vortheiles seiner völligen Entlastung nirgends dauernd einbürgern konnte, erklärt Ricour lediglich aus den Eingangs erörterten Vorgängen beim Fahren mit geschlossenem Regulator, welche hier noch dadurch erschwert werden, daſs während der Dampfzulassung kein Abheben des Schiebers erfolgen kann, hierdurch ein viel höheres Vacuum und bei der „Vorausströmung“ ein viel kräftigeres Nachströmen der Verbrennungsproducte in den Cylinder erfolgt. Und da die Kolbenschieber gegenüber den durch einen äuſseren Druck von mehreren Tausend Kilogramm belasteten Flachschiebern selbstverständlich weitaus empfindlicher gegen jede Verletzung der Schleifflächen sind, so erscheint es ganz annehmbar, daſs Uebelstände, welche sich im allgemeinen Betriebe gerade nicht so fühlbar machen, als sie von Ricour auf seiner Linie nachgewiesen wurden, dennoch für Bewährung oder Verwerfung des Kolbenschiebers ausschlaggebend werden. Dabei muſs noch hervorgehoben werden, daſs der Schieberkolben unter weitaus ungünstigeren Verhältnissen arbeitet wie der Dampfkolben im Cylinder, da einerseits seine Kolbengeschwindigkeit wesentlich geringer und der mittlere Druckunterschied zu beiden Seiten des Kolbens um das 2 bis 3fache gröſser ist. Die Schieberkolben-Construction, welche Ricour für die Maschinen seiner Strecke erdacht hat und die bis jetzt bei 7 Maschinen, darunter schwere Achtkuppler, ausgeführt ist, findet sich in Fig. 1 bis 5 Taf. 32 dargestellt. Statt einfacher Spannringe, welche für gewöhnliche Ausführungen wohl vorzuziehen wären, ist hier ein umständlicheres System gewählt, welches den Zweck hat und thatsächlich auch erfüllt, bei geschlossenem Regulator jede Reibung zwischen Kolbenschieber und dessen Lauffläche aufzuheben. Daſs dieser feine Mechanismus im Inneren des Dampfcylinders überhaupt dauernd gangbar erhalten werden kann, ist lediglich der Anwendung von Mineralschmieröl und der vollständigen Sicherung gegen jedes Eindringen von Heizgasen zu danken* die gewöhnlich in unseren Locomotivcylindern sich anhäufenden Ablagerungen würden einen derartigen Mechanismus nach kurzer Zeit auſser Dienst setzen. Das Wesen des Ricour'schen Kolbenschiebers besteht in den federnden Dichtungsringen, welche derart angeordnet sind, daſs sie beim Kaltfahren an dem Schiebermantel nicht anliegen. Erst wenn Dampf ins Innere des Schieberkastens eintritt und in den Raum m zwischen Dichtungsring und Schieberkolbenkörper gelangt (Schnitt links in Fig. 2), wird der Ring ausgedehnt und zum dichten Anliegen an die Mantelfläche gebracht. Der in Fig. 3 angedeutete Ring, der aus einem geschlitzten Bande mit einem nach innen vorstehenden Steg besteht, hat im freien Zustande einen Durchmesser, der um einige Zehntel Millimeter kleiner ist wie die Bohrung des Schiebergesichtes. Derselbe muſs in den aus zwei Hälften (Fig. 4 und 5) gebildeten Kolbenkörper derart eingebracht werden, daſs der Steg, welcher als Mitnehmer dient, noch so viel seitliches Spiel besitzt, um die Ausdehnung oder Zusammenziehung des Ringes nicht zu hindern, während die beiden Hälften des Kolbenkörpers durch die zwei in den Zeichnungen ersichtlichen Schrauben fest zusammengespannt und auf der Schieberspindel durch Bund und Mutter befestigt werden. Da nun der Dichtungsring beim Kaltfahren weder mit seiner inneren Fläche am Kolbenkörper, noch mit der äuſseren am Schiebergesichte aufliegen soll, wird er mittels drei kleiner von Spiralfedern gespannter Buffer centrirt (vgl. Fig. 5). Von denselben sind zwei Stück cylindrisch geformt und dienen lediglich zum Centriren; der dritte (vgl. auch den Querschnitt Fig. 1) hat rechteckigen Querschnitt und dichtet mit seinem äuſseren Mantel die Innenfläche des Ringes ab, an der Stelle, wo letzterer geschlitzt ist. Zur Verhinderung einer Verdrehung des Ringes dient ein Stift, welcher diametral gegenüber dem Dichtungsbuffer s und dem von ihm überdeckten Schlitze angeordnet ist (vgl. Fig. 1). Die Federn der Buffer sind nun so mäſsig gespannt, daſs sie allein die Federkraft des Ringes nicht zu überwinden vermögen und denselben daher frei schwebend zwischen Kolbenkörper und Schiebergesicht erhalten* letzterer Zwischenraum ist aber so klein, daſs hier beim Dampfeintritte in den Schieberkasten keine volle Spannung auftritt und der Ring daher unter der überwiegenden, von innen auftretenden Spannung aufgetrieben und zum dichten Anliegen an das Schiebergesicht gebracht wird. Nachdem aus Vorstehendem die Wirkungsweise des Ricour'schen Kolbenschiebers klar hervorgeht, erübrigen nur noch einige Mittheilungen betreffs der praktischen Durchführung. Der wichtigste Theil der neuen Construction, der Dichtungsring, wurde mit besonderer Sorgfalt im Betriebe beobachtet. Derselbe wird aus Guſseisen hergestellt und bewegt sich in einer eingepreſsten Büchse, gleichfalls aus Guſseisen, welche das Schiebergesicht bildet- den Einströmkanal unterbrechen schief gestellte Rippen (vgl. Fig. 2 rechts), um jede Veranlassung zur Bildung von Riefen zu vermeiden. Die Oberflächen beider Theile sind bei 2jährigem Betriebe, während dessen eine Maschine 70000km zurücklegte, ohne jede sichtbare Verletzung und vollständig blank geblieben- die durch Abwägen nachgewiesene Materialverminderung betrug im Durchschnitte aller 7 Maschinen etwa 2g für 1000km, so daſs bis zu- einer Verminderung der Wandstärke des Ringes um 1mm die Maschine 136000km zurücklegen könnte. Vergleicht man damit die Abnutzung eines gewöhnlichen Flachschiebers, welcher bei Locomotiven im Durchschnitte etwa 20000km für 1mm Abnutzung lauft, so erscheinen die Angaben Ricour's über den ökonomischen Erfolg seiner Neuerungen vollkommen berechtigt. Er beweist durch zahlreiche vergleichende Versuchsfahrten, über welche a. a. O. alle wichtigen Mittheilungen gegeben werden, daſs seine umconstruirten Maschinen bei gleichem Wasser- und Kohlenverbrauch eine um 16 Proc. erhöhte Nutzleistung erzielen lassen. Müller-Melchiors.

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Tafel 32