Titel: Bemerkungen über die heutigen Kriegswaffen.
Fundstelle: Band 281, Jahrgang 1891, S. 148
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Bemerkungen über die heutigen Kriegswaffen. (Schluss des Berichtes S. 126 d. Bd.) Mit Abbildungen. Bemerkungen über die heutigen Kriegswaffen. 2. Feldgeschütze. Eine Besprechung der heutigen Feldgeschütze kann nicht in der Weise stattfinden, wie es bei den Gewehren möglich war, denn ihre Constructionen sind nicht neu, sind vielseitig bekannt und haben wenig Aussicht, noch lange beibehalten zu werden. Letzteres wird in treffender Weise im Journal of the Royal United Service Institution vom April 1891 ungefähr in folgender Weise besprochen: Die meisten Geschütze sind wirklich veraltet. Die Einführung einer neuen Construction durch eine der grossen Continentalmächte würde wahrscheinlich das Signal zu einer gänzlichen Umgestaltung der Feldartillerie der Welt geben und eine solche Erneuerung (deren Vorzeichen sich schon in Frankreich gezeigt haben [„already foreshadowed“]) wird dann wahrscheinlich sofort stattfinden, wenn das rauchlose Pulver allgemein und endgültig für Geschütze angenommen sein wird. Vorläufig scheinen die Staaten noch die ernsten Ausgaben zu scheuen, welche die Neuanfertigung eines riesigen Artilleriematerials mit sich führen würde. Es haben indess einige Verbesserungen stattgefunden, als deren hauptsächlichste die endgültige Einführung von Brisanzgranaten in Frankreich und Deutschland anzusehen ist; in Oesterreich-Ungarn ist die Benutzung dieser mit einem heftig explodirenden Sprengstoffe geladenen Hohlgeschosse für den Kriegsfall vorbereitet. Die französische Brisanzgranate soll mehr für eine minenartige Wirkung construirt sein, dünne Wände haben, um eine grosse Sprengladung aufzunehmen, die deutsche mehr auf eine Wirkung durch Sprengstückchen berechnet sein. Die Füllung wird in Frankreich „Mélinite“ genannt, in Deutschland dient dazu jetzt nach einer Angabe in Streffleur, XXXII Bd. 2 Heft 5, Pikrinsäure, Trinitrophenol von der Zusammensetzung: C6H2(NO2)3OH. Diese Verbindung ist nur durch einen sehr heftigen Schlag bei der Entzündung zur Explosion zu bringen; es haben wahrscheinlich die bei Dynamit oder Schiessbaumwolle gebrauchten Kapseln nicht ausgereicht (vielleicht auch nicht den Stoss der Pulvergase im Rohre ausgehalten) und scheint die Erfindung eines solchen „Detonateurs“ viele Schwierigkeiten hervorgerufen zu haben. (Die in den Zeitungen veröffentlichten Nachrichten über die Turpin-Triponé-Affaire in Paris ergeben in sehr klarer Weise die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des Melinits.) Beide Granaten haben den Zweck, Mannschaften hinter Deckungen (Erde, Mauern u.s.w.) ausser Gefecht zu setzen. Die französische soll die Deckung zerstören und so den Aufenthalt schutzlos machen, die deutsche die Deckung durchschlagen, dann platzen und durch unzählige Sprengstückchen nach allen Seiten, auch nach rückwärts, wirken; letzteres ist deshalb möglich, weil die Sprengstückchen bis 800 m Geschwindigkeit durch die Sprengladung erhalten, also vielmehr, als die Endgeschwindigkeit der Granate vor dem Einschlagen betrug. Dieses heftige Bestreben der Sprengstücke, aus einander zu gehen, soll auch dazu dienen, von oben Mannschaften hinter hohen, steilen Brustwehren zu treffen, wenn die Flugbahnen der Sprengstücke und Kugeln eines Shrapnels für diesen Zweck zu sehr gestreckt sein würden. Es ist also theilweise die Granate angefertigt, um von der Einführung eines besonderen Mörsergeschützes, welches Geschosse mit grossem Einfallwinkel wirft, Abstand nehmen zu können. Nach einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung hat die Firma Krupp am 2. und 3. October 1890 einer grösseren Anzahl von Officieren verschiedener Staaten zwei neue Feldgeschütze von 7,5 und 8 cm Kalibergrösse vorgeführt, welche Verbesserungen gegen die bisher gebräuchlichen zeigten. Ersteres Geschütz hatte im März 1890 bei einem Vergleichsversuche in Chile über eine 8 cm-Kanone von de Bange den Sieg davon getragen. Aus nachstehenden Zahlen lassen sich die hauptsächlichsten Verbesserungen entnehmen: Krupp'sche Geschütze Franz. Feld-geschütz-M. 77 7,5 cm 8 cm 8 cm Rohrgewicht                              k 450 410 430 Laffetengewicht                         k 450 530 540 Gesammtgewicht                       k 760 940 970 Geschossgewicht (Granate)       k          5,85     7       5,6 Querschnittsbelastung               g            1,329           1,393           1,114 Anfangsgeschwindigkeit           m 442 500 490 Sprengstücktrefferin Colonnenschei-ben auf 2000 m pro Granatepro Shrapnel   80162   81191 Rohrlänge in Kalibern L. 28 L. 26 L. 28,5 Enddrall     „        „     25     25       25,58 Trotzdem das Krupp'sche 8 cm-Geschütz leichter als das französische ist, gibt es seinem, um ¼ schwereren Geschoss eine grössere Anfangsgeschwindigkeit. Die Arbeitsleistung des Geschützes von Krupp ist mithin ganz erheblich gesteigert. Ein Treffähigkeitsversuch auf grösseren Entfernungen müsste die bedeutende Ueberlegenheit des Geschosses mit der ganz erheblich gesteigerten Querschnittsbelastung ergeben. Die Sprengstücktreffer der im Beisein der Commission nach einander abgegebenen Schüsse bezeugen auch eine gute Geschosswirkung. Die Gesammtwirkung scheint indess noch nicht so gesteigert zu sein, dass sie einen der grossen Staaten zur Einführung dieser Geschütze zwingen könnte. Das Militär-Wochenblatt bemerkt zu den angedeuteten Versuchen: „Die Leistungen der neuesten Modelle übertreffen unser eingeführtes Geschütz nur unwesentlich; der Fortschritt ist im Vergleich zu dem bei Einführung des Materials C. 73 (in Deutschland) gemachten ein verschwindender.“ Dieses Urtheil wird vielleicht durch die Thatsache gemildert, dass bei dem „Material C. 73“ eine ganz bedeutende Verbesserung der Wandconstructionen der Geschosse eingeführt werden konnte, welche eine Vermehrung der Sprengstücke der Granaten um das Doppelte und Dreifache und eine Vergrösserung der Zahl der Füllkugeln eines Shrapnels ermöglichte. Eine entsprechende Erfindung stand aber jetzt der Krupp'schen Fabrik für die Geschosse vielleicht nicht zu Gebote. Da deren Geschütze wahrscheinlich zu einer Zeit construirt wurden, als das rauchlose Pulver noch wenig erkannt war, so ist die erreichte Geschwindigkeit der Geschosse von 500 m doch vielleicht steigerungsfähig. Wenn die Gewehre über 600 m Anfangsgeschwindigkeit liefern und andere Geschützarten bis 800 m und darüber, warum sollten denn die Feldgeschütze nicht auf 600 m und mehr gebracht werden können? Vielleicht liesse sich eine Rohrverlängerung, welche die eigenthümliche Wirkungsweise des rauchlosen Pulvers unterstützen würde, ohne bedeutende Gewichtsvermehrung bewerkstelligen, wenn das Verschlusstück des Rohres lediglich mit Rücksicht auf Haltbarkeit construirt und alles zu anderen Zwecken vorhandene Material weggenommen würde und wenn die Laffete in einer besonders erleichterten Construction herstellbar wäre. Bei der Steigerung der Wirkung der Feldgeschütze im Allgemeinen muss indess eins im Auge behalten werden. Es ist die Rücksicht auf die Shrapnelwirkung. Das Shrapnel, also das mit Kugeln gefüllte, in der Luft vor dem Aufschlage platzende Hohlgeschoss ist noch immer das Hauptgeschoss gegen lebende Ziele. Wenn das Kaliber verkleinert würde, so müsste das Geschoss verlängert und vielleicht der Drall noch steiler gemacht werden (letzteres wäre an und für sich in Folge der Wirkung des rauchlosen Pulvers leicht auszuführen). Damit würde der zur Aufnahme der bisherigen Kugelzahl erforderliche Raum möglicher Weise doch nicht erzielt, jedenfalls aber die Ausbreitung der Sprengpartikel nach erfolgtem Platzen in der Luft eine sehr ungünstige werden. (Die Bahnen, welche die Kugeln und Sprengstücke eines geplatzten Shrapnels nehmen, würden sich mit den Wegen der Wassertropfen einer Giesskanne oder einer schräge gestellten Brause vergleichen lassen, wenn das Geschoss sich nicht um seine Längenachse drehte. Denkt man sich nun die Brausenöffnung, während das Wasser ausströmt, in starker Rotation um die Rohrachse begriffen, so ergibt das Durcheinander der Wassertropfen ein Bild der Wege der Sprengpartikel eines stark rotirenden Shrapnels. Der Raum, welchen sie durchsausen und unsicher machen, ist durchaus nicht mehr einem „hornförmig gekrümmten Kegel“ zu vergleichen, er ist ganz unberechenbar und für eine intensive Wirkung gegen ein Ziel von beschränkter Ausdehnung zu gross.) Eine Verkleinerung des Kalibers, für welche beim Gewehr nur schwer die Grenze zu finden ist, wird beim Feldgeschütz also wahrscheinlich durch die Sprengwirkung des Shrapnelgeschosses fest begrenzt und so ist es erklärlich, dass eine umsichtige Geschützfabrik sich hütet, ein 6 cm-Feldgeschütz vorzuführen. In Bezug auf weitere Verbesserungen der Feldgeschütze würde zu erwähnen sein, dass bei den von der Krupp'schen Fabrik vorgestellten das (rauchlose) Pulver in Hülsen von Gelbmetall gefüllt war, welche ähnlich wie die Patronenhülsen der Infanteriegewehre die gasdichte Absperrung des Laufes gegen den Verschluss bewirken sollten. Textabbildung Bd. 281, S. 150Fig. 3.Richten der Geschütze bei verdecktem Ziele. An diesen Geschützen befand sich ausserdem eine Bremse, welche den Rücklauf beim Schusse wesentlich verringerte. – In Frankreich, der Schweiz und wahrscheinlich noch in anderen Staaten ist bereits eine Fahr- und Schussbremse eingeführt, deren sinnreiche Einrichtung Erwähnung verdient. Bei abgeprotzt gedachter Laffete befindet sich hinter jedem Rade ein Bremsklotz, welcher durch einen drehbaren, aus >-förmig stehenden Stahlstangen gebildeten Arm an der nächsten Laffetenwand befestigt ist. Jeder Klotz kann durch ein Seilstück, welches um die (sich drehende) Metallnabe des zugehörigen Rades geschlungen ist, dicht an den Radreifen herangezogen werden. Die vorderen Enden der Seilstücke sind an einer der Achse parallelen Stange befestigt, welche nach vorwärts und rückwärts beweglich ist und (beim Fahren) festgestellt werden kann. Durch das Beharrungsvermögen bei dem Rückstosse eines Schusses schlagen die Bremsklötze gegen die Räder, während die Stange die Seilstücke anzieht, die Reibung derselben auf der sich drehenden Nabe hält dann die Klötze zum Bremsen fest. Es wird also bei dieser (Lemoine-) Bremse die Steifigkeit und Reibung der Seile in ähnlicher Weise benutzt, wie es bei den Tauen geschieht, welche, um einen Pfahl geschlungen, zum Festhalten eines Schiffes dienen sollen. In Russland soll zur Beschränkung des Rücklaufes ein Pflugschareisen am Laffetenschwanz angebracht worden sein, eine Maassregel, die anzudeuten scheint, dass es nicht zweckmässig war, die auf dem Boden gleitende untere Fläche des Laffetenschwanzes glatt zu machen. Textabbildung Bd. 281, S. 150Fig. 4.Doppelfernglas mit Spiegelgläsern. Der Gebrauch der Feldgeschütze ist, um die Wirkung des verstärkten feindlichen Feuers zu schwächen, vielfach ein anderer als früher geworden. Während sich früher die Feldartillerie nur so aufstellte, dass sie direct auf das Ziel richtete, scheinen in neuerer Zeit dahin Bestimmungen getroffen worden zu sein, dass sie auch Aufstellungen hinter Deckungen nehmen kann. Um die Geschütze einzurichten, sind dann besondere Maassregeln zu ergreifen. In der Revue d'Artillerie vom Juni 1890 ist ein zweckmässig erscheinendes Verfahren angedeutet, wie ein Mann im Stande ist, Geschützen die ihnen nicht sichtbaren Zielpunkte anzugeben, wenn sie hinter einer Bergkuppe Stellung nehmen. Er muss dazu mit einem Instrumente ausgerüstet werden, welches ihm erlaubt, beides, Ziel und richtendes Geschütz, gleichzeitig anzusehen und mit einander in Verbindung zu bringen; er begibt sich mit dem Instrumente an eine Stelle zwischen beiden (s. Fig. 3) und sucht den Punkt auf, wo beide sich im Instrumente decken, dann bleibt er stehen, gibt ein Zeichen und wartet, bis das Geschütz auf seine Person eingerichtet ist, oder er bezeichnet den Punkt mit einem in den Boden gesteckten Stabe und geht dann weiter. Als Instrumente sind Spiegel- und Prismeninstrumente angegeben; eins erscheint besonders erwähnenswerth. Es besteht aus zwei mit dem Rücken unter 90° gegen einander stehenden Spiegelgläsern, welche so vor ein Doppelfernglas befestigt sind, dass jedes Auge ein anderes Spiegelbild sieht. Wenn in diesem Instrument Zielpunkt und Geschütz in einer Lothrechten zu liegen scheinen, dann steht es in der Verbindungslinie beider. Das Instrument soll auch ohne Doppelfernglas zu gebrauchen sein. (Fig. 4.) Wenn die Geschütze gedeckt stehen, so werden häufig besondere Maassregeln getroffen werden müssen, damit ein Beobachter die eigenen Schüsse beobachten kann. In Belgien ist zu dem Zwecke bei den Batterien eine besondere Standleiter eingeführt. Textabbildung Bd. 281, S. 150 Fig. 5.Bremsvorrichtung an Geschützen. 3. Belagerungs-, Festungs-, Küsten- und Schiffsgeschütze. Für die eigentlichen im Gebrauch befindlichen Festungs- und Belagerungsgeschütze gilt zum Theil dasselbe, was von den heutigen Feldgeschützen zu sagen war. Die Geschütze selbst sind nicht wesentlich verändert, die Einführung des neuen, rauchschwachen Pulvers scheint in Vorbereitung zu sein und wird wahrscheinlich die Leistungen stark erhöhen und die Art des Schiessens beeinflussen. Die Geschosswirkung indess ist durch die Einführung langer, mit sehr brisanter Sprengmasse gefüllter Hohlgeschosse so gesteigert worden, dass die Widerstandsfähigkeit älterer Festungsbauten fraglich geworden ist und der Festungskrieg ganz andere, noch durchaus nicht festgestellte Formen annehmen muss. Besonders mächtig ist die Wirkung der in hohem Bogen durch Mörser und Haubitzen geworfenen Hohlgeschosse geworden; um einigen Widerstand dagegen zu leisten, müssen die Gewölbe nach dem System Monnier gebaut werden. In umfangreicherer Weise als bisher scheint man Geschütze durch Eisenpanzer sichern zu wollen. Von den Verbesserungen älterer Belagerungs- und Festungsgeschütze würde die Einführung einer hydraulischen Schussbremse in Russland und einigen anderen Staaten anzuführen sein. Um den Rücklauf zu begrenzen und aufzuheben, legte man dort früher lange (Hemm-)Keile hinter die Geschützräder. Die eigenthümliche Wirkung des Rückstosses verlangte aber oft ein weites Zurücklegen dieser Keile und damit eine lange Bettung als Geschütz- aufstellungsort. Durch die Annahme der hydraulischen Bremse wird diese Länge und die Grösse der Hemmkeile erheblich verringert. Sie besteht aus einem pumpenstiefel-artigen Bremscylinder, in welchem sich ein Kolben bewegt, dessen Scheibe etwas Spielraum nach oben hat (Fig. 5); die Kolbenstange ist in der Scheibe drehbar; letztere wird durch Nasen in besonderen Nuthen des Cylinders geführt. Der Cylinder ist mit Glycerin gefüllt (des Nichtgefrierens wegen); beim Rückstoss muss sich die Flüssigkeit zwischen die nach rückwärts gezogene Kolbenscheibe und die Cylinderwand hindurchpressen. Die dadurch erzeugte Reibung bremst das Fahrzeug. Durch Hin auflaufen auf kleine Keile, welche hinter die Räder gelegt waren, bekommt das Geschütz das Bestreben, wieder in die frühere Lage vorzulaufen. Textabbildung Bd. 281, S. 151Fig. 6.Krupp'sche Bremsvorrichtung an Geschützen. Die schon längst bei Küstenlaffeten verwandten ähnlichen hydraulischen Bremsen sind in mannigfacher Weise verbessert worden, besonders dadurch, dass der Widerstand der Flüssigkeit während des Rücklaufes zunimmt. So ist die in Fig. 6 dargestellte Construction der Firma Krupp aus dem vorigen Jahre bekannt geworden. Die Kolbenscheibe hat Kanäle für das Durchpressen der Flüssigkeit, der Kolben selbst ist hohl und trägt in der Achse einen sich nach vorn verjüngenden Stempel; in der Mitte des Bremscylinders ist ein entsprechender Hohlcylinder so befestigt, dass sich der Stempel beim Rückstoss hineinschieben muss; der anfänglich grosse Spielraum zwischen Stempel und Hohlcylinder verringert sich während des Rücklaufes mehr und mehr und vergrössert so den Widerstand der Flüssigkeit des Bremscylinders. Der Weg dieser Flüssigkeit ist bei anderen Constructionen durch Anbringung von Nuthen in der Cylinderwand oder auf der Kolbenscheibe bestimmt und das Vorlaufen des Geschützes durch ein Spiel von Ventilen erleichtert oder sogar durch Anbringung von Spiralfedern in der Bremseinrichtung hervorgerufen. Die früheren Küsten- und Schiffslaffeten bestanden meist aus einem um ein Pivot drehbaren Rahmen, auf welchem sich ein Schlitten bewegte, der das Geschützrohr trug, eine Neigung dieses Rahmens nach vorn erwirkte das Vorlaufen in die Lage vor dem Schusse. Die Bremse in Verbindung mit einer Einrichtung, um dem Rohre die genaue Richtung nach dem Schusse wiederzugeben, ist ein wichtiger Theil der neuesten, meist auf Schiffen verwandten Schnellfeuer- oder Schnelladekanonen geworden. Von den mannigfaltigen Einrichtungen sei hier die leicht verständliche Form der Bremse bei der langen 10 cm-Kanone der Firma Hotchkiss wiedergegeben (Fig. 7). Das Kanonenrohr liegt in einem Gehäuse, welches mittels besonderer Schildzapfen in den Lagern eines kappenartigen Aufsatzes liegt, der sich in wagerechter Richtung auf einem Pivot drehen lässt. Das Rohr kann sich in seinem Gehäuse nach rückwärts bewegen; jeder der beiden Schildzapfen zieht dabei den Kolben einer nach der Mündung hin angebrachten hydraulischen Bremse zurück und drückt gleichzeitig gegen eine starke Spiralfeder, welche nach rückwärts in zwei teleskopartig in einander zu schiebenden Röhren untergebracht ist. Nachdem der Rückstoss durch Bremse und Feder aufgehoben, drückt das Ausdehnungsbestreben der gespannten Feder das Rohr wieder in die vor dem Schusse eingenommene Lage. Es ist durch diese oder ähnliche Einrichtungen möglich geworden, den Rücklauf der Kanonenrohre mit grossen Anfangsgeschwindigkeiten auf die Länge von 2 bis 4 Geschossdurchmesser zu begrenzen; ausserdem hat vielleicht diese Art des Rücklaufes in Richtung der Seelenachse, welche eine senkrechte Mündungsbewegung auszuschliessen im Stande ist, einen günstigen Einfluss auf die Treffähigkeit. Textabbildung Bd. 281, S. 151Fig. 7.Bremse der Hotchkiss-Kanone. Ausser der Vorrichtung zur Verkürzung und Beschleunigung der Rücklaufsbewegung war die Einführung der Schnellfeuer- oder Schnelladegeschütze noch durch andere Umstände bedingt. Die Pulverladung wurde in Messingkapseln eingefüllt, welche ganz wie die Patronenhülsen der Gewehre eingerichtet, in der Bodenmitte ein Zündmittel enthielten und die Dichtung der Fuge zwischen Verschluss und Rohr beim Schusse übernahmen. Im Verschlusse wurde eine gewehrschlossartige Einrichtung angebracht, welche sich beim Schliessen zum Abfeuern fertig stellt; nach dem Schusse wird durch das Oeffnen die Kapsel durch eine auszieherartige Einrichtung herausgezogen bezieh. herausgeworfen. Von Verschlussconstructionen sind die altgewöhnten beibehalten, so benutzt die Firma Krupp den wagerecht verschiebbaren sogen. Keilverschluss (besser gesagt: Riegelverschluss); andere Firmen wenden den Schraubenverschluss der französischen Artillerie, noch andere einen nach oben verschiebbaren, unten verjüngten Riegel an. In Bezug auf Verschlussarten scheint die Artillerie auch der Entwickelung des Gewehres zu folgen; bei letzterem ist indess ein Abschluss erreicht, beim Geschütze ist dies indess noch lange nicht der Fall. In Bezug auf Ladeschnelligkeit ist in neuester Zeit noch ein weiterer Fortschritt gemacht worden. Die Vorwärtsbewegung des Rohres nach beendetem Rückstoss wird zum Oeffnen des Verschlusses und zum Herauswerfen der Hülse benutzt. Zum Laden braucht also nur die Munition eingebracht und der Verschluss geschlossen zu werden. Maxim-Nordenfeld scheinen auf der Naval-Exhibition in London zur Zeit ein 7,5 cm-Geschütz ausgestellt zu haben, welches nur ein Einlegen der Munition verlangt. Textabbildung Bd. 281, S. 152Fig. 8.Selbstschiessendes Geschütz von Maxim-Nordenfeld. Die Vorrichtungen zum schnellen Laden befinden sich also in einem Stadium rascher Entwickelung. Wie weit diese noch gehen kann, davon geben die sogen. „selbstschiessenden Geschütze“ von Maxim-Nordenfeld eine Vorahnung. In genannter Ausstellung ist ein solches (Fig. 8) ausgestellt, welches 37 mm-Granaten (je ein Pfund schwer) verfeuert. Das Rohr liegt unbeweglich fest in einer mit Abkühlungswasser gefüllten Hülse; die durch den Rückstoss erzeugte Bewegung im Verschlusskolben wird benutzt, um den Verschluss zu öffnen, die leere Patronenhülse zu entfernen, die neue Patrone, welche sich auf einem Bandstreifen befindet, heranzuholen, zu laden, den Verschluss zu schliessen und abzufeuern. Hält der Schiessende die Abzugs Vorrichtung zurück, so wiederholt sich dieser Vorgang ohne weiteres so schnell, dass 300 Schuss in der Minute erfolgen, lässt er nach einem Schusse die Abzugsstange vorgehen, so hört das Schiessen auf; es beginnt wieder bei nochmaligem Anziehen derselben. Früher waren die Maxim-Kanonen auf das Kaliber der Gewehrgeschosse beschränkt; indem sie es jetzt ermöglichen, die Munition der früheren Hotchkiss-Revolverkanonen zu verfeuern, scheinen sie in Zukunft an Stelle der letzteren zu treten. In der Landartillerie ist die Verwendung der selbstschiessenden und der Schnelladegeschütze nicht sehr ausgedehnt, besonders die der letzteren noch nicht. Die meist gedeckten Ziele machen eine umständliche, Zeit erfordernde Beobachtung nöthig und das Herbeischaffen grosser Munitionsmengen ist schwierig. Auf Schiffen indess spielt das Munitionsgewicht eine geringere Rolle, die Ziele sind meist direct sichtbar und da sie auch meistens beweglich sind, so wird es wichtig, in kürzester Zeit viele Treffer zu erzielen; dazu kommt, dass der Rauch des neuen Pulvers fast gar nicht mehr die Schnelligkeit des Richtens behindert. So scheint die Verwendung der Schnelladekanonen in der Marine eine unbedingte Nothwendigkeit geworden zu sein, selbst wenn sie in keinem grösseren Kaliber als in dem von 15 cm angefertigt werden können. Nach den neuesten Berichten erreichen die Firmen Krupp und Canet mit der 12 cm-Schnelladekanone 13 Schuss in der Minute, mit der 15 cm Krupp bei „sorgfältigem Richten“ 6, Canet (vielleicht ohne besonderes Richten) 8 Schuss. Durch Verbesserungen in der Anfertigung des neuen Pulvers, besonders durch das Anpassen der Grösse der Körner an die des Kalibers einestheils und durch Verlängerung der Rohre anderentheils sind die Anfangsgeschwindigkeiten bei den Schnelladekanonen weit über die der Infanteriegewehre gesteigert worden. Die Firma Canet soll bei einer 15 cm-Kanone 835 m erreicht haben; die Firma Krupp erzielte bei einer 12 cm-Kanone von 40 Kalibern Länge 788 m. Die Grösse dieser Zahlen ist aber vielleicht noch keine endgültig abgeschlossene; denn die Fabrikation des Pulvers für Geschütze ist vielleicht einer noch grösseren Verbesserung fähig, als die des Gewehrpulvers, und die Länge der Geschützrohre kann auch vielleicht noch stärker zur Steigerung der Anfangsgeschwindigkeit benutzt werden (die Firma Canet gibt Tabellen an, nach welchen ein 37 cm-Rohr bei einer Länge von 25 80 36 43 50 Kalibern 500 610 680 740 800 m Anfangsgeschwindigkeit haben soll). Die Anfangsgeschwindigkeit allein gibt indess noch keinen Maasstab für die Leistungsfähigkeit eines Geschützrohres ab. Die Firma Krupp bemisst dieselbe nach der vom Geschoss entwickelten lebendigen Kraft \left(\frac{m}{2}\,v^2\right) für 1 k Rohrgewicht und hat in dieser Beziehung die Leistungen ihrer Rohre auf eine ganz erstaunliche Höhe gebracht. In Zukunft wird vielleicht ein Vergleich dieser Leistungen mit denen anderer Fabriken möglich sein. Das neue rauchschwache Pulver hebt, ebenso wie es beim Gewehr gethan, die Treffähigkeit aller Geschütze; es vermindert ferner beträchtlich die Gasspannungen. Bei der Krupp'schen Fabrik erreichte Anfangsgeschwindigkeiten über 700 m sind von Gasspannungen von weniger als 2600 at begleitet gewesen, diese waren also um 200 at geringer als eine nach einer weit verbreiteten Annahme für gross gehaltene. Textabbildung Bd. 281, S. 152Fig. 9.Canet's Kanonenrohr. Um die Wirkung der Gasspannungen unschädlich zu machen, sind bekanntlich schon seit langer Zeit, mit besonderem Erfolge aber durch die Firma Krupp die umringten oder ummantelten Rohre eingeführt. Vielleicht ist es nicht uninteressant, die Rohrconstruction Canet und die in Zeitungen vielgenannte von Longridge anzudeuten (Fig. 9 und 10). Bei ersterer wird das Kernrohr von dem von innen nach aussen ausgeübten Gasdruck durch Ringe von verschiedener Länge entlastet, welche so aufgeschoben sind, dass sie einen beständigen Druck nach innen ausüben. Bei der Longridge-Kanone erzeugt eine Stahldrahtumwickelung diesen Druck; zwischen der obersten Drahtschicht und dem sie umhüllenden Mantelrohr befindet sich ein kleiner Spielraum, welcher eine Ausdehnung der Umwickelung nach aussen erlaubt. Letztere lehnt sich hinten gegen eine Scheibe, auf welche 6 Bolzen drücken; gegen diese wirkt mittels Belleville-Federn ein (dunkel schraffirtes) Ringstück, welches den Verschluss des Rohres trägt. Dieses Ringstück ist in das äussere Mantelrohr eingeschraubt. Ein Druck der Pulvergase nach hinten wirkt also nicht auf das Kernrohr, sondern er wird auf das äussere Mantelrohr übertragen. Ob letztere Rohrconstruction bei genügender Haltbarkeit ein geringeres Rohrgewicht erlaubt, als die Krupp'sche, bleibt noch durch Versuche nachzuweisen. Textabbildung Bd. 281, S. 153Fig. 10.Longridge's Kanonenrohr. In Belgien haben derartige Gewaltversuche mit Stahlröhren stattgefunden, welche ähnlich wie die von Krupp gelieferten construirt waren; es sprang das Innenrohr einer 15 cm-Kanone erst bei einem Druck von 11000 at, während der Mantel intact blieb. (Nimmt man wieder 2800 at als einen „grossen Druck“ an, so würde dieses Rohr mit vierfacher Sicherheit construirt gewesen sein.) Die gegen früher erheblich verstärkten Rohrconstructionen und die Milderung der stossweisen Wirkung der Pulvergase durch die Einführung des rauchschwachen Pulvers haben einige Constructeure, besonders amerikanische, nicht abgehalten, Rohre zu construiren, welche das Geschoss nicht durch die Kraftäusserung verbrennenden Pulvers, sondern durch einen hohen Luftdruck vorwärts treiben lassen, der durch besondere Maschinen erzeugt wird. Es soll dadurch jede Gefahr bei der Verwendung grosser, mit riesigen Mengen brisanter Sprengstoffe gefüllter Geschosse beseitigt werden. Eine der letzten derartiger Constructionen scheint die Craydon dynamite gun zu sein. Ob diese Art von Geschützen zweckmässig sein wird, bleibt durch Versuche zu beweisen. Bei einer Besprechung von Geschützen dürfen die Panzerungen nicht unerwähnt bleiben, wenigstens die für Landgeschütze bestimmten nicht, denn die Verbindung von Kanonenrohr und Panzer ist eine so innige geworden, dass die Laffete eine ganz neue Erscheinung annimmt und oft ganz wegfällt. In Deutschland ist es die Firma Gruson, welche auf diesem Gebiete grosse Arbeiten geleistet hat; dieselben sind indess so vielfach veröffentlicht worden, zum Theil sogar in belletristischen Blättern, dass von einer Wiederholung hier Abstand genommen wird. Als eine Neuerung ist vielleicht zu erwähnen, dass die Firma Maxim-Nordenfeld auf der Naval Exhibition in London einen fahrbaren Panzerthurm mit einem 57 mm-Geschütz ausgestellt hat, der dem von Gruson im vorigen Jahre vorgeführten ähnlich sein soll; sein Gewicht von 5 t wird indess für etwas zu hoch befunden. Es ist nicht unmöglich, dass auf dem Gebiete der gepanzerten Geschützstände eine ähnliche Thätigkeit sich entfalten wird, wie sie auf dem der Schnellfeuergeschütze in der letzten Zeit eintrat, und dass ihre Besprechung in einem zukünftigen Berichte einen ganz anderen Raum einnehmen wird, als in dem vorliegenden.