Titel: Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J. 1893.
Autor: Otto Mühlhäuser
Fundstelle: Band 290, Jahrgang 1893, S. 16
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Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J. 1893. Von Dr. Otto Mühlhäuser. Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J. 1893. Wer im Nord-Osten der „Weissen Stadt“ an einem hellen Tage den Dampfer besteigt und auf dem blauen Michigan-See sich der Ausstellung nähert, gewahrt am fernen Horizont – lange ehe das Auge die im hellen Sonnenglanze erstrahlenden goldenen Kuppeln, die lichtübergossenen blendend weissen Paläste, Bauten und Säulenhallen zum fesselnden Bilde vereinigt – die Wahrzeichen der „Fair“: den Mammuthbau des Manufacturing-building und das gigantische Rad Ferri's Wheel. Diese wie von Cyklopenhand aufgeführten Eisenbauten symbolisiren aufs ausdrucksvollste den Charakter des Schöpfungsstyles unserer Zeit, seine Grosse und seinen Wechsel, den Fortschritt. Auch die heutige chemische Industrie, deren Erzeugnisse jenes geräumigste aller Gebäude birgt, trägt diesen Stempel des Zeitgeistes. Angesichts ihrer Schöpfungen ersteht vor dem geistigen Auge des chemischen Technologen der Monumentalbau der chemischen Industrie mit all seinen Meistern und Gehilfen, die ihn errichteten und weiterführen. Man erkennt in den fundamentalen Theilen des Werkes die Hand des im grossen Style schaffenden Meisters, in anderen auch schon wieder eine Entfernung davon, einen zur Entartung führenden Manierismus, der – wenigstens in den Formen – über das Erlaubte hinausgeht und der nur dann gerechtfertigt erscheinen würde, wenn dadurch die Technik einer höheren Fabrikationsstufe angebahnt würde. Mehrtheilig erhebt sich der stolze Bau, auf die mächtigen Fundamente der Landwirthschaft und des Bergbaues gegründet. Er ist überspannt von dem Himmel der chemischen Wissenschaft mit seinen Sonnen, deren Namen Jedermann und in allen Zeiten ehrfurchtsvoll nennt, mit seinen Sternen erster, zweiter und dritter Grosse, mit Namen, welche nur die Zeit bezieh. nur der Fachmann kennt, und auch mit seinen ephemeren Kometen, deren Wesenheit der momentane Effect ist. Doch legen wir das Beobachtungsglas mit seinem die verschiedenen Momente im Focus vereinigenden Objectiv bei Seite und sehen wir zu, wie das alles so gekommen! Die Producte der chemischen Industrie, wie sie uns auf der Weltausstellung entgegentreten, dienen den höheren Tagesbedürfnissen der Culturmenschen unserer Zeit. Bedürfnisse, deren Befriedigung selbst im vorigen Jahrhundert nur sehr wenigen vergönnt war und die als luxuriös galten, wie die Hautpflege (Reinigung des Körpers und des Unterzeuges mit Seife), Waschen der Kleidungsstücke mit Seife oder Soda, Beschaffung von Heilmitteln, Bekleidung mit prächtig gefärbten oder bedruckten Geweben, Beschaffung von Papier, von Licht u.s.w., dergleichen ist heute fast Jedermann möglich geworden. Künstliches Licht, das der Sonne den Eintritt in die Räume gewährende Glas, Reinigungs- und Heilmittel, Schreibmittel, kurz diese, die Existenz des modernen Menschen bedingenden Gegenstände kann heute Jedermann sich eignen, und eine mit Sinn für Farben begabte Menschheit erfreut sich an den bunten Erzeugnissen der Mode, dieses mächtigen Bundesgenossen der Industrie. Die Zeit, in der sich dieser Umschwung vollzog, liegt in der Spanne eines Jahrhunderts. Die Ursachen, welche den Wechsel herbeiführten, können hier nicht einzeln aufgezählt werden, es soll aber versucht werden, die Hauptmomente hervorzuheben, welche die Entstehung und das Wachsthum der chemischen Industrie veranlassen. Die chemische Industrie verdankt ihre Entstehung dem die Zeit der Aufklärung charakterisirenden Drange nach Erkenntniss und muss in ihren Anfängen als der unmittelbare Ausdruck dieser Zeit auf technischem Gebiete bezeichnet werden. Der Drang jener Zeit nach Neuem gab den Anstoss zur erfinderischen Thätigkeit, schaffte die Mittel zur Ausführung der Idee, suchte und fand den Verwendungskreis. So folgte der Idee, die Baumwolle als Fasermaterial zu verwenden, in rascher Folge deren Verarbeitung auf Bekleidungsstoffe und die Formation des Marktes. Die neue Industrie riss die seit Jahrhunderten in primitivster Weise betriebene Seifenindustrie und mit dieser die eben ins Leben getretene Sodaindustrie und Chlorkalkfabrikation unwiderstehlich mit sich fort und eröffnete so auch der Bleicherei, der Färberei und dem Zeugdruck das breite Feld der Ausdehnung. Seife, Soda und Bleichkalk wurden zum billigen, Jedermann zugänglichen Artikel, deren reichliche Verwendung mehr und mehr die Medicin bezieh. die daraus sich entwickelnde Hygiene empfiehlt. Die sich von nun an steigernde Nachfrage nach diesen Erzeugnissen hatte die Verarbeitung neuer Rohstoffe, die Eröffnung neuer Rohstoffquellen im Gefolge. Neue Salinen wurden angelegt, tropische Pflanzenfette werden eingeführt, an Stelle des Schwefels verwendet man Kiese u.s.w. Die neue Industrie diente jedoch nicht allein den Bedürfnissen der Textil- und Seifenindustrie bezieh. auch der Hauswirthschaft, sie hatte direct die Hebung der vordem nur in kleinerem Umfange betriebenen Papierindustrie im Gefolge. Baumwollabfälle und Lumpen bildeten eine neue Quelle für Cellulose; Soda und Bleichkalk gestatteten die Reinigung dieses vorzüglichen Papiermaterials. Auch die Glasindustrie, welche bis dahin mit Holzasche gearbeitet hatte, wurde im Laufe der Zeit eine Domäne der Sodaindustrie und gewann durch den Zufluss des billigen Vorstoffes die Basis zur Grossindustrie. Seitdem hat die Glasindustrie mächtige Ausdehnung in fast allen Culturstaaten gewonnen, Glasgefässe und -Platten haben aufgehört Luxusartikel zu sein. Dass die Sodaindustrie und diejenigen Industrien, welche sie bedingten und mit ihr im engsten Zusammenhange standen, vorzüglich da zu Hause waren, wo die Verkehrswege die An- und Abfuhr der Materialien in unbeschränkter Weise gestatteten, ist ohne weiteres klar, und in der That sehen wir, dass England; das in den Kriegen zu Anfang dieses Jahrhunderts sich von Neuem die Weltherrschaft gesichert hatte, der Hauptsitz der neuen bezieh. auch neu belebten Industrien ist. In England siedelt sich die Baumwollerarbeitungsindustrie vorzüglich an, bedingt das Entstehen einer mächtigen Seifen- und Sodaindustrie, welche letztere wiederum die Papier- und Glasindustrie mit sich emporhebt; von England aus geht auch der Handel mit diesen Fabrikaten nach allen Theilen der Welt, wodurch jene Industrien nach und nach jenen ungeheuren Umfang annahmen. Mit dem Exporte der Waaren geht aber die Emigration der Industrie selbst Hand in Hand; Deutschland und Frankreich, welche bis dahin nur Rudimente einer Sodaindustrie besassen, beginnen in den Productionskreis zu treten, und nach sehr kurzer Zeit entwickelt sich an den von der Natur begünstigten Orten eine chemische Industrie, deren Bestrebungen von den Vertretern der chemischen Wissenschaft aufs lebhafteste unterstützt werden. Dass die Baumwollindustrie und die damit verknüpften Industrien, namentlich auch die mehr und mehr in den Vordergrund tretende Wollindustrie auf die Eisenindustrie bezieh. deren Entwickelung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, wegen des Bedarfs neuer Maschinen, ausübte, ist selbstredend, aber erst mit der allgemeineren Einführung moderner Transportmittel, vornehmlich der Eisenbahnen, begann diese wichtigste aller Industrien ihren allumfassenden Umfang und grossartigen Charakter anzunehmen, und die Koksindustrie wurde die Basis zur Massenerzeugung dieses nützlichen Metalles. Mit der Schaffung neuer Schienenwege wird auch der Verbrauch an Soda u.s.w. immer allgemeiner; die bis dahin lediglich der Sodafabrikation dienende Schwefelsäureindustrie kommt bald darauf auf eigene Füsse zu stehen, nachdem aus den Bestrebungen Liebig's die Düngerindustrie – auch wieder zuerst in England – hervorgewachsen war. Die neue Industrie macht sich aber bald von der Sodaindustrie unabhängig, legt eigene Schwefelsäurebetriebe an und gibt – indem sie die Schaffung vollkommener Dünger anstrebt – Anlass zur Mitverarbeitung kali- und ammoniakhaltiger Materialien, vor allem der bei Stassfurt gewonnenen Abraumsalze und des bei der Steinkohlendestillation fallenden Ammoniakwassers. Inzwischen hatte sich auch die, Ende des letzten Jahrhunderts erstandene Leuchtgasfabrikation mächtig entwickelt. Das dabei abfallende Gaswasser bildete den Rohstoff der als besonderer Zweig sich ausbildenden Ammoniakindustrie. Der längere Zeit noch werthlose Theer hatte wenigstens theilweise Verwerthung gefunden, nachdem die Medicin in ihm die desinficirende Kraft gewisser Bestandtheile erkannt und in den Kriegen, Mitte dieses Jahrhunderts, zur Milderung der Leiden anwenden konnte. Volle Verwendung erhielt aber der Theer erst, nachdem es gelungen war, die in ihm enthaltenen Bestandtheile in prächtige Farbstoffe umzuwandeln. Die neue Industrie (die Anilinfarbenfabrikation) entstand in Frankreich und England, erhielt aber erst, nachdem Deutschland und die Schweiz die Industrie an sich gerissen hatten, ihre Entfaltung und hohe Bedeutung. Die Theerverarbeitung ging damit Hand in Hand, die Scheidungsmethoden wurden mehr und mehr vollkommen und bilden sich da aus, wo der Theer in grossen Massen abfällt, in Deutschland und England. Diese Länder bilden auch eine Vorproductenindustrie aus, welche für Anilinfarbenfabriken, für Heilmittel-, Sprengstoff- und Süsstoff-Fabriken arbeitet. Die neuen Theerfarbstoffe verdrängen aus den Färbereien und Druckereien mehr und mehr die bis dahin gebrauchten Holzfarbstoffe und geben Anlass zur vollständigen Umgestaltung der Färberei und der Druckerei und zu deren Erhebung auf wissenschaftliche Basis. Auch die Entstehung der Chromalkaliindustrie, dann die Nitritfabrikation gehört jener Zeit an. Die Salpetersäureindustrie, welche ihr Material, den Salpeter, aus Chile zugeführt erhält, arbeitete ursprünglich nur für Dynamit- und Zwischenproductenfabrikation in grösserem Maasstabe; aber erst in neuester Zeit – seit Schaffung der Kriegssprengstoffindustrie – hat sie ihre feinere Ausarbeitung erfahren. Eine ausserordentlich grosse Menge Chilesalpeter diente bis dahin zur Schwarzpulverfabrikation und wurde zu diesem Zwecke in Kalisalpeter umgewandelt. Zur Darstellung dieses Conversionssalpeters, dann auch namentlich zu Düngezwecken haben die Stassfurter Abraumsalze das Material geliefert. Daraus ist dann, unter Anpassung des Leblanc'schen Verfahrens, die Potaschefabrikation erwachsen, welche mit ihren Fabrikaten einerseits eine Variation in der Verwendung der Alkalien gestattete und dadurch grössere Mannigfaltigkeit der damit hervorgebrachten Producte erzielen liess, andererseits auch neue Industriezweige, wie z.B. die Oxalsäureindustrie, im Gefolge hatte. In neuester Zeit hat man mit grossem Erfolge versucht, das Stassfurter Chlorkalium auf elektrolytischem Wege direct in Chlor und Kalihydrat zu spalten, und unter Anwendung desselben Verfahrens erzeugt man heute Kaliumchlorat. Von eingreifendster Bedeutung für alle auf Soda gestellten Industrien war seiner Zeit die Einführung des Ammoniaksodaverfahrens. Diese neue Arbeitsweise, welche ihrerseits wieder die Verfeinerung der Ammoniakverarbeitung verursachte, entwickelte sich so mächtig, dass eine Zeitlang die Existenz der nach dem Leblanc-Verfahren arbeitenden Werke bedroht schien. Heute, nachdem diese Fabriken im Kampfe ums Dasein, durch Ueberarbeitung der Verfahren und Einführung zweckdienlicher Apparate und Oefen, unter voller Berücksichtigung der Portschritte der Wärmetechnik, dann durch Regeneration des Schwefels, den alten Process neubelebt und mit den Anforderungen der Zeit in Einklang gebracht haben, ist diese Furcht – namentlich da die Salzsäure immer mehr und mehr den Charakter des Hauptproductes annimmt – gewichen. Das alte Verfahren besteht neben dem neuen; letzteres nimmt aber als die reinste Soda- und Natronquelle nunmehr den ersten Rang ein und hat sich namentlich in Deutschland, Frankreich, Belgien, Russland und Amerika eingebürgert. Enorme Steigerung der Production erlitt die Industrie der Säuren und Alkalien durch die Ausbeutung der Erdölquellen in Amerika und Russland. Lange Zeit wurden zur chemischen Reinigung der Erdöldestillate nur aus England importirte Alkalien und Säuren verwendet. Das hat nun grossentheils aufgehört, jene grossen Industrien gaben vielmehr den Anlass zu einer amerikanischen und russischen Schwefelsäure- und Sodafabrikation. Die namentlich zur Vaselinölfabrikation, dann auch der Theerfarbenfabrikation dienende rauchende Schwefelsäure wird sowohl in England, als auch in Deutschland und Russland dargestellt. Die chemische Industrie gleicht einem mächtigen, sich in das Meer des Consums ergiessenden Strome. Verfolgen wir ihn zeitlich zurück bis zur Quelle, so passiren wir alle Mündungen jener Seitenströme, die den Fluss anschwellen liessen, kommen ins Zeitalter der Aufklärung, passiren den Engpass der Wende mittelalterlicher Anschauung und begegnen dort den nicht minder wichtigen Quellflüssen, die sich in die zurückliegende Zeit verlieren. Wir meinen damit jene zum Theil uralten landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, wie Brauerei, Branntweinbrennerei, Zuckerfabrikation, Seifensiederei, Gerberei, die Apothekerei; ferner jene auf chemische Vorgänge basirten Industrien, die Keramik und Glasmachkunst. Diese Gewerbe früherer Jahrhunderte haben im Hauptstrom – so wie er in unserem Jahrhundert dahin fliesst – ihre Verjüngung und Kräftigung gefunden und verdanken der eigentlichen chemischen Industrie – mit der wir es hier hauptsächlich zu thun haben werden – ihre Renaissance. Die Verwitterungsproducte der Urgesteine, die Natron- und Kalisalzlager, bilden die Basis der sogen. chemischen Grossindustrie. Das Zersetzungsproduct der Cellulose vorweltlicher Pflanzen, die Steinkohle, ist das Rohmaterial der der Eisenindustrie dienenden Koksindustrie und der Leuchtgasfabrikation, also auch der auf diese beiden Industrien gegründeten Theerfarbenindustrie. Das Zersetzungsproduct der Fette einer früheren Thierwelt, das Erdöl und seine Verwandten, machen die Mineralölindustrie möglich. Ausser diesen drei, das chemische Interesse vornehmlich in Anspruch nehmenden Industriekreisen sollen an dieser Stelle die Mineralfarbenfabrikation und die in das Gebiet der chemischen Kleinindustrie fallende Präparatenfabrikation eine Erörterung finden; diejenigen Industrien dagegen, welche auf die Verarbeitung der Pflanzen- und Thierproducte, von: Cellulose, Zucker, Stärkemehl, der thierischen Haut, Knochen, Fette u.s.w., gegründet sind, werden hier nicht berücksichtigt werden. Um den Bericht einem weiteren Leserkreise des Journals zugänglich zu machen, wird am passenden Orte mit ein paar Strichen die Fabrikationsweise der wichtigeren Industrien skizzirt werden. Dabei kann natürlich nur längst Bekanntes gegeben werden, es wird indessen auch Nachricht gegeben von Dingen, die bis dahin nur einem kleineren Kreise von Fachleuten bekannt waren. –––––– An der Ausstellung chemischer Producte haben sich Amerika, Belgien, Deutschland, England, Frankreich und Russland betheiligt, also alle eine chemische Industrie besitzenden Staaten, mit Ausnahme der Schweiz, welche in chemisch-industrieller Hinsicht mit Deutschland auf derselben hohen Stufe steht. Der Versuch der Darstellung der Leistungsfähigkeit einer chemischen Weltindustrie ist insofern missglückt, als sich am Wettbewerbe nur sehr wenige Firmen, darunter allerdings sehr leistungsfähige, betheiligt haben, das Studium der Ausstellungen ausserdem dadurch sehr erschwert wird, dass dieselben überall hin zerstreut sind. Nur die deutsche Collectivausstellung gestattet vollen Einblick in die Leistungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit und in die hohe Bedeutung, welche die chemische Industrie im Deutschen Reiche erlangt hat. Ehe wir auf die einzelnen Ausstellungen eingehen, möge kurz der heutige Stand mit Ausblick in die wahrscheinliche fernere Entwickelung der chemischen Industrie in den verschiedenen Staaten eine wenigstens kurze Erörterung finden. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen eine chemische Industrie par excellence noch nicht. Das Land ist erst im Begriffe, sich eine solche zu schaffen, und hat es unter dem Schutzzollsysteme gerade diejenigen Gewerbe mächtig entwickelt, welche die gesunde und starke Basis höherer industrieller Thätigkeit – als welche sich die eigentliche chemische Industrie darstellt – bilden. Wir meinen die auf den Bergbau, auf Ackerbau und Viehzucht sich gründenden Industrien, die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, die Metallgewinnung, die Kohle- und Erdölverarbeitung, den Phosphoritaufschluss. Die Metallgewinnung: die Eisen-, Kupfer-, Blei-, Zink-, Silber-, Golderzeugung mit den sich anschliessenden Metallverarbeitungsindustrien, voran der Maschinen-, Transportmittel- und Brückenbau, die Erdöl- und Phosphoritverarbeitung, haben heute schon in gewisser Hinsicht in den Vereinigten Staaten die höchste Stufe, welche zur Zeit möglich ist, erreicht. Dem Europäer fällt angesichts der Arbeitsstätten vor allem die Bewältigung der Massen mit den grossen Hilfsmitteln auf, wie sie eben nur diesem Lande eigen sind. Das reiche Vorkommen der Erze, Mineralien, der hohe Lohn, die verhältnissmässig kurze, zwischen zwei Handelskrisen liegende, günstige Conjunctur fordern in Amerika weniger zur vollkommenen Ausbeutung einer Sache nach allen Richtungen hin auf, als vielmehr zur schnellen Massenproduction mit allen Mitteln moderner Technik. Die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, welche einerseits thierische Abfälle, Häute, Fette, auf Dünger, Leim, Gelatine, Pepsin, Leder, Seife, Glycerin, andererseits Pflanzenproducte, wie Baumwolle, Kohlehydrate, auf Papier, Cellulose, Traubenzucker, Branntwein, Bier, Rohrzucker verarbeiten; haben in Amerika dieselbe hohe Stufe innerer Durchbildung und Anpassung an den Ort erfahren, wie in Europa, unterscheiden sich aber im Allgemeinen von den entsprechenden europäischen Anlagen durch den grossen Styl der Rohstoffverarbeitung. Nur wer die hiesigen Metallgewinnungs- und -Verarbeitungsstätten, die Erdölraffinerien, Brennereien, Schlachthäuser, Gerbereien, Seifenfabriken, Zuckerraffinerien gesehen, kann sich ein Bild von dem hohen Stande dieser Industrien und den Zielen machen, die sich der vorurtheilsfreie, des Autoritätsglaubens bare amerikanische Grossindustrielle gesteckt hat. Auch die KeramikDie Keramik ist hochbedeutend, die Rockwood-Ausstellung zeigt uns, wie man in Amerika Geschmack mit den schwierigen Mitteln einer neuen Glasirtechnik zum denkbar feinsten Ausdruck bringt. und die Glasfabrikation sind seit etwa 10 Jahren heimische Industrien geworden und haben den Import auf Kunstgegenstände und gewisse Specialitäten beschränkt. Wie aus dem Gesagten ersichtlich, ist in den Vereinigten Staaten die breiteste Basis für eine eigentliche chemische Industrie geschaffen, welch letztere in ihren Anfängen auch schon besteht. Die Textilindustrie, der Haushalt, die Bäckerei, die Mineralwasserfabrikation, die Glas- und Seifenindustrie, die Erdölwerke consumiren ausserordentlich grosse Mengen von Alkalien und anderen grossindustriell gewonnenen Producten, welche heute noch grösstentheils von England bezogen werden. Es gibt zwar einige Sodafabriken, welche Alkalicarbonat nach den Verfahren von Leblanc, Thomsen und Solvay schon seit einer Anzahl von Jahren fabriciren, es gibt auch Alaun- und Chromatfabriken, aber bis heute sind diese Werke nicht im Stande gewesen, gegen die englische Concurrenz anzukämpfen. Das Land mit seinen Wasser- und Schienenstrassen, seinen unerschöpflichen Kohlen- und Salzlagern, ein idealer Boden für den Ammoniaksodaprocess u.s.w., leidet an Mängeln, welche dem Gedeihen einer Sodaindustrie zur Zeit noch im Wege stehen: hoher Lohn, schweifhafter Charakter des im Uebrigen ausgezeichneten Arbeiterstandes, schlechte Ammoniakverhältnisse, Mangel an einsichtsvollen, die Situation vollkommen beherrschenden Kapitalisten haben bis dahin jene Industrie nicht aufkommen lassen, es ist aber kein Zweifel, dass sich diese Verhältnisse in sehr kurzer Zeit ändern werden und das Land seinen Bedarf an den Producten der chemischen Grossindustrie selbst fabriciren wird. Auf voller Höhe und den Verhältnissen angepasst steht die Schwefelsäureindustrie, welche den grossen Bedarf der Düngerfabriken und Erdölraffinerien u.s.w. deckt. Dabei ist es interessant, zu erfahren, von welch ungeheurer Bedeutung zur Ueberwindung der Pionirarbeit ein chemischtechnologisches Werk werden kann. Ich meine das klassische Werk Georg Lunge's, welches hier viele – bis dahin die Schwefelsäurefabrikation nicht kennende – Chemiker in den Stand setzte, die in dem Buche niedergelegten Ideen und Erfahrungen jenes Meisters in den Betrieb zu übersetzen. Amerika hat auch verhältnissmässig alle Anfänge einer Präparatenindustrie, welche in einigen Specialitäten recht Tüchtiges leistet, im Grossen und Ganzen werden aber die von Apotheken, Photographen, wissenschaftlichen Anstalten u.s.w. gebrauchten Artikel aus Deutschland bezogen und Gleiches gilt von denjenigen Producten, welche die auf hoher Stufe stehende amerikanische Färberei und Druckerei benöthigt. Die Leuchtgasfabrikation, seiner Zeit sehr bedeutend, erweitert sich seit Einführung des elektrischen Lichtes nicht mehr und geht zurück. Auch die bescheidenen Anfänge der Theer verarbeitenden Industrien, Theerproducten- und -Farbenindustrie, halten einen Vergleich mit selbst auf niederer Stufe stehenden europäischen Werken kaum aus, und haben auch in nächster Zeit noch keine Zukunft, da die hiesigen Schulen keine Chemiker im deutschen Sinne des Worts, wohl aber sehr tüchtige Analytiker ausbilden, welche bis dahin das Land eigentlich allein benöthigte. Diese Einseitigkeit in der Erziehung des Chemikers wird indessen selbst heute schon nicht mehr angestrebt und man beginnt die Ausbildung des Chemikers auf breiterer Grundlage, nach deutschem Universitäts- und nach Polytechnicumsmuster, und ist gar kein Zweifel, dass ersteres dem Lande tüchtige Lehrer, letzteres geeignete chemische Technologen schaffen wird. Die University of ChicagoDas etwa 250000 Doll. kostende chemische Laboratorium dieser Universität zeichnet sich durch äusserst praktische Einrichtung, Solidität, Einfachheit und äussere Schönheit aus. Das von U. Nef eingerichtete Institut ist durchaus originell gehalten, und kann man daran sehen, zu welch schönen Resultaten man kommt, wenn man sich von früheren Anlagen nicht beeinflussen lässt., die University of Pennsylvania, John Hopkin's University, Yale-College, Harvard College sind hervorragende wissenschaftliche Institute, deren Lehrer hohes Streben mit umfangreichem Wissen und Können verbinden. Die Hauptimporteure chemischer Grossindustrieproducte sind Brunner, Mond und Co. und die United Alkali Company of England. Es ist nicht uninteressant, zu erfahren, zu welchen Preisen z.B. die letztgenannte Firma gegenwärtig – Juli 1893 – ihre Waaren in New York abgibt: Artikel ZollinCents proPrund ad valo-reminProc. Aequivalentin Proc. desjetzigenNew YorkerPreises Kaustische Soda 1,0 1 35 Natriumbicarbonat 1,0 1 40 Krystallsoda   0,25 1 15 Natriumsulfat   1,25 2000 15 Wasserglas 0,5 1 30 Unterschwefligsaures Natron 25 20 Kupfersulfat 2,0 1 50 Ammonsulfat 0,5 1 20 Salmiak   0,75 1 15 Aluminiumsulfat 0,6 1 30 Chlorcalcium 25 20 Chlormagnesium 25 20 Chromsäure 6,0 1 50 Ultramarin   4,25 1 45 Salz   0,12 1 40 Diejenigen Städte, welche vornehmlich eine chemische Industrie besitzen, sind: Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Cincinnati, St. Louis, New Orleans und Charleston. Belgien, das grosse Eisen- und Koksland mit seinen riesigen Glasfabriken, dessen Kunst und Gewerbe seit Jahrhunderten blühen, dem England die Textilindustrie entlehnte, dessen Farbengewerbe einem Rubens das Material lieferte, in dem wir heute die Farbenphantasie dieses Meisters bewundern, ist seit Mitte der 60 er Jahre als chemisches Industrieland in den Vordergrund getreten und producirt heute neben Theer namentlich Soda und Ammoniak. Der Belgier Solvay ist es, welcher das von Dyar und Hemming erfundene Ammoniaksodaverfahren lebensfähig gemacht und in fast allen Industrieländern eingeführt hat. Solvay nahm sich seit 1863 des erwähnten Verfahrens an, und es gelang seinem Genie und seiner Thatkraft, dasselbe allmählich zu einem technisch brauchbaren zu gestalten, so dass er schon 10 Jahre nachher mit dem Leblanc-Verfahren, dessen Alleinherrschaft 50 Jahre lang unbestritten gewesen war, ernstlich in Wettbewerb treten konnte. Solvay erreichte den Erfolg nicht als Chemiker, sondern als IngenieurAuch heute noch beschäftigt Solvay in seinen Fabriken keine Chemiker, sondern Ingenieure, während andererseits Brunner, Mond und Co. mit grossem Erfolge nur Chemiker verwenden., indem er die Apparate, namentlich die zur Ammoniakwiedergewinnung nöthigen, verbesserte. Auf die kleine Anlage (1864) in Couillet bei Charleroi folgten 10 Jahre später die grossen Werke von Dombasle und Northwich. Seitdem sind fast in allen Ländern, namentlich auch in Deutschland, Ammoniaksodafabriken nach belgischem Muster erstanden. Auch in der rationellen Kohlenverarbeitung hat Solvay Hervorragendes geleistet, und lassen die zur Koksbereitung dienenden, für Theer- und Ammoniakgewinnung eingerichteten Semet-Solvay-Oefen bei billiger Anlage ausgezeichnete Betriebsresultate erzielen. Deutschland, Die vor dem 30 jährigen Kriege auf deutschem Boden gepflegten und blühenden Gewerbe, vor allem auch diejenigen, welche wir heute zu den chemischen rechnen: die Keramik, Glashüttenkunst, die Darstellung der Maler- und Schmelzfarben und der Arzneimittel, die Brauerei, Färberei und Gerberei, waren nach dem langen Kriege auf viele Jahre hinaus entweder ganz zu Grunde gerichtet oder in ihrer Entwickelung gehemmt worden. Erst mit Anfang des 18. Jahrhunderts beginnt das erschöpfte Land wieder aufzuathmen, die Gewerbe erstehen wieder und werden durch neue Erfindungen belebt, erweitert bezieh. auch vermehrt. 1700 wird das Berliner Blau, 1709 das Porzellan durch Böttcher, 1740 die Sächsischblaufärberei durch Barth, 1747 der Rübenzucker von Margraff, 1774 das Chlor von Scheele entdeckt. Das Ende des Jahrhunderts und der Anfang des 19. bringen neue schwere Kämpfe und damit eine Stagnation in den Gewerben. Das Ausland hat die grossen Lehrer, die besseren Methoden und macht daher auch die wichtigen Erfindungen. Paris ist die hohe Schule für Chemie, dort studiren junge Deutsche und verpflanzen die neue Wissenschaft nach Deutschland. Liebig, Wöhler, Bunsen erstehen, beginnen zu wirken, gründen Schulen, bekommen Schüler und schaffen dem Lande den Boden, auf welchem geackert und gesäet werden konnte. Es werden zwar auch schon vorher chemische Fabriken angelegt, man macht auch Erfindungen, so entdeckt Fuchs im J. 1818 das Wasserglas und die Stereochromie, L. Gmelin in den 20 er Jahren das Ultramarin, das dann von F. A. Köttig 1828 und von Leverkus 1834 im Grossen dargestellt wurde. Aber erst in den 40 er Jahren, seit dem Wirken der grossen Lehrer, findet der chemisch-industrielle Aufschwung in ausgedehnterem Maasse statt und wird der Anfang von dem geschaffen, was man heute die chemische Industrie Deutschlands nennt. Man baut Sodafabriken, Zuckerfabriken, versucht aus Holz und Stroh Cellulose für die Papierfabrikation zu schaffen, Schönbein und Böttcher entdecken die Schiessbaumwolle; die folgenschwere Entdeckung Liebig's, dass neutrales Calciumphosphat, um von der Pflanze aufgenommen zu werden, erst mit Schwefelsäure aufgeschlossen werden muss, schafft die Düngerindustrie und erweitert die Schwefelsäurefabrikation. In den 50 er Jahren wird das Begonnene gefördert und erweitert, Neues tritt hinzu, wie die von Riebeck gegründete Mineralölindustrie zu Halle, Weissenfels und Zeitz. Derselben Zeit gehören die Versuche Kuhnheim's an, die Soda nach dem Ammoniaksodaverfahren zu fabriciren. Da während des Krimkrieges fühlbarer Mangel an Salpeter, den man bis dahin von Ostindien bezogen hatte, auftritt, so versucht H. Grüneberg mit Erfolg die Umwandlung des massenhaft vorkommenden Chilesalpeters in Kalisalpeter mit Chlorkalium, welches er aus der Potasche der Strandpflanzen und Schlempekohle bereitet hatte. Die Entdeckung der Bedeutung der Stassfurter Abraumsalze durch A. Frank, ihre Verwendbarkeit zur Fabrikation von Potasche, zur Chilesalpeterconversion, zu Düngezwecken bedeutet eine Epoche für die chemische Industrie Deutschlands und erhält dieselbe zum ersten Male seit ihrer Existenz eine originelle Seite. 1861 kam das erste Stassfurter Chlorkalium in den Handel, verdrängt das Chlorkalium der Strandpflanzen und bringt auch die Versuche, dasselbe aus Kalisilicaten und Meereslaugen zu gewinnen, zum Stocken. Vorster und Grüneberg verwendeten es zunächst zur Darstellung von Kalisalpeter, wodurch der ostindische Salpeter verdrängt wurde, später auch zur Darstellung von Potasche nach dem Leblanc-Verfahren, aber erst im Laufe der Zeit wird die natürliche Potasche verdrängt. Der Verbrauch an Carbonat steigt immer noch, Kaliseifen und -gläser werden mehr und mehr geschätzt, für viele technische wichtige Säuren wird es unentbehrlich, weil es mit denselben die erwünschten gut krystallisirenden Salze erzeugt: Kaliumbichromat, Jodkalium, Kaliumchlorat, Ferrocyankalium, Kaliumpermanganat. Hervorragende Bedeutung bekommen die Stassfurter Salze, vor allem Chlorkalium, Kainit, Kaliumsulfat für Amerika, welches jene Salze für seine Kalipflanzen: Tabak und Baumwolle in ausserordentlich grossen Mengen einführt. Die Düngerindustrie, welche bis dahin ausschliesslich nur die Knochenkohlenrückstände der Zuckerindustrie verarbeitet hatte, erhielt neue Nahrung durch die Entdeckung der grossen Phosphoritlager an der Lahn im J. 1864. In die 60 er Jahre fallen auch die Anfänge der deutschen Theerverarbeitungsindustrie: die Theerproducten- und Theerfarbenindustrie, welche anfangs nach den in England und Frankreich erfundenen Verfahren arbeitete. Doch ertheilen wir jetzt das Wort einem Manne, der den nun auf industriellem Gebiete beginnenden Siegeslauf als Bannerträger, Vorkämpfer und Bahnbrecher mitgemacht hat. Bitten wir H. CaroUeber die Entwickelung der Theerfarbenindustrie 1893, S. 64 und S. 7., uns die Erfolge der kommenden Zeit zu schildern: „Kein goldtragendes Monopol stand an der Wiege der deutschen Industrie. Noch gab es kein deutsches Reich und kein deutsches Patent. Es fehlte der Unternehmungsgeist und das Kapital. Man misstraute der eigenen Kraft und ahmte die fremden Erfindungen nach, England und Frankreich waren dem Absatze durch Patente verschlossen, nur schüchtern und ungeschützt wagten wir uns auf den Weltmarkt hinaus. Noch war der deutsche Gewerbefleiss nicht in fremden Ländern geachtet, im Inland hemmte die staatliche Zerrissenheit seine Entfaltung; kein einheitliches Recht, Geld, Maass und Gewicht, schwerfällig und unentwickelt der Verkehr, abhängig von den Rohproducten, Maschinen und Erzeugnissen des Auslandes, im ersten Aufschwung begriffen unsere Montan- und Textilindustrie. Noch unterschätzten die deutschen Bundesregierungen die mächtige, wirthschaftliche Triebkraft der chemischen Lehre. Noch waren die flammenden Worte von Liebig »über den Zustand der Chemie in Preussen« nicht beherzigt, noch harrten die grossen Lehrstätten von Bonn und Berlin ihrer glänzenden Auferstehung. Es wirkte Hofmann in England als geistiger Mittelpunkt der dortigen Industrie, es gründete Kekulé seine Schule in Gent, in fremder Sprache und Schrift mussten wir die erste Kunde seiner neuen Lehre vernehmen, und in den Laboratorien und Fabriken des Auslandes weilten spätere Gründer, Leiter und Berather unserer grossen Werke. „Da haben wir denn mit schwachen, geistigen und materiellen Waffen, auf engem Gebiete, vorsichtig und zagend den Industriekampf aufgenommen. Die freie Concurrenz war unser Sporn. Hart kämpfte man mit dem Landsmann um die eigene Existenz, zur gewagten Selbstausbeutung neuer Erfindungen fehlte der Muth und der Schutz. Man ging den sicheren und leichteren Weg. Zuerst ermittelte man die Absatzquellen für die im Auslande bezogenen neuen Producte und machte sich auf das genaueste mit den Bedürfnissen des Marktes vertraut. Dann griff man zur Auswahl unter den bewährtesten fremden Patenten und begann die eigene Fabrikation. Bald aber unterband das französische Monopol auf das Fuchsin und seine Anwendung die freie Entwickelung der dortigen Farbenindustrie und, sich wiegend in der geträumten Sicherheit des Patentes, blickte man sorglos auf den strebsamen deutschen Nachbar. In England fiel das Fuchsinpatent und der Markt wurde frei. Die Führer der englischen Farbentechnik traten von dem Schauplatze ihrer Thätigkeit ab, ein ebenbürtiger Nachwuchs war nicht vorhanden, Hofmann kehrte nach Deutschland zurück. „So ist unsere deutsche Industrie aus kümmerlichen Anfängen hervorgegangen, eine ernste und sorgenvolle Schule hat sie durchgemacht. Aber die Arbeit hat ihre Kräfte gestärkt und die Wissenschaft war ihre treue Stütze. „Und als dann die grosse Zeit der deutschen Siege kam und nach ihnen die Auferstehung des deutschen Reiches, da fand auch die Industrie auf den Schlachtfeldern, was ihr noch fehlte: das Selbstvertrauen, das Bewusstsein der eigenen Kraft. Ueberall regte sich frischer Unternehmungsgeist, das Kapital wandte sich den chemischen Betrieben zu, grosse Werke und Gesellschaften entstanden. Deutsche Erfindungen traten bei uns in das Leben, allen voran das künstliche Alizarin. Bald macht sich auch der Einfluss des deutschen Patentes geltend. Sein erstes Gebot heisst: Du sollst nicht nachahmen! Finde selbst! „Der Bedarf der Farbstofftechnik hat in erheblichem Grade auf die Productionssteigerung und Verbesserung der chemischen Grossindustrie eingewirkt und das Hinzutreten neuer Fabrikationszweige veranlasst. Gleich anfangs rief die Beschaffung des Nitrobenzols für die Erzeugung des Anilins eine vermehrte, sich schnell steigernde Nachfrage nach Schwefelsäure und Salpetersäure wach, in rascher Folge wurden zahlreiche neue Gebrauchszwecke für das Nitrirgemisch ermittelt und bald musste man auf eine Verwerthung der Abfallsäure im Schwefelsäurebetriebe bedacht sein. Das Fuchsin führte zur Massenfabrikation der früher nur in geringen Mengen für den Kattundruck hergestellten Arsensäure und damit zu einer weiteren Ausdehnung der Salpetersäurefabrikation, zugleich auch zu der Regeneration der Salpetersäure aus den nitrosen Dämpfen und zu der Wiedergewinnung des Arseniks aus den sich bedrohlich anhäufenden Fuchsinrückständen. Mit dem Eintritt der Sulfosäuren in die Technik, namentlich als Hilfsmittel der Alizarin-, Resorcin- und Naphtolfarbenindustrie, wurden an die Schwefelsäureproduction neue Anforderungen gestellt, man verlangte nicht nur mehr, sondern auch stärkere Säure, vom Monohydrat bis zum Anhydrid. Verbesserungen entstanden im Bleikammerbetrieb, in den Concentrationsmethoden, und das mittelalterliche Verfahren des Nordhäuser Vitriolöles musste der eleganten Synthese von Clemens Winkler weichen. Durch das nun zugänglich gewordene Anhydrid sind wiederum Fortschritte auf dem Gebiete der Sulfosäuren, der Anthracenfarbstoffe und des künstlichen Indigo ermöglicht und damit auch neue Impulse dem Schwefelsäurebetrieb und der Gewinnung seines Ausgangsmaterials, der schwefligen Säure, aus den Röstgasen des Schwefelkieses und der Zinkblende gegeben worden. Auch für das Schwefelsäurechlorhydrin stellt sich eine Nachfrage ein. Eine mächtige Triebfeder in der Productionserhöhung des kaustischen Natrons war die Alkalischmelze der Anthrachinonsulfosäuren und die später folgende Anwendung derselben Methode zur Erzeugung des Resorcins, der Naphtole und zahlreicher anderer Schmelzproducte. Unterstützend wirkte der inzwischen begonnene Concurrenzkampf der Solvay- und Leblanc-Sodaverfahren und die in der Perspective sich zeigende Elektrolyse des Kochsalzes. Mit der Ammoniaksoda war die Alkaliindustrie in eine neue Phase der Entwickelung und geographischen Vertheilung eingetreten, die bis dahin bestandene Suprematie Englands fühlte sich bedroht, zu ihrer Erhaltung musste auf wissenschaftlicher Bahn die bisherige Productionsmethode vervollkommnet, eine bessere Verwerthung der Nebenproducte, des Sodaschlammes und der Salzsäure, aufgesucht werden. Doch auch die deutsche chemische Grossindustrie nahm frühzeitig Antheil an dieser Bewegung und, obgleich hart bedrängt, stellte sie mehr und mehr der heimischen Farbstofftechnik die früher vom Ausland bezogenen, durch Fracht und Zoll vertheuerten Hilfsmaterialien zur Verfügung. Und mehr noch; unter einer einsichtsvollen Zollpolitik trat an Stelle des Imports in immer steigendem Maasse die Ausfuhr der Soda, des zu ⅘ aus Ammoniaksoda erzeugten kaustischen Natrons, selbst der Schwefelsäure, der Salzsäure und des Chlorkalks. Aber die Gegenbewegung der englischen Alkaliindustrie hat eine mächtige Vereinigung ihrer Betriebe in das Leben gerufen und es wird unablässiger Fortschritte bedürfen, um den bisherigen Erfolg zu sichern. „Auch auf andere Erzeugnisse der anorganischen Chemie sehen wir den Einfluss der Farbenindustrie sich erstrecken. Die Chlorirung des Toluols, des Naphtalins, des Anthracens, die Darstellung des Phosphors, der Chloride des Phosphors und anderer Chlorverbindungen gesellt sich zu den früheren Verwendungen des Chlors und führt schliesslich zu seiner Darstellung im verflüssigten transportfähigen Zustande. Die Druckschmelze des Alizarins, die Erzeugung des Anilinschwarz in der Faser erfordern die Mitwirkung der Chlorate, die Oxydation des Anthracens zum Anthrachinon ruft die Fabrikation des chromsauren Natrons in grossem Umfange hervor, die Hofmann'schen Jodviolette und das Jodgrün steigern zuerst den Absatz des Jods, das Eosin erhöht den Bedarf an Stassfurter Brom, durch die Diazo- und Nitrosoverbindungen wird das Natriumnitrit zu einem Handelsartikel, Bleisuperoxyd erweist sich als das geeignete Oxydationsmittel der Leukoverbindungen, und Natrium findet seine Verwendung in der Darstellung des Antipyrins. Verflüssigte Kohlensäure, schweflige Säure, Ammoniak werden gebräuchliche Reagentien. Der Färberei der Theerfarben werden neue Chrom-, Antimon-, Rhodan- und Fluorverbindungen als Beizen zugeführt. „Aus der anorganischen Technik, abhängig von deren Erzeugnissen und industriellen Entwickelung, sind aber auch die Fabrikationszweige der organischen Hilfsmaterialien hervorgewachsen, welche für die Herstellung und den gewerblichen Gebrauch der synthetischen Theerfabrikate erforderlich sind, vor allem die Producte der Alkoholindustrie und der trockenen Destillation des Holzes: Alkohole, Halogenalkyle, Aether, Aldehyde, Aceton, Essigsäure, daran sich anschliessend: das Glycerin der Fette, die aus der Kalischmelze des Sägemehls hervorgehende Oxalsäure, ferner Weinsäure und Bernsteinsäure, die Gallussäure der Galläpfel und das, Tannin. Die bewährte Beize der basischen Anilinfarbstoffe, das aus dem Ricinusöl mittels Schwefelsäure erzeugte Türkischrothöl.“ Die Aufrichtung des Deutschen Reichs, die einheitliche Regelung von Recht, Geld, Maass und Gewicht, die Zollpolitik, das Patentgesetz, das Zusammenarbeiten von Wissenschaft und Technik, die unversiegbar fliessende Quelle wissenschaftlich gebildeter Chemiker, welche der Industrie die Wahl unter Vielen lässt, die Erziehung des Arbeiterstandes in Volksschule und Heer, alle diese Umstände haben zusammengewirkt und der deutschen chemischen Industrie die erste Stellung auf dem Weltmarkte verschafft. Ueber die Ausbildung des Chemikers, dieses wichtigsten Faktors, der bei chemischen Unternehmungen in Frage kommt, hat man sich in Deutschland lange darüber gestritten, ob es besser sei, erst auf dem Gymnasium Latein und Griechisch und dann auf der Universität Chemie und verwandte Fächer zu studiren, oder aber, ob der spätere Erfolg dadurch eher gewährleistet sei, dass der zukünftige Chemiker auf der Realschule Französisch und Englisch, Mathematik und Zeichnen, später dann auf der technischen Hochschule ausser dem gründlichen Studium von Chemie und anderen naturwissenschaftlichen Fächern auch die Sprachen lerne, mittels derer man sich dem Ingenieur gegenüber bezieh. in der Technik überhaupt ausdrückt. Seitdem Männer wie G. Lunge, W. H Perkin, H. Caro sich zu Gunsten der letzteren Auffassung geäussert haben, hängt die Wagschale, auf welche die Gewichtsgründe für die humanistische Ausbildung des Chemikers niedergelegt worden sind, hoch in der Luft. Heinrich Caro, jener eminente Chemiker und Techniker, äussert sich über seinen Standpunkt wie folgt: „Man unterscheidet gegenwärtig zwischen dem Laboratoriums- und Betriebschemiker. Der eine ersinnt die Verfahren und stellt ihre wissenschaftlichen Bedingungen fest. Der andere führt sie in die Praxis ein, überwacht und verbessert ihren täglichen Betrieb. Beide Berufstätigkeiten lassen sich selten heute noch vereinigen. Für beide ist eine das gesammte chemische Gebiet umfassende und bis zur selbständigen Lösung chemischer Probleme gesteigerte, theoretische Vorbildung die Grundbedingung des späteren Erfolges, insbesondere für den Betriebschemiker, der durch seine Berufspflichten leichter die Fühlung mit der Wissenschaft verliert. Diese Vorbildung kann man sich auf der Universität wie auf der technischen Hochschule erwerben. Es hängt von dem Lehrer und seinem persönlichen Beispiele ab, ob der Chemiker zum Forscher erzogen wird. Auch die für jeden erforderliche allgemeine Kenntniss der angewandten Chemie und ihrer Arbeitsund Untersuchungsmethoden lässt sich an beiden Lehrstätten erlangen. Aber der Betriebschemiker – will er nicht, bei der immer mehr sich vollziehenden Arbeitstheilung, ein einseitiger Autodidakt in seiner späteren Praxis verbleiben – bedarf ausserdem einer Vorbildung in den mechanischen Fächern, wie sie bis jetzt nur die technische Hochschule bietet. Allerdings haben erfahrungsgemäss auch besonders praktisch veranlagte Jünger der wissenschaftlichen Hochschulen sich zu hervorragenden Betriebsleitern in der Farbstofftechnik herangebildet. Doch sind dies Ausnahmen, mit welchen sich schwer im Voraus rechnen lässt. Daher gibt man in der Regel dem wissenschaftlich und technisch vorgeschulten Chemiker den Vorzug bei der Anstellung im Betriebe.“ Nicht unerheblichen Antheil an der Schaffung fabrikatorisch gesunder Zustände hat die chemische Berufsgenossenschaft: S. S. 14: Ueber die Entwickelung der Theerfarbenindustrie 1893. Der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie DeutschlandsVgl. den Führer durch die Ausstellung der chemischen Industrie Deutschlands, S. 8., dessen Sitz in Berlin ist, gibt jährlich Gelegenheit zum mündlichen Meinungsaustausche an wechselnden Orten und behandelt alle die Industrie interessirenden Fragen in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift: Die chemische Industrie. Er sorgt für die Vertretung der deutschen chemischen Industrie nach aussen, für die Geltendmachung ihrer Bedürfnisse der Reichsregierung gegenüber, sowie für den erspriesslichen Verkehr der Fabriken unter sich. Der Verein besteht aus 8 Sectionen, deren Sitz in denjenigen Industriebezirken Deutschlands ist, wo sich in Folge günstiger Verkehrsverhältnisse oder in Folge anderer Momente, wie z.B. Vorkommen von Rohstoffen, Industriecentren gebildet haben. Folgende Tabelle zeigt, wo die Industrie sich hauptsächlich angesiedelt hat, sie gibt auch Einblicke in die Bedeutung der Betriebe und die Zahl der darin beschäftigten Arbeiter. Section: Zahl derBetriebe: Zahl derArbeiter: I. Berlin   884 13596 II. Breslau   497   6267 III. Hamburg   737 15337 IV. Köln   810 16585 V. Leipzig 1090 16478 VI. Mannheim   418 15683 VII. Frankfurt a. M.   369 10590 VIII. Nürnberg   470   5749 1891 erhielten in Deutschland 100285, in 5273 chemischen Betrieben beschäftigte und versicherte Arbeiter an Löhnen und Gehältern 83855957 M. für 29979280 Arbeitstage. Frankreich. Die Gewerbe der früheren Jahrhunderte haben sich in dem frühzeitig geeinten Frankreich stetig und verhältnissmässig ungestört entwickeln können und haben auch vielfach durch von Franzosen ausgehende Erfindungen, theils auch durch Herübernahme fremdländischer Gewerbe Vervollkommnung, Erweiterung und Vervielfältigung erfahren. Schon gegen Ende des Mittelalters legte man in Frankreich grössere Glasfabriken an und später erfindet man die Kunst: Glas zu giessen, stellt Tafelglas her. Im 16. Jahrhundert nimmt man die Majolika von Italien herüber, welche durch Pallissy ihre hohe Blüthe erreicht; etwa zur selben Zeit wird die bis dahin nur in Spanien ausgeübte Kunst der Bereitung des „weissgaren Leders“ in Frankreich eingeführt. Auch die Arzneimittel und Malerfarbenbereitung stand in jener Blüthezeit der französischen Kunst und Wissenschaft in hohem Ansehen. Seit 1695 machte man Frittenporzellan in St. Cloud, später seit 1740 auch in Sevres. Nach der Entdeckung der Kaolinlager zu St. Yrieix im J. 1774 fabricirte man auch Hartporzellan am letztgenannten Orte. Mitte des 18. Jahrhunderts wird auch die Türkischrothfärberei eingeführt und der Zeugdruck ausgebildet. Die französische Revolution reizte und förderte eher den Erfindungsgeist, legte aber die Gewerbe lahm und zog das Interesse von der Verwerthung der Erfindungen ab. So ist die 1793 von Clément und Desormes gemachte Erfindung: die schweflige Säure mit Luftsauerstoff unter Verwendung von Salpeter als Sauerstoffüberträger zu oxydiren, für Frankreich zunächst wenig fruchtbringend geworden. Man fabricirt zwar Schwefelsäure, aber nur in kleinem Maasstabe, weil die Gewerbe darniederliegen. Man fabricirt auch andere Chemikalien, zersetzt Kochsalz mit Schwefelsäure, bereitet Glaubersalz, fängt die Salzsäure auf und spaltet letztere nach der Scheele'schen Methode. Das entstehende Chlor leitet man auf Anregung Berthollet's in Potaschenlauge ein und bereitet die zum Bleichen und Aetzen verwendete Flüssigkeit, das „Eau de Javelle“. Als zur selben Zeit die natürliche Soda und die grossen Mengen aus Landpflanzen gewonnene Potasche für den, namentlich durch die Baumwollindustrie mächtig gesteigerten Verbrauch an Seife nicht mehr ausreichten, löste Leblanc 1791 das Problem, Soda aus Kochsalz bezieh. Natriumsulfat darzustellen. Aber auch er erhält nicht die nöthige Unterstützung, er stirbt 1806 im Armenhause und nach wie vor importirt man von Spanien die Barilla-Soda und verwendet diese zur Herstellung der weltberühmten Marseiller Seife. Nicht die Industrie und der Handel, sondern die Politik nimmt in jener Europa erschütternden Zeit das Interesse in Anspruch. So kommt es, dass die in Frankreich ihren Anfang nehmende moderne chemische Industrie erst im Auslande lebensfähig und leistungsfähig wird. Die Schwefelsäureapparatur erhält zwar durch Gay-Lussac 1827 noch einen ihrer wesentlichsten Theile zugefügt, aber England hat bereits die neue Industrie an sich gezogen und seinem grossen Industrieorganismus eingegliedert und bildet in der Folge das aus, was wir die chemische Grossindustrie nennen. Nach englischem Muster richtet man dann in anderen Ländern, vor allem auch in Frankreich, Sodafabriken ein. Dagegen entwickelt sich die von Deutschland nach Frankreich verpflanzte Rübenzuckerindustrie so rasch, dass in diesem Lande Ende der 20 er Jahre schon über 50 Fabriken bestehen. Auch die Erfindung Guimet's hat die Schaffung einer nationalen Ultramarinindustrie im Gefolge, welche Fabrikation ihrerseits wieder anregend auf die in Frankreich seit Jahrhunderten gepflegte Farbenbereitung wirkt. Die folgende Zeit festigt und erweitert das Bestehende und bringt Neues hinzu. Die Producte der landwirthschaftlich chemischen Gewerbe, vor allem Zucker, Leder, Seife, ätherische Oele, die Fabrikate der Färberei und Druckerei, die Farbholzextracte erobern sich erste Stellung auf dem Weltmarkte. Die Ende der 50 er Jahre in französischen Färbereien erblühende Anilinfarbenindustrie scheint für Frankreich eine Epoche zu bedeuten. Aber schon nach kurzer Zeit unterbindet ein Monopol die freie Entwickelung der jungen Industrie, das Ausland reisst dieselbe an sich und ehe das Land den Schaden repariren kann, bricht der Krieg herein, nimmt der französischen Industrie eines seiner besten Absatzgebiete, dazu auf Jahre das Vertrauen in die eigene Kraft und in die Zukunft. Erst seit Mitte der 70 er Jahre nimmt Frankreich wieder regeren Antheil an der Schaffung einer nationalen chemischen Industrie. Man errichtete Theerfarbenfabriken und Präparatenfabriken, man gründet die grosse Ammoniaksodafabrik in Dombasle. Heute besitzt Frankreich eine anderen Ländern ebenbürtige Grossindustrie, auch eine den inländischen Bedarf grossentheils deckende chemische Kleinindustrie, es nimmt Antheil an der Lösung der grossen chemisch – technischen Probleme der Zeit (Pechiney) und hat die moderne Industrie der Kriegssprengstoffe lebensfähig gemacht (Berthelot) und geschaffen (Vieille, Turpin). Grossbritannien. Die chemische Grossindustrie ist eine englische Industrie, die im Laufe der Zeit, namentlich in den letzten drei Jahrzehnten auch nach anderen Ländern verpflanzt worden ist und dort eigenartige Ausarbeitung bezieh. Umgestaltung erfahren hat. Seiner Zeit als zweifelhaftes Samenkorn von Frankreich nach England gebracht, ist sie in diesem Lande zum herrlichen Früchte tragenden Baume ausgewachsen. Der Baum ist im Laufe der Zeit vielfach veredelt worden, auch andere Länder haben ihm frische Reiser aufgepfropft und neue prächtige Früchte sind davon erhalten worden. Ein Trieb hat sich besonders rasch und kräftig entwickelt, ist zum riesigen, den einstigen Wipfel überschattenden, ihm die Lebensbedingungen raubenden Aste geworden, ein anderer Spross scheint schon in der Knospe die zukünftige Kraft und Macht der Entfaltung errathen zu lassen. Wir meinen den in der Vollkraft sich befindenden Ammoniaksodaprocess und das erst sich entwickelnde elektrolytische Kochsalzspaltverfahren. Das Ammoniaksodaverfahren ist es, welches dem Leblanc-Processe in England als unversöhnlicher Gegner den Untergang bereitet, und man muss nach neuesten Nachrichten glauben, dass das Leben der alten Industrie eigentlich nur noch von der Gnade des Gegners abhängt, bezieh. dass man bei jenem Processe seit neuerer Zeit Salzsäure als Hauptproduct gewinnt, dass Natriumsulfat aber als lästiges Nebenproduct abfällt, das man, so gut es geht, auf Soda, Antichlor und Schwefel verarbeitet. Aber auch der heute in vollem Lichte erstrahlende Ammoniaksodaprocess scheint in nicht allzuferner Zukunft vor dem wie eine neue Sonne am fernen Horizonte auftauchenden Kochsalzzersetzungsprocesse auf elektrolytischem Wege erbleichen zu sollen. Die Katastrophen sind aufgethürmt und wird bei einer Auslösung England als „nur Soda producirendes Land“ vor allem ein grosser „Trust“ am meisten davon betroffen werden, wird am meisten Anstrengungen machen müssen, das gewonnene Terrain auf dem Weltmarkte zu behaupten. Heute liefert England noch einen grossen Theil seiner von der chemischen Grossindustrie erzeugten Producte nach überseeischen Ländern, vor allem Amerika, Russland u.s.w. Für Deutschland kommt England nur noch als Quelle für Ammoniak und Theerproducte in Betracht, Stoffe, die bei der sehr entwickelten Kohlen Verarbeitungsindustrie abfallen. Mit jenen Producten kann es selbst darum nichts anfangen, weil ihm die Bedingungen fehlen, welche zur Veredlung der Theerproducte nöthig sind, vor allem der billige, dabei wissenschaftlich hochgebildete, der Fabrikdisciplin sich willig unterordnende, jeder Zeit auswechselbare Chemiker, der mit einem Fusse in der Technik, mit dem anderen in der Wissenschaft steht. England besitzt wohl grosse Theerverarbeitungsanlagen, aber keine dem Lande auch nur annähernd angemessene 1und Ganzen bereitet man in den englischen Theerfarbenfabriken nur die alten, durch Patente nicht geschützten Farbstoffe. Nur sehr wenige Neuerungen gehen auf jenem Gebiete von englischen Chemikern aus. Auch die Fabrikation chemischer Präparate ist zurückgeblieben, hat mit der deutschen Schwesterindustrie nicht Schritt gehalten, dagegen leistet man in der Bereitung der Malerfarben von jeher Hervorragendes. Russland hat eine bedeutende Leder-, Spiritus- und Zuckerindustrie, es besitzt Seifen-, Soda- und Schwefelsäurefabriken, Düngerfabriken, Farbholzextract- und Ultramarinfabriken, auch einige Werkstätten, in denen man chemische und pharmaceutische Präparate bereitet, es hat eine sehr ausgedehnte und auf hoher Stufe stehende Färberei und Druckerei, kurz das Land emancipirt sich, sucht sich unabhängig zu machen und steht zu erwarten, dass ihm das, wenn auch langsam, gelingen wird und das um so eher, da Russland alljährlich in seinen chemischen Instituten eine grosse Anzahl tüchtiger Chemiker, die ausserordentlich billige Arbeit leisten, heranbildet. Hochbedeutend ist die russische Naphtaindustrie, welche Erdöl auf Leucht- und Schmieröle verarbeitet. Ihr Hauptsitz ist Baku, die Raffinerien sind indessen über das ganze Reich verbreitet und liegen dann entweder an den grossen Strömen oder an Seehäfen. Die zum Raffiniren der Mineralöle nöthige Schwefelsäure wird in Russland selbst bereitet, ebenso die zur Vaselindarstellung gebrauchte rauchende Schwefelsäure, dagegen führt man den grössten Theil des kaustischen Kalis immer noch von England aus ein. In neuerer Zeit regenerirt man in Baku auch die Abfallsäuren und selbst das zum Laugen der sauren Oele gebrauchte Alkali. Die Hauptindustriesitze sind Baku, Odessa, Moskau, Warschau, St. Petersburg, Riga. (Fortsetzung folgt.)