Titel: Allgemeine Fragen der Technik.
Autor: P. K. von Engelmeyer
Fundstelle: Band 311, Jahrgang 1899, S. 101
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Allgemeine Fragen der Technik. Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau. (Fortsetzung von S. 69 d. Bd.) Allgemeine Fragen der Technik. In den 80er Jahren erwirbt die neue Denkrichtung immer mehr Anhänger. Es wird allgemein von der Einwirkung der Technik auf die gesamte Kultur gesprochen. M. M. v. Weber sieht in seiner kurzen Schrift: „Die Entlastung der Kulturarbeit durch den Dienst physikalischer Kräfte“ (1880), das höchste Problem der Zivilisation, „in Welchem der Schwerpunkt der gesamten Kulturarbeit liegt“, in der „Entlastung des Menschen von seiner Körperlichkeit“ (S. 3). Wie das letzte Wort zu fassen sei, ist nicht gesagt: ob es die Arbeit bedeute, welche die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse erheischt, oder die Bedürfnisse selbst? In seiner Ausführung neigt sich der Verfasser bald der einen, bald der anderen Deutung zu. Die Technik erhält folgende Definition: „In der That ist die praktische Darlebung der induktiven Wissenschaften nichts anderes, als die moderne Technik“ (S. 11). Der Gedanke ist richtig, nur ist die Ausdrucksweise viel zu unbestimmt. Im weiteren lesen wir, dass die stehende Dampfmaschine das Werk eines Mannes (Watt's) sei, desgleichen die Lokomotive (Stephenson's) (S. 12 und 13). Das ist durchaus nicht der Fall: nach Stephenson's eigenem Geständnis ist die Lokomotive das Werk einer ganzen Generation von Ingenieuren. Indessen übt jene Aeusserung von Weber keinen weiteren Einfluss auf seine übrigen Darlegungen. Die richtige Ansicht verteidigend, dass die Dienstbarmachung der physikalischen Kräfte die Menschheit von ihrer Körperarbeit entlastet, sagt Weber: „Welche Bewegungskräfte der Zivilisation dadurch zur Verfügung stehen, dafür mögen die Thatsachen sprechen, dass in 1 kg Kohle die Kraft enthalten ist, welche ein starker Mann zum Besteigen des Montblanc braucht; dass ein metrischer Zentner dieses Stoffes ein Bataillon Infanterie, eine Eskadron Reiter oder eine Batterie auf der Eisenbahn 1 Meile weit transportiert; dass gute Apparate einen Achtel metrischen Zentners Kohle in die Tagesleistung eines starken Pferdes verwandeln; die Verbrennung von 2 kg aber zwei Menschenarme von harter, geisteshindernder Tagesarbeit entlasten“ (S. 16). Solche Angaben sind am besten dazu geeignet, die Augen des grossen Publikums zu öffnen. Und die Techniker sind gerade im vollen Besitz derselben. Nun kommen auch Techniker an die Reihe. Die geistreiche Schrift von Fr. Reuleaux: „Kultur und Technik“ (Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure, 1885 S. 24 und 41), zieht unsere volle Aufmerksamkeit auf sich. Reuleaux vertritt die Ansicht, dass die Technik und besonders die „wissenschaftlich begründete Technik unserer Tage“ einen mächtigen „Kulturhebel“ und „Kulturfaktor“ bildet. Das Wesen der technischen Methode tritt endlich in den vollen Sonnenschein: „Bringen wir unbelebte Körper in solche Lagen, solche Umstände, dass ihre naturgesetzliche Wirkung unseren Zwecken entspricht, so können wir sie für belebte Wesen und statt derselben Arbeit verrichten lassen“ (S. 26). Das ist wirklich der Weg, auf dem die Technik alle ihre Ziele erreicht. Dass die Technik in der Naturkunde fusst, ist in der Formel ebenfalls betont: suchen wir nämlich eine unseren Zwecken entsprechende Wirkung natürlicher Körper, so müssen wir sie wissenschaftlich zu ergründen suchen. Mit Genugthuung heben wir noch hervor, dass Reuleaux das Wort Arbeit hier in dem weitesten Sinne gebraucht. Dass er diesem Worte in seiner Maschinentheorie nur den mechanischen Sinn unterlegt (worüber später die Rede sein wird), hat ihn, wie auch manche andere, verhindert, das Maschinenproblem in seinem vollen Umfange zu lösen. Die Technik benutzt mechanische, physische und chemische Kräfte. „Sie für uns wirken zu lassen, bedurfte es eines grossen Rüstzeuges von mathematischen und Naturwissenschaften. Dieser ganze Apparat also ist es, dessen Anwendung wir, gleichsam als Privilegium ausüben“ (S. 26). Dieses Privilegium gehört uns, „Atlantikern“ (Europäern und Nordamerikanern), die darum „die Geschichte machen“. Die übrigen, an Zahl uns weit überlegenen Völker „erleiden die Geschichte“, weil sie fern stehen dem Prinzip der Dienstbarmachung der Naturkräfte, das Reuleaux „Manganismus“ nennt, welcher Ausdruck sich jedoch keines Erfolges erfreut. Die Macht dieses Prinzips erläutert Reuleaux mit folgendem drastischen Beispiel: Nach den statistischen Daten jener Zeit werden „für jeden der 300 Arbeitstage des Jahres 1⅓ Million Tonnen Kohle“ verbraucht. Die dabei entwickelte mechanische Kraft, auf Menschenleistung berechnet, ersetzt „540 Millionen Männerstärken, thätig während 12 Tagesstunden“. „Diese gewaltige Kraftleistung ist es aber, welche wir 250 Millionen Atlantiker ganz allein – denn die anderen 1250 Millionen Naturisten tragen nichts dazu bei – der Menschheit durch das manganistische Prinzip zugeführt haben“ (S. 45). Die Naturvölker betreffend, nimmt Reuleaux an, dass sie alle eigenhändig arbeiten, und dass nur ein Zehntel derselben fähig ist, jene 12stündige Arbeit zu verrichten. Darum schätzt er die Gesamtleistung der „Naturisten“ auf nur 125 Millionen Männerstärken. „Wir Atlantiker, das Sechstel der Erdenbewohner, leisten aber mit unserer manganistischen Arbeit weit über 4mal so viel, als jene leisten können“ (S. 45). Die Beherrschung der Naturkräfte geschieht, nach Reuleaux, durch folgende Einrichtungen: Laufwerk, Sperrwerk, Spannwerk, Fangwerk, Schaltwerk, Schliesswerk und Hemmwerk, welche insgesamt Triebwerke heissen. Wer sich des näheren für dieselben interessiert, den verweisen wir auf Reuleaux's Abhandlung. Wir bemerken nur, dass diese Zusammenfassung des vielerfahrenen Technikers wirklich die grösste Aufmerksamkeit verdient. Dass hier nicht nur lediglich die mechanische Kraft in Betracht gezogen ist, lehrt folgende Erläuterung: Reuleaux sieht „im Kesselfeuer ein ausgelöstes chemisches Spannwerk; in dem Dampfkessel ein von ihm gespanntes physikalisches Spannwerk; in der recht eigentlichen Dampfmaschine, bestehend aus Kolben, Cylinder und Steuerung, ein vom vorigen getriebenes mechanisches Hemmwerk“ (S. 43). Reuleaux's Standpunkt kann man folgendermassen kurz bezeichnen: Die moderne Technik gründet auf der Wissenschaft. Diese entspringt aber dem Wissenstrieb. Wo letzterer mangelt, bleibt die Nation ein Sklave der Natur. Der Wissenstrieb hat aber die Kultur bei den anderen Völkern begründet und sie zu Herrschern der Natur emporgehoben. Mit Hilfe der dienstbar gemachten Naturkräfte leisten wir nicht nur weit mehr als jene Völker, sondern es bleibt uns auch noch Geisteskraft übrig, kulturell weiter fort zu schreiten. Dieser Ansicht gebührt die volle Anerkennung; nur hat sie Reuleaux nicht in ihrem vollen Umfange erschaut, denn er vertritt die Ansicht, dass die Beherrschung der Natur lediglich nur in der Beherrschung der Kraft (Energie) allein bestehe. Zu den anderen Technikern schreitend, welche an den allgemeinen Fragen der Technik sich beteiligten, muss ich zugestehen, dass ich selbst jener Ansicht Reuleaux's, in ihrer Eingrenzung, Zoll gezahlt habe und dieselbe in einer russisch verfassten Schrift über die „ökonomische Bedeutung der Technik“ (1887) entwickelt habe. Es war die Zeit, wo man bei der Fülle der elektrotechnischen Neubildungen nicht mehr wusste, ob nicht dieser noch im Werden begriffene Zweig der Technik dazu berufen war, diese selbst in sich aufzunehmen. Alle Aufgaben der Technik schienen in die eine auszulaufen, in der Natur neue Kraftquellen aufzusuchen. Jedoch habe ich mich bemüht, an allgemein zugänglichen Beispielen darzulegen, dass die Technik nicht nur in der Elektrotechnik, sondern auch anderwärtige Mittel bereits besitzt, um die verschiedensten, von der Natur dargebotenen Kräfte zu fangen, fortzupflanzen und zu verwerten. Nach einer Uebersicht aller industriell verwertbaren Naturkräfte, samt der sie auffangenden Vorrichtungen, wurden die verschiedenen Methoden der Aufspeicherung und der Uebertragung der Kräfte erläutert. In der Voraussetzung, dass auf diesem Wege eine Zeit erreicht wird, wo der Mensch im weitesten Masse eine jede frei waltende Naturkraft für die Industrie dienstbar macht, wird am Ende der Schrift auseinander gesetzt, dass der Gebrauch der Dampfmaschine sich dementsprechend auf die Kohlendistrikte begrenzen wird, so dass die Auslagen der Industriellen an Betriebskraft sich mehr und mehr proportional dem Kraftverbrauche gestalten werden, und dass endlich diese Wendung eine wesentliche Unterstützung für die Kleinindustrie sein wird. Auf meine 1898 in russischer Sprache verfasste Schrift: „Die Bilanz des 19. Jahrhunderts“, komme ich später noch zurück. A. Lammers, in seiner „Erhöhung der Kraft in Menschen und Völkern“ (1887), scheint einen dem Reuleaux'schen ähnlichen Standpunkt zu vertreten, doch unterschiebt er dem Worte Kraft eine nicht definierte ungewöhnliche Bedeutung, so dass einmal darunter die physikalische Kraft, ein anderes Mal die politische Macht, dann wieder die Ethik, der moralische Bewegungsgrund gemeint wird. So lesen wir z.B.: „An jeden Genuss sollten wir deshalb auch die Frage richten, ob er die Kraft erhöhen oder herabsetzen werde, ehe man sich ihm überlässt. Kraft, richtig verstanden, fällt diese Frage mit der des Sittengesetzes zusammen“ (S. 7). Auch Ad. Ernst, in seiner Festrede „Kultur und Technik“ (1889), hat uns nichts Neues gesagt, vielleicht auch nicht sagen wollen, denn seine Rede war für das grosse Publikum bestimmt und enthält nur eine unterhaltende Erläuterung der Sentenz: „Das Tier ist Sklave seiner Organe, der Mensch ist Herr seiner Werkzeuge“ (L. Noiré, „Das Werkzeug u.s.w.“, 1880). Wir kommen nun zu einer beachtenswerten Leistung, zu Jos. Popper's Werk: „Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung“ (1888). Mehrere Grundfragen der Technik sind hier höchst scharfsinnig und zugleich eigenartig behandelt. „Es sind jetzt ungefähr drei Jahrhunderte, während welcher die europäische Kultur mit Recht als eine hervorragend wissenschaftliche gekennzeichnet werden kann; die letzten zwei Jahrhunderte verdienen die spezielle Bezeichnung des Zeitalters der Naturwissenschaften, und nur seit etwas mehr als einem Jahrhundert kann man von einer Epoche der angewandten Naturwissenschaften, also von einem Zeitalter der systematischen technischen Fortschritte sprechen“ (S. 3). Schade, dass die Technik als Begriff nicht definiert ist: gesagt ist nur, die Wissenschaft diene der Vernunft, die Technik – unserem Nutzen und unserer Bequemlichkeit. Betreffs des Grundbegriffes der Schrift ist somit der Leser auf den schwankenden Sprachgebrauch angewiesen. Ein interessanter Grundgedanke des Werkes ist: „Beide, sowohl die wissenschaftliche als die technische Thätigkeit, dienen auch zur Befriedigung unserer Empfindung, und zwar unserer ästhetischen Empfindung, genau in jener Art, in der das seit jeher die Kunst zu bewirken im stände war“ (S. 4). „Genauer ausgedrückt, ist die Durchführung technischer Ideen ganz äquivalent der Vorführung eines Kunstwerkes, wobei die Naturforscher und Techniker die produzierenden Künstler und beinahe alle anderen Menschen die Zuschauer bilden“ (S. 15). Mit feinem Wahrheitssinn nennt Popper ästhetisch jene Freude, die einen erfüllt, wenn er von einer neuen technischen Leistung erfährt, wie solche z.B. seiner Zeit die Erbauung des Suezkanals und des Gotthardtunnels darboten. Es wird jedoch auch der Unterschied betont, der das technische Werk von dem Kunstwerke trennt: „Vor allem ist das Kunstwerk im gewöhnlichen Sinne beinahe immer in der Hauptsache das Werk eines einzigen Individuums“ (S. 18). „Ein technisches Werk kann von einem Individuum in der Idee erfasst und vielleicht nur bis zu einem gewissen, sogar niedrigen, Grade realisiert werden“ (S. 18). Die kulturelle Bedeutung der technischen Leistungen besprechend, sagt Popper: „Eine unbestrittene und längst hervorgehobene Wirkung der technischen Fortschritte in geistiger Hinsicht besteht darin, Länder und Völker einander zugänglich zu machen“ (S. 45). Dagegen darf man sich mit Popper billig wundern, „dass gerade für Beschaffung von Nahrung und Bekleidung unsere grossen technischen Errungenschaften am allerwenigsten zur Anwendung gelangen“ (S. 61). Diese Aeusserung will indessen berichtigt werden: Die Technik der Bekleidung, insbesondere die Textilindustrie, eröffnete zu Mitte des vorigen Jahrhunderts jenen Triumphzug der Technik, den wir jetzt erleben und dessen kulturelle Tragweite kaum jenem der Renaissancezeit nachsteht (Schiesspulver, Kompass, Buchdruck). Allenfalls ist der moderne Aufschwung unbestritten rascher und seine Förderung der gesamten Kultur energischer denn je. Das leibliche Wohl speziell berührend, unterscheidet Popper folgende technische Fortschritte: 1. solche, die einer gewissen Anzahl Menschen nützen, ohne anderen zu schaden, so die Heilkunde und hauptsächlich die Chirurgie; 2. andere, die einer gewissen Anzahl Menschen nützen, anderen mit Absicht schaden, so die Kriegstechnik; 3. solche, die den einen nützen, den anderen ohne Absicht schaden. Zu den letzteren zählt Popper alle industriellen Maschinen. Die Maschinenfrage soll uns später beschäftigen. Die Entlastungsfrage berührend, gibt Popper die berühmte Aeusserung Aristoteles' aus seiner Politik wieder: „Wenn... das Weberschiff von selbst zwischen Zettel und Einschlag hin und her liefe, oder der Schlegel des Zitherspielers von selbst die rechten Saiten träfe, so würden Menschenhände bei keiner Kunst zur Ausübung nötig sein. Ein Baumeister würde keiner Zimmerleute und Handlanger, und ebensowenig ein Herr und Hausvater der Dienstboten und Sklaven bedürfen.“ Diese Prophezeiung hat, nach Popper, fehlgeschlagen: die Aristoteles'schen Aufgaben sind zwar gelöst, allein die Knechtschaft ist nicht ausgerottet worden: der Leibeigene verwandelte sich in den Fabrikarbeiter. Inwiefern die Dampf kraft Menschenarbeit ersetzt, führt Popper eine, der Reuleaux'schen ähnliche Berechnung durch auf Grund der vom Preuss. Statist. Bureau veröffentlichten Zahlen. Danach „repräsentieren die Dampfmaschinen der ganzen Welt (46 Mill. ) annäherungsweise die Arbeit von 1000 Mill. Menschen oder mehr als das Doppelte der arbeitenden Bevölkerung, welche auf der ganzen Erde wohnt. Die ganze Erde hat gegen 1445923000 Bewohner. Der Dampf hat demgemäss die menschliche Arbeitskraft verdreifacht, er hat den Menschen in den Stand gesetzt, mit seiner physischen Kraft zu sparen und sich mit seiner intellektuellen Entwickelung zu befassen“ (S. 53). Jedoch, meint Popper, könne von einer Entlastung der Menschheit von der Arbeit nicht die Rede sein, weil auf der Stelle eines befriedigten Bedürfnisses immer wieder neue aufkeimen, so dass man oft „nicht im stände ist, zu sagen, ob das Bedürfnis die neue Maschine erzeugt hat, oder die Maschine das neue Bedürfnis“ (S. 51). „Das Pensum der zu leistenden Arbeiten innerhalb der menschlichen Gesellschaft wird aber immer grösser und mindestens ebenso wie die Maschinenleistungen wachsen, steigen auch die Anforderungen, so dass durch das Erfinden, das Herstellen und Bedienen aller dieser Maschinen und ihrer Nebenmaschinen und die vergrösserte wirtschaftliche Thätigkeit infolge des Funktionieren der stets neuen Fortschritte stets von neuem mechanische Menschenkräfte absorbiert werden“ (S. 57). In seiner Auffassung der Kultur schliesst sich Popper vollkommen Fr. Neumann (s. oben) an, wenn er sagt: „Es finde sich eine vollkommene Uebereinstimmung aller Menschen in dem Verlangen nach einer Kultur, d. i. Pflege ihrer Individualität“ (S. 38). Endlich kommt auch das richtige Verhalten der Technik zur Kultur zuerst zur Sprache: Popper meint nämlich, „dass man eigentlich von einer Bedeutung der Künste, Wissenschaften und der Technik für die Kultur gar nicht sprechen könne, weil dies alles ja im Grunde genommen identische Begriffe sind, d.h. Kultur im heute gebräuchlichen Sinne der Europäer ist gar nichts anderes als eben Kunst, Wissenschaft und Technik“ (S. 36). Wir glauben nur noch ein viertes Element hinzufügen zu müssen – die Ethik. (Fortsetzung folgt.)