Titel: Allgemeine Fragen der Technik.
Autor: P. K. von Engelmeyer
Fundstelle: Band 312, Jahrgang 1899, S. 130
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Allgemeine Fragen der Technik. Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau. (Fortsetzung von S. 97 d. Bd.) Allgemeine Fragen der Technik. Des Menschen Macht über die Natur. Pascal sagt: „L'homme n'est qu'un roseau le plus faible de la nature. Mais c'est un roseau pensant. II ne faut pas que l'univers entier s'arme pour l'écraser: une vapeur, une goutte d'eau suffit pour le tuer. Mais quand l'univers l'écraserait, l'homme serait encore plus noble que ce qui le tue, parce qu'il sait qu'il meurt; et l'avantage que l'univers a sur lui, l'univers n'en sait rien.“ So spricht der reine Denker, der stehen bleibt, sobald er das Bestehende in Gedanken thatgemäss reproduziert. Der Techniker dagegen knüpft da erst an und ist bestrebt, die gewonnene Erkenntnis zu verwenden, eine seinen Zielen entsprechende Erscheinung hervorzurufen. Derweil nun die Technik in dieser Hinsicht bereits Grossartiges geleistet, so spricht der Techniker nicht von der Schwäche, sondern von der Macht des Menschen über die Natur. Des Forschers Ziele sind Gedanken, die des Technikers sind Thaten. Indes bleibt die Thatsache bestehen, dass die Natur doch masslos mächtiger ist denn der Mensch. Die Frage ist also berechtigt: Wie kann der schwache Mensch eine zwingende Kraft auf die kräftigere Natur ausüben? Diese Frage löst sich in die folgende auf: Worin liegt die Schwäche der Natur und die Kraft des Menschen? Beides liegt in dem Umstände, dass der Natur nur ein Weg zu Gebote steht, Erscheinungen hervorzubringen: der ursächliche, der logische; dem Menschen dagegen zwei: der logische und der teleologische. Die Natur hat keine Wahl: ist eine Erscheinung aufgetreten, so treten deren Folgen fatal ein. Dem Menschen dagegen steht die Wahl frei. Er experimentiert in Gedanken (E. Mach). Zwei Stufen braucht er hierzu erklommen zu haben. Die erste Stufe ist die des Wissens (des empirischen oder des wissenschaftlichen), bei welcher er sich thatgemässe Gedankenbilder des Bestehenden macht. Die zweite Stufe ist die des Könnens (der Technik). Den Gedanken einer Erscheinung nimmt er als Ziel auf und sucht jene Reihen, welche diese Erscheinung fatal hervorbringen. In der Regel weiss er mehrere solcher Reihen. Doch sind ihm nicht alle Reihen gleich willkommen. Lassen wir nun Beispiele folgen. Auf der Kante eines Felsabhanges liege ein Felsblock. Rufen natürliche Vorgänge den Fall des Blockes hervor, etwa die Einwirkung des frierenden Wassers, so haben wir eine Naturerscheinung. Gibt ihm aber der Mensch den kleinen Ruck, etwa beim Einzüge eines feindlichen Heeres, so haben wir eine technische That. Der Felsenblock reisst beim Falle andere mit, und es wird unten eine Arbeit verrichtet, von welcher der erste Ruck keinen nennenswerten Bruchteil darstellt. Ein Seedampfer werde zur Abfahrt vorbereitet: der Kessel ist mit kaltem Wasser gefüllt, das Rostfeuer angezündet. Bald zeigt der Manometerzeiger den nötigen Dampfdruck. Der Maschinist dreht ein Handrad, und der Koloss, eine ganze Stadt, kommt in Bewegung. Zerlegen wir den Dampfer in Rohmaterialien, Erze, Baumstämme, Kohlenlager u.s.w., die wir uns in der Natur zerstreut denken, so sehen wir, wie viele Eingriffe der Mensch in die Natur gemacht haben muss, damit alles Fremde und Zerstreute sich zu einem harmonischen Ganzen, zu einem dem natürlichen Organismus durchaus ebenbürtigen technischen Gebilde vereinige. Die einzelnen Eingriffe sind allerdings klein, aber deren Summe ist gross. Aehnliche Summierung kleiner Ursachen zu grossen Wirkungen sehen wir auch in der Natur: guttae transeunt lapidem, non vi, sed semper cadendo. In gleicher Weise webt der Mensch seinen Willen in die Naturkräfte hinein. Reden wir von Beherrschung der Natur durch den Menschen, so dürfen wir Eines nicht ausser acht lassen: die Natur erfüllt die Absichten des Menschen nur unter der einen Bedingung, dass ihre eigenen Forderungen vollkommen erfüllt seien. Insofern ist die Natur ein mustergültiger Egoist. Wie verfährt der Eroberer eines Staates, um das Volk in Gehorsam zu erhalten? Aus dem betreffenden Volke wirbt er ein Heer, und dieses unterjocht das ganze Volk, welches doch eine beträchtlich grössere Kraft darstellt als das Heer. Die Kraft des Volkes ist aber zerstreut, die des Heeres dagegen zu einer Macht vereinigt. In ähnlicher Weise verfährt der Techniker: aus der Natur entnimmt er das Nötige, um sein Maschinenheer zu schaffen, und vermöge seiner zweckmässigen Organisation bezwingt das Maschinenheer die unendlich kräftigere Natur. Das ist die philosophische Deutung der Maschine. Das technische Schaffen. „The man is a tool making animal,“ sagt Benj. Franklin, und Paul Carus, in seiner geistreichen Schrift „The Philosophy of the Tool“, verleiht diesem Gedanken die nötige Vollendung, indem er das Hauptgewicht in das Schaffungsvermögen legt und in diesem das Bild Gottes im Menschen sieht. Der Mensch mit seinem Körper und Geist ist nur Bein vom Gebein der Natur, und sein Schaffen ist wieder kein anderes als das der Natur. Nur wird das Schaffen der Natur mit dem Worte „Evolution“ benannt und mit Nachdruck hervorgehoben, dass die Natur dabei keine Ziele verfolgt, wenigstens im menschlichen Sinne nicht. Des Menschen Schaffen läuft aber immer auf Ziele hinaus. Alles Neue in der Technik wird erschaffen. Der Techniker sieht einen zu erzielenden Vorteil oder einen zu beseitigenden Nachteil. Daraus erfasst er sich ein Ziel, eine Absicht, überhaupt eine Idee und sucht diese zu verwirklichen. Darum ist die Technik eine Kunst, d. i. eine objektivierende Thätigkeit. Der Techniker schreitet, wie der Künstler, vom Gedanken zur Sache. Umgekehrt schreitet der Gelehrte, dessen Thätigkeit eine subjektivierende ist. Der Gelehrte gelangt von der Sache durch die Zahl zum Gesetz. Der Techniker umgekehrt vom Gesetz durch die Zahl zur Sache. Die Rolle der Mathematik in der Wissenschaft und in der Technik ist demnach klar bestimmt. Die Zahl spielt indes in der Technik eine noch grössere Rolle als in der Wissenschaft: denn kann auch der Gelehrte sein Ziel erreichen, indem er nur ungefähre Zahlen ermittelt, so ist dies für den Techniker unmöglich: wir sind nicht im stande, einem Rade einen ungefähren Durchmesser zu geben; ebensowenig dürfen wir ein unbestimmtes Quantum Alkali nehmen; nur in Gedanken ist dies ausführbar, nicht in Wirklichkeit. Der schaffende Techniker hat immer ein Problem zu lösen, welches einem Bedürfnisse des Menschen entspringt. Man darf indes nicht sagen, dass ein erkanntes Bedürfnis an und für sich schon ein technisches Problem ausmacht. Hierüber nur ein Beispiel. Der uralte Wunsch, durch die Lüfte zu fliegen, bildet noch kein technisches Problem. In ein solches hat ihn in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts Mongolfier verwandelt, als ihm der Gedanke kam, zu dem Zweck die hebende Kraft der warmen Luft zu verwenden. Andere Erfinder haben demselben Bedürfnisse auf anderen Wegen zu entsprechen versucht, indem sie verschiedene mechanische Flugvorrichtungen herzustellen sich bemühten (Aeroplane, Ortoptere, Helikoptere, Lufträder, Reaktionsflug). Es gibt keine Regeln für die Verwandlung eines Bedürfnisses in eine technische Aufgabe; das ist Sache der Intuition, der schaffenden Geisteskraft. Die Aufgabe muss erschaut werden, und die Erschauung ist immer ein Sprung über eine logische Kluft. Die ersten Erfinder, die eine Nähmaschine herstellen wollten, stellten sich die Aufgabe, das nachzumachen, was die Hand mit der Nadel thut. Doch waren alle Bestrebungen erfolglos, bis andere (E. Howe) auf den Gedanken kamen, die Aufgabe des Nähens so umzugestalten, dass deren Ausführung auf mechanischem Wege praktisch ermöglicht wurde. Dasselbe Gesetz waltete in der Entstehung der Dresch-, Mäh-, Schreib- und Sprechmaschinen und einer Reihe anderer Erfindungen. Es ist kaum möglich, eine Aufgabe eingehend zu formulieren, wenn man die Lösung, wenigstens in ganz allgemeinen Zügen, nicht vorahnt. Ganz richtig sagt das Sprichwort: „Question bien posée est a demi résolue.“ Aus diesem Grunde werden die von Behörden aufgestellten Konkursaufgaben (etwa über Beleuchtung, Wasserversorgung u. dgl.) durchweg unter Mitwirkung von Technikern formuliert. Die technische Aufgabe wird in der Erfindung gelöst. Jede Erfindung hat aber einen Entstehungsgang zu durchlaufen. Vor allem empfängt der Erfinder eine Idee. Der fertigen Erfindung liegt auch ein Prinzip zu Grunde. Die Erfindung ist die Verwirklichung einer Idee. Der sprachliche Ausdruck der Leistung einer Erfindung heisst deren technischer Effekt. Der Dreiakt. Drei Elemente bilden das technische Schaffen und überhaupt die technische That: 1. das Wollen, 2. das Wissen und 3. das Können. Diese drei Elemente, innig gesellt, bilden das Schaffen, bauen die künstliche, technische Welt. Wer nur will und nicht weiss, der ist ein Phantast. Wer nur weiss und nicht kann, der ist ein Ohnmächtiger. Der thatkräftige Mensch muss wollen, wissen und können. In einer Reihe von Schriften habe ich dargethan, dass sich das technische Schaffen als Dreiakt darstellen lässt, wobei die einzelnen Akte als Funktionen jener drei Elemente hervortretenDie dreiaktige Theorie des technischen Schaffens habe ich zuerst im Jahre 1889 dem Moskauer Polytechnischen Vereine dargelegt. Die Arbeit kam indes erst in der deutschen Uebersetzung zum Druck: Civilingenieur, 1893, „Ueber das Entwerfen der Maschinen“. Es folgten ferner: Cosmos, 1895, „Qu'est-ce que l'invention?“; Kölnische Zeitung, 1895, Fer. 15, 16, 18: „Das Erfinden“; Civilingenieur, 1895: „Was ist eine Erfindung?“ In der ersten Arbeit habe ich die dreiaktige Theorie zur psychologischen Analyse des Maschinenentwerfens angewandt, um darzuthun, welchen Nutzen der Unterricht daraus zu ziehen vermag. Die zwei folgenden Schriften entwickeln die Theorie populär. In der letzten ist auf derselben das Wesen der Erfindung begründet und ausserdem die Erfindung als patentrechtliche Einheit definiert worden. Dem Geh. Regierungsrat Dr. Ernst Hartig verdanke ich die Mitteilung, dass die entwickelte Ansicht im deutschen Patentamte als massgebend wohlwollend aufgenommen ist. Endlich habe ich in der a. a. O. genannten Arbeit: „Was ist eine Maschine?“ (Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ingenieure, 1898) die Theorie des Dreiaktes auch auf die Maschinenlehre angewandt und dargethan, wie einfach das gesamte Maschinenproblem im Lichte dieser Theorie gelöst werden kann, indem es sich zu einer einheitlichen und schlichten synthetischen Maschinenlehre von selbst gestaltet.. Der Prozess des Schaffens wird durch die Intuition eingeleitet. Was sie nicht gegeben, wird sich im Werke nicht finden. Intuitiv erschaut der Techniker die vermutliche Lösung einer vor ihm schwebenden Aufgabe. Die Intuition sagt dem Techniker noch nicht, was er thun wird, sondern nur, was er thun will. Es ist noch keine Leistung, keine Erfindung, sondern nur die Idee einer solchen, eine Absicht, ein der künstlerischen Intention und der wissenschaftlichen Hypothese ebenbürtiges geistiges Produkt. Jetzt weiss der Techniker erst, was er will. Das erste Element des Schaffens, das Wollen, hat fungiert. Der erste Akt des Schaffens ist vollbracht. Sein Ergebnis ist eine klar bewusste Absicht. Damit aus der Absicht ein ausführbarer Plan entstehe, muss der Mensch wissen, was er in dem betreffenden Gebiete thatsächlich begegnet. Nur wenn er das Thatsächliche in Gedanken besitzt, wird er im stande sein, einen ausführbaren Plan zu verfassen, dessen Ausführung seiner Absicht entspricht und seine Aufgabe löst. Ist er so weit vorgedrungen, so hat das zweite Element des Schaffens, das Wissen, fungiert und der zweite Akt des Schaffens ist vollbracht, denn das Ergebnis des letzteren ist eben ein ausführlicher Plan. Nun kommt die sachliche Aasführung des Werkes. Hier tritt das Können in Scene. Weder das Wollen noch das Wissen genügt. Man muss zu Thaten fähig sein. Fertigkeit, Geschicklichkeit, Erfahrenheit, Gepflogenheit, Gewerbe, kurzum das Können führt jetzt das Werk zur Vollendung, zur sachlichen Existenz. In diesen wenigen Worten kommt die Theorie des Dreiaktes zum Ausdruck. Es ist einleuchtend, dass nicht nur das technische, sondern alles menschliche Schaffen, ja sogar jede zielbewusste That sich nach dem Schema des Dreiaktes auffassen lässt. Die Beweisführung dieser, übrigens selbstverständlichen und notwendigen Erweiterung des Dreiaktes soll indessen nicht hier, sondern bei einer günstigeren Gelegenheit erfolgen. Hier wollen wir in den Grenzen der Technik bleiben. Die technischen Schöpfungen sind ebenso mannigfaltig wie die Bedürfnisse, denen sie entspringen und deren Befriedigung sie erzielen. Darum ist es kaum möglich, eine stichhaltige Klassifikation derselben aufzustellen. Dies mag auch wohl der Grund davon sein, warum die in den verschiedenen Patentgesetzen aufgenommenen Klassifikationen der Erfindungen einander widersprechen und keine davon, bei logischer Prüfung, annehmbar erscheint. Nach allseitiger Betrachtung bleiben endgültig nur zwei Gattungen scharf voneinander abgegrenzt. Das sind: 1. sachliche, im Raume existierende Gebilde und 2. in der Zeit verlaufende Arbeitsverfahren. Alle anderen Schranken fallen. So ist z.B. unwesentlich der Unterschied zwischen den mechanischen und den chemischen Erzeugnissen; ebenfalls ist es nicht von Belang, ob der direkten Konsumtion oder einer weiteren Produktion ein künstlicher Gegenstand oder ein Arbeitsverfahren dient. Der erste Akt gibt die Idee einer Vorrichtung, die Intention eines Verfahrens, überhaupt das Prinzip des werdenden Werkes. Es ist nichts mehr als ein Gedanke, der die Absicht klar formuliert. Aufs Papier kommt vorerst höchstens eine Skizze, eine Notiz. Das Ergebnis des zweiten Aktes dagegen ist schon ein Schema, ein detaillierter Plan. Präzisiert der erste Akt das Gewollte, so macht daraus der zweite das Ausführbare, der dritte endlich das Ausgeführte. Die Existenz des Werkes wird im ersten Akte gewollt, im zweiten bewiesen, im dritten verwirklicht. Was die schaffende Technik auch hervorbringen mag, alles unterliegt in seinem Werden dem Dreiakt. Ebensowenig, wie aus einer zielbewussten That eines von den drei Elementen (Wollen, Wissen und Können) auszuscheiden ist, kann dabei einer von den drei Akten fehlen. Darum sage ich unverzagt: Der Dreiakt ist das Differential und die Technik das Integral. Alles, was die Technik dem Menschen als Mittel fertig darbietet, musste früher erfunden, d. i. dreiaktlich erschaffen worden sein. (Fortsetzung folgt.)