Titel: Allgemeine Fragen der Technik.
Autor: P. K. von Engelmeyer
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 86
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Allgemeine Fragen der Technik. Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau. (Fortsetzung von S. 21 d. Bd.) Allgemeine Fragen der Technik. Zur Erfindungsfrage. Das Werk von E. Joyau „de l'Invention dans les Arts, dans les Sciences et dans la pratique de la Vertu“ (1879) gehört zwar auch dem logischen Klassizismus an, vertritt indes schon eine freiere Ansicht; er räumt bei der Untersuchung des Wesens der Erfindung einen Platz der Vorstellungskraft (Einbildungskraft) ein, insbesondere der sogen. „schaffenden Vorstellungskraft“, ein bildlicher Ausdruck für den Vorgang, den Joyau als eine Fähigkeit der Seele darstellt, „von einem Gedanken, von einem Gefühl, von einer Handlung zu solchen überzugehen welche die natürliche und logische Folge der ersteren bilden. Unser Geist wiederholt dabei nicht, was er bereits früher gethan, er schreitet nicht rückwärts, sondern vorwärts, er erfindet, er schafft, er macht einen Fortschritt.“ Diese Fähigkeit unseres Geistes, sich von selbst und in logischer Weise zu entfalten, nennen wir die schaffende Vorstellungskraft (l'imagination créatrice) oder einfach die Vorstellungskraft (Einleitung). Joyau untersucht zwar nicht die technische Erfindung, sondern das Schaffen in der Kunst, in der Wissenschaft und in der Moral. Da er aber ein allgemeines Bild vom psychologischen Vorgang entwickelt, und dieses bleibt in seinen grossen Zügen sich überall gleich, so wollen wir ihm in seinen Ausführungen folgen. Die oben angeführten Worte kennzeichnen kurz Joyau's Ansicht. Er dringt nicht weiter hinter die einfache Konstatierung, dass sich unsere Gedanken und Gefühle (folglich auch unsere Handlungen) so verketten, dass das Neue eine logische Folge des Alten ist. Der Ausgangspunkt ist richtig, nur ist er wenig versprechend. Die Frage wird hiermit nicht gelöst, sondern einfach geschlossen. Dass wir ohne diskursiv zu denken, logisch denken, ist ja eigentlich, was aufgeklärt werden will; mit der blossen Bestätigung, dass es so ist, sind wir keineswegs zufriedengestellt. Mit dieser Bemerkung kehren wir zu Joyau zurück. Die Vorstellungskraft ist „das Prinzip aller unserer Entdeckungen und Erfindungen“. Vorstellungskraft und Vernunft verhalten sich folgendermassen: die erstere ist die unserem Geiste innewohnende Fähigkeit, Fortschritte zu machen, und die Vernunft ist die Fähigkeit, die Gesetze dieses Fortschreitens zu erkennen (connaître) (S. 38). Die Vorstellungskraft ist aber in uns nicht frei: körperliche Zustände, Voreingenommenheit des Geistes, auch der Wille, alles das übt zuweilen einen hindernden Einfluss auf die Entstehung logischer Gedanken. Im Schlafe z.B. erleidet der Gedankenlauf nicht mehr den Zwang des Willens, er ist sich selbst überlassen, und „führt uns bald zur Entdeckung der Wahrheit, d. i. zur logischen Lösung der gestellten Frage“ (S. 12). Die Inspiration übt auf die logische Gedankenfolge dieselbe Befreiung aus (S. 19). Hier wankt der Boden unter Joyau's Fassen. In der löblichen Bestrebung, ein möglichst schlichtes Bild der Einbildungskraft zu geben, geht er zu weit und kommt zu dem Schluss, dass wir unseren Gedankengang nur immer sich selbst zuüberlassen brauchen, um Entdeckungen und Erfindungen zu machen. Das ist nicht wahr: ist diese Forderung vielleicht auch notwendig, so ist sie nicht zureichend, sonst wäre das Ruhelager das beste Laboratorium für den Forscher und den Erfinder. Als Genie wird wieder jene Kraft dahingestellt, welche die Einbildungskraft von allen Banden loslöst. „Genial ist der Mensch, der sich von seiner eigenen Individualität loslösen kann; er malt die Sachen in einer Weise, die nicht subjektiv, sondern objektiv ist. Sein Werk ist gewissermassen unpersönlich“ (S. 61). Joyau erklärt sich hier als Gegner der Ansicht, wonach das Genie eine Art Krankheit sei. Seine Argumentation ist aber schwach: der Geisteskranke ist (alienatus a se) nicht mehr Herr über seine Gedanken und unterliegt der Herrschaft einer Idee oder einer Passion. Das Genie im Gegenteil befreit sich von jedem Zwang und entwickelt sich frei, „nur seinen eigenen Gesetzen gehorchend, und so schreitet es von einem Gedanken, von einer Handlung zu einer anderen, in logischer Ordnung“ (S. 68, 69). Hier weiss der Leser nicht mehr, was von den „eigenen Gesetzen des Genies“ übrig bleibt, derweil das Genie nur dann Genie ist, wenn es sich von sich selbst loslöst (s. oben). Es lässt sich nicht leugnen, dass die Schöpfungen des wahren Talents in der Kunst, der Wissenschaft, Ethik und Technik immer logisch sind, insofern sie logisch erklärt werden können. Das ist aber eine Logik post factum, eine erklärende und ordnende Logik, keine schaffende, denn eine solche existiert überhaupt nicht, will man unter Logik nur die Induktion und die Deduktion wissen. Will man aber der Logik eine breitere Fassung verleihen, so muss man dies ausdrücklich sagen. Das thut Joyau nicht, und darum sind seine auch trefflichen Gedanken etwas verschwommener Art. Hierüber ein Beispiel: „Die schöpferische Einbildungskraft ist die Fähigkeit, das Ideal zu erkennen und zu verwirklichen. Das Ideal ist dasjenige, was, unter gegebenen Umständen, logisch geschehen sollte und was thatsächlich verhindert wurde durch das Eingreifen gegenwirkender Ursachen. Das Werk des Genies offenbart das Ideal, indem es demselben den innerlich geeigneten (propre), d. i. logischen Ausdruck verleiht“ (S. 72). Die Deutung des Ideales ist gut. Die schöpferische Thätigkeit ist aber immer nur teleologisch definiert; der innere Mechanismus derselben bleibt unberührt; etwa in der Art, wie wenn einer die Therapie nur als eine Thätigkeit definieren wollte, welche die Gesundheit wieder herstellt. Richtig, aber unzureichend. Das Kapitel über das Schaffen in der Kunst trägt nichts näheres zur Erläuterung bei. Interessanter sind die Kapitel, wo das wissenschaftliche Schaffen analysiert wird, auf Grund der Aeusserungen von Fr. Bacon, J. St. Mill. Cl. Bernard u.a. Die ältere Ansicht teilend, verkennt Joyau die Tragweite der Analogie (vgl. S. 109, 110, 135). Folgende treffliche Gedanken wollen wir indes noch hervorheben: „Das Denken (raisonnement) ist kein ursprünglicher, sondern ein reflektierter Vorgang, ein Wiederkehren, um sich zu überzeugen, dass man sich nicht übereilt und einer Illusion sich nicht preisgegeben hat; nie ist es mehr als ein Mittel zur Kontrolle und ist keine Methode der Erfindung“ (S. 137). „Jedesmal, wie sich ein Gedanke vor unseren Verstand stellt, wird er durch eine Association herbeigeführt. Diese Association lässt sich aber auf zwei grundverschiedene Prinzipien zurückführen, auf die Gewohnheit und die Einbildungskraft“ (S. 149). Alsbald wird abermals die bereits wiedergegebene Formel der Einbildungskraft das xte Mal wiederholt, ohne einen Schritt weiter zu machen. Im folgenden Kapitel wird dargethan, dass auch in der Moral die Lösung einer jeden Lebensaufgabe wieder eine Art Erfindung ist. Dabei übt zwar die Passion, das Interesse und die Gewohnheit einen mächtigen Einfluss; dieser wird aber wieder als hindernd dahingestellt. Der selbständige Geist löst sich aus diesen Banden und hat in der Einbildungskraft den logischen Führer. Das Werk schliesst mit drei Kapiteln über das Wahre, das Schöne und das Gute, wohin wir Joyau nicht mehr folgen, erstens weil es uns auf einen Abweg führen würde, und zweitens, weil er hier wenig Neues zu Tage fördert. In allem sieht er nur lediglich die logische Seite. Dem pulsierenden Leben näher steht das Werk von Paul Souriau, „Theorie de l'Invention“ (1881), eine Schrift von feinem Gefühl geleitet und reich an ansprechenden Beispielen. Als Prinzip der Erfindung wird auch die Vorstellungskraft gestellt und dabei richtig bemerkt, dass die Einbildungskraft eigentlich nichts schafft; „ihr Wirken reduziert sich auf ein neues Kombinieren derjenigen Materialien, die ihr die sinnliche Erfahrung zuführt“ (S. 1). Sie gibt aber alles Neue in der Seele. Der Gedankengang ist bei Souriau durchsichtig, die Schrift elegant. Unter Erfindung versteht Souriau lediglich die Entstehung neuer Gedanken. Den Schritt von dem Gedanken zur Sache betrachtet er gar nicht. Zudem ist ihm das technische Schaffen vollkommen fremd; er begeht den sehr verbreiteten Fehler, die technische Erfindung vollständig der Methode zuzuschreiben. Als Beispiel aller Methode bespricht er die einfachsten arithmetischen Hegeln und unmittelbar darauf lesen wir: „Nach einer gleich sicheren Methode und ebenso leicht wird der Physiker das Gasvolum unter gegebenem Druck berechnen; der Mechaniker wird die Resultierende aller Kräfte bestimmen, die auf einen Körper wirken. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der Industrie, der Kunst, dem alltäglichen Leben auch kann man Beispiele solcher methodischer Erfindung finden. Der Ingenieur weiss, wie er sich daran machen muss, um eine Brücke von gegebener Tragkraft oder eine Maschine von bestimmter Kraft zu bauen. Der Musiker wird gewisse Effekte erzielen durch Anwendung bekannter Rhythmen und Kunstgriffe. Der Dramatiker besitzt eine Anzahl Vorschriften (recettes), um eine Szene hervorzuheben . . . . Methode, Gewandtheit, Verfahren, Erfahrenheit, Routine –, alle diese Ausdrücke, auf die Erfindung angewandt, haben im Grunde dieselbe Bedeutung: sie bezeichnen die Kunst, zu einem bestimmten Ziele zu gelangen mit bekannten Mitteln“ (S. 15, 16). Doch die wahre Erfindung besteht „in der Aufstellung der Fragen“ (S. 17). Weit entfernt von dem Gebiete der Technik, sieht offenbar Souriau in allen Brücken, in allen Maschinen nur Eisenstäbe und Räder. Darum erscheinen sie ihm alle gleich, jedenfalls nicht verschieden genug, um in denselben Fragen und Probleme zu erfassen. Dass die Erfindung nicht Sache der Logik ist, sucht Souriau dadurch zu beweisen, dass er sie weder in der Deduktion noch in der Induktion findet (S. 25 bis 29). Bei der Deduktion, sagt er, sei das Besondere (das Endergebnis) schon im voraus im allgemeinen enthalten. Dieser bekannte Vorwurf übersieht indes die Thatsache, dass das konkrete Ergebnis mehr Attribute enthält, als der abstrakte Ausgangspunkt. In der Deduktion ist demnach irgend ein Schaffen. Aehnliches lässt sich auch über die Induktion sagen. Weil hier der Schluss mehr umfasst (allgemeiner ist), als die beiden Prämissen, so sieht Souriau in der Induktion einfach ein Sophysmus (S. 27) (?). Recht hat er aber, zu behaupten, dass die Induktion immer nureine Hypothese liefert, deren Rechtfertigung durch die Thatsache noch aussteht. Man muss sich billig wundern, wenn man sieht, wie ein feinfühlender Denker wie Souriau, überall die Erfindung suchend, über die Induktion hinweggeht, ohne zu bemerken, dass dies gerade das Feld der wissenschaftlichen Entdeckung ausmacht. Und dennoch muss man mit Souriau sagen: das Schaffen steht ausserhalb der Logik. Aber in einem anderen Sinne. Bleiben wir bei der klassischen Fassung der Logik, welche nur das diskursive Denken umfasst, so bleibt noch eine parallele Thätigkeit, die spontane Verkettung der Gedanken, Gefühle und Willensakte, deren Mechanismus meist der Selbstbeobachtung entschlüpft. Diese spontane Gedankenarbeit ist der bewussten Logik nicht unterworfen, obgleich die Ergebnisse dieser Arbeit logisch sind. Souriau besitzt offenbar die Gabe, besonders leicht zu denken und zu schreiben. Mit leichtem Fuss schreitet er aber über manchen dunklen Punkt hinweg, ohne zu bemerken, dass der Punkt dunkel bleibt. Der Leser fühlt dieselbe Leichtigkeit, und die dunklen Punkte wecken nur die Kritik und das Weiterdenken. Wir können das Werk nur empfehlen. So wird beispielsweise die interessante Frage von dem Suchen aufgeworfen: „Wenn wir schon wüssten, was der gesuchte Gedanke ist, hätten wir ihn schon gefunden, und wüssten wir davon gar nichts, würden wir ihn nicht suchen.“ „Was wir vom gesuchten Gedanken vermissen, ist seine Form; was wir davon wissen, sind die Bedingungen, denen er entsprechen muss. Jede Forschung löst sich in folgender Formel auf: seinen Verstand in eine solche Gedankenreihe einleiten, deren letztes Glied den gegebenen Forderungen entspricht“ (S. 14, 15). Von der Inspiration wird einfach gesagt: sie ist „eine ausserhalb uns liegende Kraft und ist unabhängig von unserem Willen“ (S. 23). Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Grundlehren einer jeden Wissenschaft, so die geometrischen Axiomen, ausserhalb der Logik gefunden werden (S. 33 u. ff.) und die ganze Geometrie erscheint somit als „ein Kunstwerk, ein Ergebnis der Phantasie und nicht der Logik. Sie ist nicht deduziert, sondern erfunden worden“ (S. 38). Souriau gibt einen Ratschlag, der jedes Suchen eines Gedankens erleichtern soll: „Man muss daneben denken“ („Il faut penser à coté“) (S. 7). Mit dieser Sentenz will er nur zu einer Leitformel die einfache Bemerkung verwandeln, die man häufig an sich macht, nämlich, dass die trefflichsten Gedanken uns oft kommen, indem wir nicht an sie direkt, sondern etwas daneben denken. „Wir finden unsere Gedanken am häufigsten durch Ausweichung (digression)“ (S. 6). Das ist alles richtig; aber als Leitformel, als Kunstgriff, richtige und gesuchte Ideen zu finden, kann diese blosse Konstatierung darum nicht gelten, weil das „Daneben“ ein unbegrenztes Feld ist. Souriau freut sich sehr, seine Formel gefunden zu haben, doch ist sie viel zu subjektiv. Ueberhaupt bildet die Selbstbeobachtung zugleich die interessante, aber auch die schwache Seite des Werkes. Das Erfinden ist somit weder Sache der Reflexion (S. 3), noch der Logik (S. 25). Als Prinzip der Erfindung wird „der Zufall“ genannt (S. 45). Die titelmässig versprochene Theorie der Erfindung kommt somit hier zur Sprache. Was ist nun der Zufall? Souriau findet keinen Zufall ausserhalb uns, weil in der Natur alles ursächlich verknüpft ist, obgleich die Verknüpfung nicht überall sichtbar ist. Der Deutung des Wortes „Naturgesetz“ müssen wir nur beistimmen: „Man sagt, man habe das Gesetz einer Erscheinungsreihe gefunden, wenn man zwischen denselben einen Zusammenhang gefunden hat, der klar, einfach und leicht verständlich ist“ (S. 48). Der Determinismus (ein Wort, das von Cl. Bernard zuerst gebraucht und bei den Franzosen sehr beliebt ist) der physischen Erscheinungen ist ursächlich. Derjenige der Gedanken und Handlungen ist zielmässig (S. 56 bis 62). Man könnte vielleicht sagen: Der Determinismus der Naturerscheinungen ist logisch, der der Handlungen teleologisch. „Hier müssen wir aber mit Bescheidenheit zugestehen“, fügt Souriau hinzu, „dass im gegenwärtigen Zustande unseres Wissens der Determinismus immer nur ein Postulat ist“ (S. 64). Unter Zufall versteht er den „Konflikt zwischen der äusseren Kausalität und der inneren Finalität“ (S. 64), den Konflikt „der äusseren Ursachen mit den inneren Zielen“ (S. 65). Somit ist der Zufall „rein subjektiver Natur: er hat nur einen Scheinwert und existiert nur gegenüber dem zielmässig handelnden Wesen“ (S. 65). Sehr interessant ist das nächste Kapitel, welches „den Determinismus der Erfindung“ bespricht (S. 70 bis 91). Dieser ist doppelt: ein innerer (Association) und ein äusserer (Einwirkung der äusseren Eindrücke). Beide treten noch in Wechselwirkung miteinander. Bei der Wiederholung eines Gedankens, einer Handlung, ist aber auch noch unser Hirngewebe nicht mehr dasselbe, was es früher gewesen, es hat sich molekular erneuert und verändert; „die physische Veränderung bringt notwendig mit sich eine Veränderung in der Reihenfolge, in welcher uns die einfache Association leiten würde“ (S. 83). Ferner treten auch „die Bilder der Perzeption (von aussen) in Berührung mit den Bildern der Konzeption und verlöten sich mit diesen“ (S. 86). Ueberhaupt enthält besonders dieses Kapitel eine Fülle höchst interessanter Gedanken. Nur sind sie nicht zum Abschluss geführt. So die Konzeption: das ganze Werk sollte ja diesen Begriff zum Gegenstand haben, denn eine Konzeption ist eben ein neu entstandener Gedanke. Souriau gebraucht aber das Wort Konzeption ein einziges Mal und ohne bei demselben stehen zu bleiben. Das nächstfolgende Kapitel bespricht die günstigen Bedingungen für die Originalität (S. 92 bis 119) und ist weniger interessant: dem Verfasser stand hier ein ärmeres Material für die Selbstbeobachtung zu Gebote. Hinweise auf die Litteratur fehlen aber auch hier wie anderswo vollständig. In der reinen Dialektik erzielt Souriau wenig Erfolg. Das abstrakte Denken ist nicht seine starke Seite. So lesen wir z.B.: „ein erfinderischer Geist muss neugierig und originell sein“ (S. 106), eine Tautologie, weil im ganzen Kapitel „erfinderisch“ und „originell“ durchweg synonimistisch gebraucht werden. Paradoxal klingt folgender Satz: „Der Verstand wird um so mehr erfinderisch (plus ingénieux et plus inventif), je wissensreicher er wird“ (S. 110), paradoxal sagen wir, insofern über die schöpferische Kraft, die ja aus dem Materiale bauen soll, nichts gesagt wird. Aehnliches lässt sich auch über das Gedächtnis sagen (S. 114 bis 119). Das letzte Kapitel bespricht den fördernden Einfluss der verschiedenen Mittel des Ausdruckes (Sprache, Schrift, anderweitige Kunstgriffe). Hier macht sich besonders fühlbar der Mangel einer vielseitigen litterarischen Ergründung der Frage. Im grossen und ganzen gibt dies empfehlenswerte Buch doch keine Theorie der Erfindung, weil eben die Konzeption, das Schaffen, das Entstehen neuer Gedanken innerlich unerörtert bleibt. Das Werk von Otto N. Witt, „Chemische Homologie und Isomerie in ihrem Einflüsse auf Erfindungen aus dem Gebiete der organischen Chemie“ (1889), gehört zu jenen seltenen Büchern, deren jede Zeile dem denkenden Leser eine wahre Freude bereitet. Zunächst eine patentrechtliche Studie, bietet sie einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Theorie der chemischen Erfindung. Darum wollen wir dem Gedankengang des Verfassers näher folgen, indem wir das Werk einem jeden Interessenten auf das Wärmste empfehlen. Obgleich seit dem Erscheinen jenes Werkes Deutschland ein neues Patentgesetz besitzt, so haben dadurch die im Werke dargelegten theoretischen Betrachtungen doch gar nichts eingebüsst. Wir beginnen mit dem Begriffe des chemischen Individuums (S. 17). Dieser umfasst alle Körper, von Elementen bis zu gar verwickelten Substanzen, deren Formeln zur Zeit noch fehlen, die aber eine gewisse Beständigkeit in ihrer Zusammensetzung bieten, auf die wir hier nicht näher eingehen. Wichtig ist für uns die Thatsache, dass ein chemisches Individuum nicht immer eine technische Einheit ist, und diese umgekehrt nicht immer zu den ersteren zählt. So ist z.B. das alte Schiesspulver unzweifelhaft eine technische Einheit, für den Chemiker aber ist es kein chemisches Individuum, sondern ein Gemische mehrerer. Umgekehrt bieten viele seltenen Elemente und Verbindungen kein technisches Interesse. Das will jedoch durchausnicht sagen, dass von heute auf morgen solch ein Körper nicht in die Reihe technischer Einheiten tritt (wie es bei dem Auer'schen Gasglühlicht geschah). Zwischen den chemischen Individuen gar verschiedener Komplexion bemerkt der Chemiker gewisse Aehnlichkeiten, welche die Orientierung und auch die Prognose ermöglichen. Eine derartige Gesetzmässigkeit heisst „Periodizität der Elemente“. Andere heissen „Homologie“, „Isomerie“ u.s.w. Mit Homologie (S. 29 bis 42) wird jene Aehnlichkeit und schrittweise Abweichung bezeichnet, welche über die Eigenschaften zweier Reihen chemischer Individuen herrscht, wo in jeder Reihe die Körper durch das Hinzutreten eines bestimmten Bestandteiles voneinander abstufen. Die Homologie gestattet eine doppelte Prognose: erstens kann der Chemiker neue Glieder homologer Reihen voraussagen, zweitens kann er über einzelne Eigenschaften bekannter Körper von einer Reihe auf die andere schliessen. Isomerie (S. 42 bis 53) umfasst dagegen solche Körper, die bei der Analyse in ganz genau gleiche Bestandteile zerfallen, zugleich aber grundverschiedene Eigenschaften aufweisen, woraus geschlossen wird, dass in denselben die gleichen Bestandteile nicht etwa einfach verschmolzen, sondern verschiedenartig gruppiert sind. Diese Ansicht führt zu verschiedenen, höchst sinnreichen Anschauungen betreffend der „Konstitution“ der Moleküle, welche Anschauungen wieder die Orientierung und die Prognose mächtig fördern. Zu solchen Bildern gehört das sogen. Kekulé'sche Sechseck, d. i. die Darstellung des Benzols als Sechseck, wobei gedacht wird, dass alle anderen hinzutretenden Körper an verschiedenen Stellen des Sechseckes haften. Dieses Bild beherrscht ein weites und wichtiges Feld der Benzolderivate, unterstützt das Gedächtnis und führt zu richtigen Schlussfolgerungen über die Eigenschaften neuer Derivate. Wir gehen nun über zu den Begriffen der Methode, des Verfahrens und der Aequivalenz. „Als chemische Methode bezeichnet man allgemein den Vorgang, nach dem sich gewisse Gruppen von chemischen Reaktionen abspielen. Die Reduktion (Wasserstoffzuführung), die Oxydation (Wasserstoffentziehung), die Kondensation (Wasserabspaltung), die Hydrolyse (Wasserzuführung), sind chemische Methoden, welche auf zahllose Körper anwendbar sind und sich in dieser allgemeinen Anwendbarkeit auch durch allgemeine Gleichungen ausdrücken lassen. Aber die Art und Weise, wie diese Methoden angewandt werden, muss je nach der Natur der zu bearbeitenden Substanzen vielfach abgeändert werden, und in der Feststellung der Art und Weise, wie eine bekannte chemische Methode in einem gegebenen Falle anzuwenden sei, liegt die Ausarbeitung des chemischen Verfahrens. Jede allgemeine chemische Methode ist die Erzeugerin zahlloser chemischer Verfahren. Neue chemische Methoden werden nur höchst selten aufgefunden, neue Verfahren dagegen tauchen fortwährend auf. Methode und Verfahren stehen somit gewissermassen im Verhältnis von Theorie und Praxis. Eine Methode lässt sich durch logische Schlüsse deduzieren, ein Verfahren kann nur im Laboratorium ausgearbeitet werden (S. 13 und 14). Die Methode gehört somit mehr der wissenschaftlichen Chemie. Die Technologie aber befasst sich mit den Verfahren und nimmt die Methoden als bekannt und gegeben auf. Verfahren, wie Körper, können einander äquivalent sein. Manchmal stimmt die chemische Aequivalenz mit der technischen überein. Will man z.B. vorhandenes Baryumhydrat seiner alkalischen Wirkungen berauben, so ist jede Säure, in ihrer chemischen Aequivalenz angewendet, zugleich auch technisch äquivalent. Wenn es sich aber darum handelt, ein unlösliches weisses Pulver aus Baryumhydrat zu bekommen, dann sind die Säuren nicht mehr technisch äquivalent. Die technische Aequivalenz deckt sich ziemlich gut mit der patentrechtlichen. Nun kommt Witt zu der so wichtigen Frage über die Patentfähigkeit des chemischen Stoffes und des Verfahrens. Das älteste Patentgesetz, das englische, schützt den Stoff und dessen Herstellungsverfahren, indem beides mit einem Worte „Manufacture“ benannt wird. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird nur der Stoff patentiert, in Deutschland nur das Verfahren. Das junge Schweizer Patentgesetz sucht dagegen die den beiden Systemen anhaftenden Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, dass es die chemische Erfindung einfach ausschloss, so dass in der Schweiz die chemische Industrie des Patentschutzes gänzlich entbehrt, was natürlich mit gewichtigen Nachteilen verbunden ist. Die erste patentrechtliche Forderung erstreckt sich auf die Neuheit. Ganz richtig hebt Witt wieder hervor, dass die Neuheit gegenüber dem Patentgesetze und die Neuheit in der Wissenschaft sich nicht notwendig decken (S. 17). Ein chemisch neuer Körper muss vor allem ein chemisches Individuum sein, ein patentrechtlich (auch technisch) neuer Körper kann aber auch ein blosses Gemisch sein. Gleichfalls muss ein chemisch neuer Körper eine bestimmte chemische Zusammensetzung haben. Nach derselben fragt aber nicht das Patentgesetz, sondern nur nach den Eigenschaften, nach der technischen Verwertbarkeit. Bezüglich der letzteren vertritt Witt die Meinung, dass die Vorprüfung einer Patentanmeldung nur auf die Neuheit und Verwertbarkeit, nicht aber auf die Grösse des Wertes gerichtet sein soll. Diesen Punkt beleuchtet er auf das Sorgfältigste (siehe S. 21, 57, 58, 66, 70, 72 bis 77, 87, 92, 94). „Unter Verwertbarkeit ist lediglich die Möglichkeit einer gewerblichen Anwendung zu verstehen, nicht aber die Thatsache, dass das neue Verfahren im Vergleich zu einem anderen, schon bekannten, irgend welche Vorteile darbietet . . . . Dieses letztere ist eine Frage, deren Entscheidung zur Zeit der Anmeldung einer Erfindung ganz und gar unmöglich ist“ (S. 21). Witt schliesst sich dem Vorschlag von H. Caro an, der dahin geht, die Prüfung der zunächst anstandslos zu erteilenden, aber vorläufigen Patente erst nach einer gewissen Zeit vorzunehmen (S. 90). Zur Bekräftigung seiner Ansicht führt Witt eine Reihe Beispiele an, die er in so eminent objektiver Weise beleuchtet, dass der Leser andererseits die bedeutende Schwierigkeit sieht, die der Durchführung eben seines Vorschlages sich manchmal entgegenstellt. Hierüber nur ein Beispiel (S. 54 bis 61). Caro behandelte das Dimethylparaphenylendiamin in gleicher Weise wie Lauth früher das Paraphenilendiamin, erhielt aber statt des violetten schwerlöslichen, einen blauen leichtlöslichen Farbstoff. Die grössere Löslichkeit des Caro'schen Blaus sicherte ihm an und für sich schon eine grössere Verbreitung vor dem Lauth'schen Violett. Stellen wir uns in die Lage der Prüfungskommission, so fühlen wir, wie schwer, ja kaum möglich es ist, ein richtiges Urteil über die Neuheit zu fällen, ganz ohne Rücksicht auf den grösseren Wert. Und wirklich wurde das Patent Nr. 1886 nur in Anbetracht des grösseren Wertes erteilt. In jenen chemischen Erfindungen, wo Homologie und Isomerie auftreten, wird besonders oft „die Grösse des erzielten neuen gewerblichen Erfolges“ zu entscheiden haben (vgl. S. 69 bis 73). Dass der Leser bei Witt selber die Gründe zu einer gewissen Beschränkung seiner Behauptungen schöpft, darf ihm niemand verargen. Im Gegenteil, dieser Umstand bezeugt nur die höchste Stufe der Objektivität in der Wiedergabe des faktisch Geschehenen, und diese Objektivität begrüssen wir besonders herzlich in solchen subtilen Sachen, wie die technische und patentrechtliche Behandlung der chemischen Homologie und Isomerie. Nach der Feststellung der grundlegenden Begriffe kommt Witt zu der Frage von der chemischen Erfindung. Der Unterschied zwischen der chemischen und der mechanischen Erfindung kennzeichnet er in folgenden Worten:„Die Substanz als solche trägt den Stempel der Erfindung aber nicht an sich, wie dies z.B. mit der Maschine der Fall ist. Wir können nicht Atome nach Belieben aneinander binden, wie wir dies mit Maschinenteilen thun können, sondern nur soweit, als dies nach den chemischen Gesetzen möglich ist“ (S. 13). Im Verfahren dagegen, als zeitlicher Aufeinanderfolge bestimmter Manipulationen, macht sich der Unterschied zwischen mechanischen und chemischen Kunstgriffen nicht in gleichem Sinne fühlbar. Witt gibt keine Definition des Begriffes „Erfindung“, er hebt vielmehr nur einzelne wichtige Merkmale derselben hervor. „In dem Vorhandensein dieser schöpferischen Thätigkeit des menschlichen Geistes liegt jedenfalls das Hauptmerkmal der echten Erfindung. Ein neuer Gedanke oder eine neue Gedankenfolge auf technischem Gebiete zum erstenmal verwirklicht, führt zur wahren, selbständigen Erfindung, und dies auch dann, wenn dieser Gedanke durch eine zufällige Beobachtung angeregt wurde“ (S. 23 und 24). „Denn gerade in der Herstellung des unerwarteten, in der Loslösung vom Banne des als gesetzmässig Anerkannten und Erlernten liegt eines der wichtigsten Kriterien der selbständigen Erfindung“ (S. 81). Im Gegensatze zu der Erfindung nennt Witt alles, was eben gesetzmässig anerkannt und was erlernt werden kann, nach dem Vorschlage von Köhler „Konstruktion“. Letztere ist für ihn „die gewandte Benutzung bekannter Mittel zur Erreichung eines bekannten Zweckes“ (S. 24). Der Begriff der „chemischen Konstruktion“ erscheint uns höchst willkommen, indem er noch eine Brücke schlägt über jene Kluft, welche die chemische von der mechanischen Erfindung trennt. In beiden ist die Konstruktion das Ergebnis des dritten Aktes, des gewerblichen Könnens. In der Maschine unterscheidet man ein System und eine Konstruktion. Ein System, z.B. eine Singer'sche Nähmaschine, kommt aus den verschiedenen Fabriken unter der Form verschiedener Konstruktionen. Aehnlich in der chemischen Technik. Nach Witt scheint das chemische Verfahren ein Analogon des Maschinensystems zu bilden. „Die Einführung eines Aequivalentes für ein anderes in einem bekannten Verfahren ist eine Konstruktion und keine Erfindung. Sie kann auf dem Papier ausgeführt werden und bedarf des Experimentes bloss insofern dasselbe eine Probe auf das angestellte Rechenexempel ist“ (S. 27). „Durch das Vorhandensein isomerer und homologer Reihen von Substanzen ist in der organisch-chemischen Technik die Zugänglichkeit chemischer Aequivalente ausserordentlich gesteigert; bei der Gesetzmässigkeit, welche diese homologen und isomeren Reihen beherrscht, bietet sich ein unabsehbares Gebiet für den chemischen Konstrukteur, nicht selten zum Schaden und Nachteil des chemischen Erfinders“ (S. 28). Bei dem Ersatz einer Substanz durch einen ihrer Homologen oder Isomeren kann es sich aber ereignen, dass die Gesetzmässigkeit ein bestimmtes Resultat voraussehen lässt, dass aber der Versuch ein anderes Resultat erweist. So in dem oben erwähnten Beispiele mit dem Lauth'schen Violett und dem Caro'schen Blau. Geschieht ein solcher experimenteller Durchbruch des gesetzmässig Vorausgesehenen, dann haben wir nicht mehr eine Konstruktion, sondern eine Erfindung vor uns. Feines Gefühl, strenge Selbstkritik und Vorsicht, gründliches Fachwissen und vorzügliche Objektivität, verbunden mit der Fähigkeit knapp zu schreiben, machen aus der Schrift von Witt ein klassisches Werk in der Litteratur der Erfindungsfrage. (Schluss folgt.)