Titel: Die Lage der Goldindustrie und der Grubenarbeiter in Sibirien.
Autor: T.
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 194
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Die Lage der Goldindustrie und der Grubenarbeiter in Sibirien. Die Lage der Goldindustrie und der Grubenarbeiter in Sibirien. Seit einigen Jahren hat die russische Regierung verschiedene Massnahmen ergriffen, um die Goldindustrie in Sibirien zu heben und die Lage der Grubenarbeiter zu verbessern. Beispielsweise wurde die zollfreie Einfuhr von Maschinen und Geräten für den Bergbau und die Goldwäschen auf dem Wege des nördlichen Eismeeres nach den Mündungen der Flüsse Ob und Jenissei gestattet. Zur wissenschaftlichen Erforschung der Goldlagerstätten des Jenissei- und Lenakreises, sowie des Amur- und Küstengebiets hat die Regierung verschiedene Bergingenieure nach Sibirien entsandt. Es wurden neue Gesetze ausgearbeitet, um die Thätigkeit der Genossenschaften (sogen. Artéli), die grösstenteils nur Raubbau betreiben, möglichst einzuschränken. Zur Verbesserung der allgemeinen Lage der Grubenarbeiter wurden neue Bestimmungen eingeführt und Unterstützungskassen für Goldwäscher gebildet. Leider haben aber alle Regierungsmassnahmen bisher keine merkbare Besserung der Zustände bewirkt. Aus dem Fachblatt „Вѣстникъ 30дотопромышденности и горнаго дѣда Вообще“ (Bote für Goldgräber und allgemeines Bergwesen)Tomsk. Verleger und Herausgeber: Bergingenieur W. S. Reutowsky, Jahrg. 1899. und aus der Tageszeitung St. Petersburger Herold entnehmen wir über den Niedergang der Goldindustrie in Sibirien und über die ungünstige Lage der Grubenarbeiter folgende beachtenswerte Angaben. In Westsibirien wird allgemein über den Niedergang der Goldindustrie geklagt. Die Goldgräber verlassen die Gruben und dringen immer mehr nach Osten vor, wo sie aus dem Boden grösseren Gewinn zu erzielen hoffen, während in Westsibirien selbst noch zahlreiche unberührte Goldlagerstätten vorhanden sind. Die von den Regierungsingenieuren neu entdeckten Lagerstätten werden von den Goldgräbern in Besitz genommen und systemlos bearbeitet. Selbst grössere Unternehmer bevorzugen den Raubbau und überlassen den Handwäschern zahlreiche Stellen, die sich noch für den Grossbetrieb eignen würden. Die Handwäscher aber bearbeiten nur solche Stellen, wo sie erfahrungsmässig das meiste Gold antreffen. Es beginnt dann eine Betriebsart, die in Sibirien mit dem Ausdruck „Chischtschnitschewo“ (Räuberei) bezeichnet wird. Erscheint der fernere Betrieb auf den erst teilweise bearbeiteten Lagerstätten nur mit grösseren Kosten durchführbar, so wird der Ort vom Unternehmer verlassen, der dann anderwärts einen neuen, unberührten Platz aufsucht. Als Verwüster des sibirischen Goldreichtums werden die zahlreichen Genossenschaften (Artéli) betrachtet, die in allen goldführenden Gebieten anzutreffen sind, überall den Boden durchwühlen, dabei selbst wenig Gewinn erzielen und die Anlage einer regelrechten Wäscherei für die Zukunft erschweren oder unmöglich machen. Viele Grubenbesitzer erheben auch von den Unternehmern für die Goldausbeute sehr hohe Pachtsummen, wodurch der systemlosen Bearbeitung Vorschub geleistet wird. Für 1 Pud (16,38 kg) ausgearbeitetes Gold hat der Unternehmer, je nach der Goldart und Schwierigkeit der Bearbeitung, dem Grubenbesitzer 60 bis 2965 Rbl. (etwa 129 bis 6375 M.) zu entrichten. Da alle Regierungsmassnahmen eine merkbare Besserung der Zustände bisher nicht bewirkt haben, ist von verschiedenen Seiten in der sibirischen Presse der Vorschlag gemacht worden, ausländische Unternehmer, die über Kapital und Erfahrung verfügen, durch gewisse staatliche Vergünstigungen für die Goldindustrie Sibiriens zu gewinnen. Es ist Thatsache, dass Ausländer in Sibirien Goldgruben, die nach der Meinung einheimischer Unternehmer als erschöpft galten, in Besitz genommen und noch mit Vorteil weiter betrieben haben. „Die Ausländer arbeiten mit den neuesten technischen Hilfsmitteln auf wissenschaftlicher Grundlage und begnügen sich mit einem geringeren Gewinn als unsere einheimischen Unternehmer, die ihr Betriebskapital mit 20, 30 oder gar 40 % verzinsen wollen,“ schrieb kürzlich Romanow im Boten für Goldgräber und allgemeines Bergwesen. Nach amtlichen Angaben waren 1894 in den Bergwerken und Goldgruben Sibiriens insgesamt 52233 Arbeiter beschäftigt. Von diesen entfielen etwa ⅘ oder 43592 Arbeiter auf die Goldgruben. In Ostsibirien, in den Salzbergwerken des Gouvernements Irkutsk, in den Goldbergwerken von Nertschinsk und in den Kohlengruben der Insel Sachalin werden Zwangsarbeiter beschäftigt. Auf allen übrigen Bergwerksgebieten besteht die Arbeiterschar aus frei angeworbenen Kräften, aus Ureinwohnern, Ansiedlern oder Uebersiedlern aus dem europäischen Russland. Seit einigen Jahren ist auch ein stetiger Zuzug von Chinesen, Mandschus und Koreanern, die früher beim Eisenbahnbau beschäftigt waren, nach den Goldlagerstätten bemerkbar geworden. Letztere vereinigen sich gewöhnlich zu Genossenschaften von 10 bis 20 Mann als sogen. „Solotnikarbeiter“, deren Lohn nach der Solotnikmenge (1 Solotnik = 4,27 g) des gewonnenen Goldes berechnet wird. Viele Goldgruben befinden sich in der Wildnis. Die Arbeiter müssen daher aus besiedelten Gebieten herangezogen werden, die nicht selten einige hundert Kilometer von den Gruben entfernt liegen. Zur Anwerbung der Arbeiter werden von den Unternehmern Agenten ausgeschickt. Um die Gruben zu erreichen, müssen die Arbeiter weite Strecken auf den Flüssen und über Land zurücklegen. Für die lange und beschwerliche Reise erhalten die Arbeiter von den Agenten ein verhältnismässig hohes Handgeld und alle notwendigen Kleidungsstücke. Unterwegs werden die Leute zum Trinken verleitet. Ist erst das Handgeld verausgabt, dann kommen die Kleidungsstücke an die Reihe. Die Agenten pflegen alle Kleider für einen billigen Preis einzulösen und verkaufen sie entweder sofort oder später in den Gruben für den vollen Preis an die Arbeiter. Langt die Arbeiterschar am Bestimmungsort an, so haben in den meisten Fällen die Leute einen grossen Teil ihres vertragsmässigen Jahreslohns bereits verausgabt. Sie sind nun gezwungen, unter allen Bedingungen, anfänglich auch ohne Löhnung, die Arbeit zu verrichten und für Lebensmittel oder Kleidungsstücke neue Schulden zu machen. Auf diese Weise wird der Grubenarbeiter in Sibirien gleichsam ein Leibeigener des Unternehmers und oft auf das Schamloseste ausgebeutet. Nach Angaben des Bergingenieurs Schostak betrug der durchschnittliche Jahreslohn eines Arbeiters in den Goldgruben des Kreises Süd-Jenissei 275 Rbl. (etwa 590 M.). Von dieser Summe entfielen 228 Rbl. (etwa 490 M.) auf bereits empfangenes Handgeld, auf Kleidungsstücke und Lebensmittel, so dass am Schlusse des Dienstjahres je ein Arbeiter nur noch etwa 47 Rbl. (etwa 100 M.) in barem Gelde zu beanspruchen hatte. Im übrigen ereignet es sich auch häufig, dass der Arbeiteram Schluss des Dienstjahres nicht nur nichts erübrigt, sondern dem Unternehmer noch durch Schulden verpflichtet bleibt. Beim Warenverkauf erheben die Grubenbesitzer von den Arbeitern übermässige Preise. Nach Schätzungen von Schostak erzielt der Grubenbesitzer auf je 1 Pud (16,38 kg) Gold im Kreise Tobolsk-Akmolinsk etwa 1040 Rbl. (2236 M.), im Kreise Semipalatinsk-Ssemiretschensk etwa 1300 Rbl. (2795 M.) netto durch Warenverkauf. Kleinere Unternehmer beziehen ihre Vorräte durch Kosaken oder Bauern aus den nächstgelegenen Ortschaften, grössere Unternehmer besitzen auch eigene Dampfer, die alle Waren aus Städten oder Dörfern möglichst nahe an das Goldgebiet schaffen. Im Kreise Semipalatinsk-Ssemiretschensk liegen einzelne Gruben 100 km von besiedelten Ortschaften entfernt. Die Warenzufuhr auf 100 Werst (107 km) wird hier im Winter mit 40 Kop. (etwa 90 Pf.), im Sommer mit 80 Kop. (etwa 1 M. 80 Pf.) für je 1 Pud (16,38 kg) berechnet. Die Preise der Lebensmittel, die Anschaffungskosten für Maschinen und die Arbeitslöhne steigen im Verhältnis zur Entfernung der Goldwäschen von den Verkehrsstrassen. Im allgemeinen sind die Preise für Lebensmittel so ausserordentlich hoch, dass auch der genügsamste Arbeiter niemals etwas ersparen kann. Im Steppengebiet Westsibiriens können die Arbeiten in den Gruben von Anfang April bis in den Oktober hinein ausgedehnt werden. Die meisten Gruben liegen in unmittelbarer Nähe von Kosakenansiedelungen oder Kirgisenlagern, Arbeitskräfte sind dort leicht und billig zu erlangen. Die Kirgisen pflegen für einen Tagelohnsatz von 25 bis 45 Kop. (etwa 55 Pf. bis 1 M.) zu arbeiten. Der Arbeitslohn, einschliesslich Verpflegung, schwankt zwischen 4 und 8 Rbl. (etwa 8 M. 50 Pf. und 17 M.) im Monat. Im Kreise Semipalatinsk-Ssemiretschensk wurden den Arbeitern täglich verabfolgt 1 Pfund Fleisch, 4 Pfund Brot und 1 Pfund Grütze, ausserdem 3 Pfund Salz oder eine bestimmte Menge Ziegelthee im Monat. Im Bergwerksgebiet von Tomsk können die Wäschereien wegen des rauheren Klimas nur von Anfang Mai bis Anfang Oktober betrieben werden. Es werden dort hauptsächlich Arbeiter für die ganze Betriebsdauer angeworben, einige bereits abgebaute Gruben sind Genossenschaften von Arbeitern übergeben. Ständige Arbeiter erhalten 100 bis 220 Rbl. (etwa 215 bis 475 M.) für die Betriebszeit. Für die Verpflegung wurden jedem Arbeiter im Monat verabfolgt 2½ Pud Roggenmehl, 72 Pud Weizenmehl, 7 bis 7½ Pfund Grütze, 40 bis 45 Pfund Fleisch, ½ bis 1 Pfund Butter oder 1 Pfund Fett bezw. 4 Pfund Salz. In Ostsibirien sind zwar die Arbeitslöhne bedeutend höher, die Wegeverhältnisse aber noch viel mangelhafter als in Westsibirien. Dementsprechend herrscht dort eine ausserordentliche Teuerung aller Lebensmittel. Die einzige bequeme Verbindung bildet die Schlittenbahn im Winter, dann werden alle Vorräte nach den Gruben geschafft. Durch einen schneearmen Winter wird stets ein weiteres Steigen aller Lebensmittelpreise bewirkt. Im Gebiet der Seja erhalten Arbeiter 1000 bis 1200 Rbl. (2150 bis 2600 M.), im Gebiet der Nimana 1500 bis 1900 Rbl. (3250 bis 4100 M.) für die Dauer der Betriebszeit (ohne Verpflegung). Die ganze Schwere der Verteuerung haben die Grubenarbeiter zu tragen, die ohnehin von den Unternehmern in den meisten Fällen arg bedrückt werden. Es ist daher eine ganz gewöhnliche Erscheinung, dass Arbeiter sich durch Flucht ihren Brotherren zu entziehen suchen. Die kleine Summe, die ein Arbeiter am Jahresschluss vielleicht noch zu erhalten hat, lockt ihn nicht zu ferneren, monatelangen Mühseligkeiten. Er sucht auf einer anderen, entfernteren Wäscherei Dienst, wo er wenigstens vorläufig nicht unter der Schuldenlast zu arbeiten braucht. T.