Titel: Ueber die Entwicklung des russischen Eisenbahnwesens.
Autor: A.
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 401
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Ueber die Entwicklung des russischen Eisenbahnwesens. Ueber die Entwicklung des russischen Eisenbahnwesens. Anlässig der Pariser Weltausstellung hat das Ministerium der Kommunikationen einen „statistischen Ueberblick über das Eisenbahnwesen in Russland“ herausgegeben. Wir entnehmen aus einer Besprechung dieses Werkes der St. Petersburger Ztg. nachstehendes. Der starke Aufschwung, den das Eisenbahnwesen in den letzten Jahren nahm, äusserte sich in erster Linie in der Ausdehnung des Schienennetzes, Im Jahre 1892 betrug die Gesamtlängeder russischen und finnländischen Eisenbahnen 30652 Werst; zu Anfang 1900 war diese Ziffer auf 51432 Werst herangewachsen. In den letzten 8 Jahren sind mithin 40 % der Gesamtlänge erbaut worden, während 60 % auf die vorhergehenden 56 Jahre entfallen. Das Eisenbahnnetz hat sich somit reissend vergrössert. Trotzdem ist aber mit den bestehenden Linien dem Bedürfnis an Kommunikationen noch bei weitem nicht genügt, denn einesteils entbehren ganze ausgedehnte Rayons noch immer der Eisenbahnen, andernteils werden aber für gewisse Strecken Konkurrenzlinien angelegt werden müssen, da die bestehenden, es sind gerade die wichtigsten, die Masse der ihnen zugeführten Güter nicht zu befördern vermögen und daher im Frühling und Herbst namentlich den Exporthandel und die bearbeitende Industrie, sowie die Landwirtschaft in der empfindlichsten Weise schädigen. Der Bestand an rollendem Material vergrösserte sich entsprechend der Ausdehnung der Linien, wobei derselbe jedoch noch nicht als auch nur annähernd genügend bezeichnet werden kann, denn neben der ungenügenden Durchlassfähigkeit der Linien spielt der Mangel an rollendem Material bei den berüchtigten Frachtanhäufungen und Verkehrsstockungen eine grosse Rolle. Der Mangel an Waggons für den Transport von Kohlen, Zuckerrüben, Getreide u.s.w., ist auf bestimmten Linien zu einer seit Jahren ständigen Erscheinung geworden. So imposant die von dem „Ueberblick“ angeführten Zahlen für das rollende Material erscheinen, so haben sie doch nur einen relativen Wert; dem thatsächlichen Bedürfnis gegenübergestellt, verlieren sie viel von ihrem Gewicht. Die Zahl der Lokomotiven stieg von 7571 im Jahre 1894 auf 9553 im Jahre 1899. Die Zahl der Passagierwaggons betrug zu Ende 1897 11977, die der Güterwaggons 223860. – Das in Eisenbahnen angelegte Kapital betrug zu Ende 1897 3958800000 Rubel, die Werst kostete also im Durchschnitt 109500 Rubel, was als sehr hoch bezeichnet werden muss. Die Regierung trägt 94,9 % der Anlagekosten, während auf private Gesellschaften nur 5,1 % entfallen. Diese Zahlen erklären sich dadurch, dass die Privatbahnen, die eine Zeit hindurch dominierend waren, aufgekauft wurden, und dadurch, dass die Zahl der ungarantierten Eisenbahnwerte eine ausserordentlich beschränkte ist. Ueber den Verkehr werden nachstehende Daten gegeben: Im Jahre 1882 wurden 97035000 Zugwerst zurückgelegt, 1887 100303000, 1892 134260000, 1897 200142000 Zugwerst. Pro Werst des Netzes kamen an Zugwerst 1882 4551, 1887 4451, 1892 4885, 1897 5849. Die Zugleistung ist also relativ und absolut um 30 % gestiegen. Der Zug bestand im Durchschnitt im Jahre 1882 aus 48 und im Jahre 1897 aus 57 Waggonachsen. An Gütern wurden befördert: 1882 2754000000 Pud, 1887 3645000000, 1892 4485000000, 1897 6819000000 Pud. Pro Werst des Netzes wurden zurückgelegt 1882 26000000 Pudwerst, 1887 30000000, 1892 35000000, 1897 46000000 Pudwerst, was einer Steigerung von beinahe 100 % gleichkommt. Die Zahl der beförderten Passagiere betrug 1882 38800000, 1887 39900000, 1892 49400000, 1897 74700000; pro Werst des Netzes entfielen 1882 185000, 1887 161000, 1892 192000, 1897 249000 Personen. Auf speziellere Angaben des Werkes wird nicht näher eingegangen, denn aus Angeführtem ergibt sich bereits, in wie hohem Masse der Verkehr pro Werst des Netzes gewachsen ist. Wenn sich aus den Daten über die Ausnutzung des rollenden Materials kein ganz günstiges Bild ergibt, so ist das darauf zurückzuführen, dass im Passagierverkehr die Vorortzüge einzelne schwach besetzte Touren machen müssen, während für den Güterverkehr der Aussenhandel massgebend ist. Da die Ausfuhr dem Volumen und dem Gewicht nach die Einfuhr bedeutend übersteigt, so müssen viele Waggons von der Westgrenze und von den Häfen leer zurücklaufen. Leere Rücktouren müssen selbstredend noch Spezialwaggons, wie Milch-, Obst-, Cisternen- und andere Waggons machen. In Betracht zu ziehen sind ferner Sperrgüter, wie Herde, Holzwolle u.s.w. Von ganz besonderem Interesse ist der Passagierverkehr, da bekanntlich am 1. Dezember 1894 ein neuer Tarif eingeführt wurde, der der billigste der Welt ist. Die nächste Folge der Einführung des billigen Tarifs war eine eminente Steigerung des Personenverkehrs, die wiederum Anschaffungen von rollendem Material und Einstellung von neuen Zügen nach sich zog. Einer anderen statistischen Arbeit des Kommunikationsministeriums, die sich nur auf Russland mit Ausnahme von Finnland und Sibirien und den Sekundärbahnen bezieht, werden folgende Daten entnommen: Die Länge der in Betracht kommenden Linien und die Einnahme für Billete betrug: 1893 29226 Werst und 49522547 Rubel, 1894 31050 Werst und 53132710 Rubel, 189532844 Werst und 57258093 Rubel, 1896 33639 Werst und 61329627 Rubel, 1897 35047 Werst und 63982396 Rubel. Aus der Steigerung der Einnahmen kann jedoch noch nicht geschlossen werden, dass der Tarif für die Eisenbahnen vorteilhaft ist, da die Ausgaben für den erhöhten Verkehr die Einnahmen übersteigen können. Um die Bilanz zu ziehen, muss die Reineinnahme aus dem Personenverkehr festgestellt werden, die sich nach Abzug der Exploitationskosten aus der Bruttoeinnahme ergibt. Die Exploitationskosten sind vom Ministerium auf Grund einer eingehenden Enquete mit 45 Kop. pro Passagierwerst festgestellt worden. – Es wurden auf dem Netz Zugwerst und in derselben Periode Passagierwerst zurückgelegt (in Tausenden): Zugwerst Passagierwerst 1893 47548591 3972358 1894 52309222 4330062 1895 56804038 5555600 1896 64303168 6302068 1897 67781118 6742408 Mit der Zahl der Zugwerst stieg mithin auch die der Passagierwerst, was eine Vergrösserung des Nutzeffektes der Züge ergibt. Die Reineinnahme stellte sich nach Abzug der Exploitationskosten auf: 1893 28125681 Rubel, 1894 29593566 Rubel, 1895 31696276 Rubel, 1896 32393201 Rubel, 1897 33480893 Rubel. Aus weiteren detaillierten Aufstellungen ergibt sich, dass die Exploitationskosten und die Kosten für Anschaffung von rollendem Material weit unter der Reineinnahme stehen. Mithin kann die Einführung des billigen Tarifs auch in finanzieller Beziehung als eine durchaus gelungene bezeichnet werden. Es wurden befördert Passagiere der 1., 2. und 3. Wagenklasse: 1894 41223532, 1895 44250189, der 4. 2781642, 1896 48178286, der 4. 3003541, 1897 53354186, der 4. 3180730. 79 % sämtlicher Passagiere legten Touren bis zu 100 Werst, 9 % bis zu 200 und 12 % über 200 Werst zurück. Im Gegensatz zu den obigen Angaben stehen die Daten des vorliegenden Ueberblicks, der von bedeutenden Verlusten spricht, die aus dem Personenverkehr gewachsen. Welche von beiden offiziellen Quellen die am besten berichtete ist, ist schwer zu beurteilen, doch wird bemerkt, dass der Personenverkehr aller Eisenbahnen der Welt verlustbringend ist. An Hand des Ueberblickes werden nachstehende Daten über die finanziellen Resultate des Eisenbahnbetriebes gegeben. Die Bruttoeinnahme stieg von 1871–1897 um das 472fache, die Bruttoeinnahme pro Werst um das 1½fache. Wenn man jedoch die Tilgung des Anlagekapitals in Anrechnung bringt, so ergibt sich, dass im ersten Lustrum der 80er Jahre jede laufende Werst 2000 Rubel jährlich Verlust ergab. In den 90er Jahren fiel der Jahresverlust auf 200 Rubel pro Werst; im Jahre 1897 wurde bereits eine Reineinnahme von 600 Rubel pro Werst und Jahr erzielt. Dieses günstige Resultat ist nicht allein auf den erhöhten Verkehr, sondern auch auf Konversionen zurückzuführen, die die Verzinsung des Anlagekapitals verbilligten. Wenn der Ueberblick den Personenverkehr als verlustbringend bezeichnet, so rechnet er für den Güterverkehr bedeutende Reinüberschüsse heraus. Wird alles zusammengefasst, so ergibt sich, dass im Laufe der Jahre sowohl die Eisenbahnen als auch das verkehrende Publikum in eine günstigere Lage gelangt sind. Die Eisenbahnen haben ihre Reineinnahmen vergrössert, gleichzeitig sind aber die Tarife für Personen und Güter herabgesetzt worden. Die Ziffern für den finanziellen Erfolg gewinnen an Relief, wenn man sie mit denjenigen anderer Staaten vergleicht. Die Verzinsung des Anlagekapitals betrug in den Jahren 1895–1897 in: Procent Europäisches Russland 4,5–4,6 Deutschland 5,6–6,1 Oesterreich-Ungarn 3,9–4,7 Frankreich 3,7–4,0 Groβbritannien 3,7–3,9 Nordamerika 3,1–3,5 In Bezug auf die erzielte Reineinnahme steht also Russland nach Deutschland in zweiter Stelle. A.