Titel: Die grosse sibirische Eisenbahn.
Autor: A.
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 496
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Die grosse sibirische EisenbahnDie grosse sibirische Eisenbahn. Herausgegeben von der Kanzlei des Ministerkomitees.. Die grosse sibirische Eisenbahn. Sibirien umfasst einen Flächenraum von 14½ Millionen Quadratkilometer, ist somit 1½mal grösser wie ganz Europa. Die Unterwerfung Sibiriens unter die russische Krone begann unter Johann dem Schrecklichen durch Jermak im Jahre 1581 und fand durch den Pekinger Vertrag 1860 durch Abtretung des Amurgebietes seitens Chinas seinen Abschluss. Dieses gewaltige Territorium weist nach der Volkszählung vom Jahre 1897 nur 8 188868 Einwohner auf, wovon mehr als ein Drittel auf die beiden westlichen Gouvernements Tobolsk und Tomsk entfallen; am wenigsten bevölkert ist das Gebiet Irkutsk mit nur ¼ Million. Infolge der Grösse sind die natürlichen Verhältnisse Sibiriens ausserordentlich mannigfaltig. Man kann zwei von Westen nach Osten verlaufende, sich scharf trennende Zonen unterscheiden. Die eine derselben umfasst den von der Eisenbahn durchschnittenen und verhältnismässig am stärksten bevölkerten südlichen Teil des Landes, wo die klimatischen und Bodenverhältnisse der Entwickelung landwirtschaftlicher Kultur und Kolonisation durchaus günstig sind. Die andere Zone schliesst die ausgedehnten nördlichen Gebiete Sibiriens in sich, die Region der menschenleeren Tundren oder Polarmoore. Zwischen diesen beiden Zonen erstreckt sichdie Region der sogen. Taiga. Dies ist ein breiter Landstrich, in dem teils Nadelholzurwald, teils hochstämmige Laubholzwaldungen mit Sumpfmooren abwechseln, während ostwärts vom 90. Längengrade Gegenden mit Alpincharakter dazwischenliegen. Es ist ja allbekannt, dass Sibirien einen ungeheuren Reichtum an Naturschätzen aufweist, die aber bisher infolge absoluten Fehlens geeigneter Verkehrswege nur zum geringsten Teil erschlossen werden konnten. Die sibirischen Wasserläufe gehen alle bis auf den Amur nach Norden in das nur kurze Zeit im Jahre befahrbare Eismeer. Es ist daher die Erbauung der grossen sibirischen Eisenbahn ein für die ganze Welt bedeutsames Unternehmen. Es fällt in die Regierung Alexanders III. Am 19. Mai 1891 erfolgte durch den Thronfolger Nikolaus Alexandrowitsch in Wladiwostok die Grundsteinlegung dieses Riesenwerkes, das den Atlantischen mit dem Stillen Ozean verbinden sollte. Die Bauleitung wurde nebst den in seinem Zusammenhang stehenden Hilfsunternehmen zur Förderung der Kolonisation und der industriellen Entwickelung des durchschnittenen Gebietes unter das „Komitee der sibirischen Eisenbahn“ gestellt, dessen Vorsitz der damalige Thronfolger und jetzt der Kaiser selbst inne hat. Dem Komitee gehören die Minister und die höchsten Regierungsbeamten an. Das anfängliche Projekt hat insofern eine Abänderung erhalten, als die Strecke Sretensk-Chabarowsk einstweilen nicht gebaut wird; dagegen wird der Anschluss an den Stillen Ozean durch die chinesische Ostbahn in der Mandschurei hergestellt, die über Charbin nach Nikolsk geht und einen Abzweig nach Port Arthur besitzt. Der angeführten Quelle entnehmen wir über den Bahnbau nachstehendes. Textabbildung Bd. 315, S. 497 Für die sibirische Bahn wurde im Interesse des Transitverkehrs und zur Erzielung möglichster Kostenersparnisse die kürzeste Richtung gewählt, welche zum grössten Teil längs dem 55. Breitengrade verläuft und die Kornkammer Sibiriens, die fruchtbarsten und bevölkertsten Gegenden des Landes durchschneidet. Mit dem Bau der sibirischen Bahn wurde von zwei entgegengesetzten Seiten begonnen. Als deren Ausgangspunkt im Westen erscheint die letzte Station der Ssamara-Slatoust-Bahn Tscheljabinsk im Gouvernement Orenburg. Bis 1900, d.h. im Verlauf von weniger als neun Jahren, ist ein Schienenstrang von 5400 km Länge gelegt worden, was für jedes Baujahr eine Strecke von 600 km ausmacht. Dieses Resultat muss als sehr erfolgreich angesehen werden, besonders wenn man einerseits die Schwierigkeiten, die bei der Durchlegung des Schienenweges in dem stark coupierten Terrain des Tomsk'schen und Jenisseiskschen Gouvernements, sowie in dem vielfachen Ueberschwemmungen ausgesetzten Transbaikalgebiet zu überwinden waren, andererseits aber die zahlreichen grossen Ströme, zu deren Ueberbrückung eine Gesamtlänge von mehr als 48 km Brücken erbaut werden musste, in Berücksichtigung zieht. Die grösste Brücke führt über den Jenissei und hat eine Länge von 895 m bei einer Spannweite der Brückenbögen von 150 m. Was die Schnelligkeit der Ausführung des Baues anbelangt, so steht die sibirische Bahn ohnegleichen da und übertrifft sogar die ihr in vielen Beziehungen ähnliche kanadische Pacificbahn, die 4700 km lang ist, deren Bau zehn Jahre erforderte. Mit der Eröffnung der Schiffahrt im Jahre 1900 ist bereits die Möglichkeit geboten, eine ununterbrochene, mit Dampfbetrieb unterhaltene Verbindung zwischen dem europäischen Eisenbahnnetz und der Stadt Wladiwostok teils mit der Eisenbahn, teils auf Dampfschiffen herzustellen, und zwar nach folgendem Fahrplan: von Tscheljabinsk bis Sretensk mit der Eisenbahn (4421 km), wobei die Ueberfahrt über den Baikalsee (64 km) auf einem besonderen, zur Aufnahme des ganzen Eisenbahnzuges eingerichteten Eisbrecherdampfer vor sich geht; von Sretensk bis Chabarowsk auf dem Schilkaflusse und dem Amur (2240 km) mit dem Dampfer und endlich von Chabarowsk bis Wladiwostok (776 km) wiederum mit der Eisenbahn. Diese Reise beansprucht etwa 2½ Wochen. Zur Erleichterung der Fahrt auf der sibirischen Bahn sind besondere Kurierzüge eingeführt, die wöchentlich zwischen Moskau und Irkutsk verkehren. Diese Züge enthalten Schlaf- und Speisewagen, Bibliothek, Baderaum, Turnsaal und überbieten an Bequemlichkeit die besten Expresszüge Europas. Die Reise von Paris oder London nach Wladiwostok beansprucht gegenwärtig etwa 3½ Wochen, während für die Fahrt nach Ostasien auf dem Seewege über Suez 6 Wochen erforderlich sind. Hieraus ist ersichtlich, in welchem Masse bereits jetzt dank der sibirischen Eisenbahn der Verkehr Europas mit dem fernen Osten beschleunigt wird. Der Verkehr dürfte noch weitere Erleichterungen erfahren durch die bevorstehende Vollendung der 1899 in Angriff genommenen Baikalumgehungsbahn (250 km), sowie der 1897 von einer russischenPrivatgesellschaft innerhalb der Grenzen der Mandschurei unternommenen chinesischen Ostbahn (1536 km) mit ihrer südlichen Zweiglinie (1050 km). Durch diese Bahn wird die sibirische Hauptlinie auf kürzestem Wege mit Wladiwostok und Port Arthur und Dalnij (Talienwan) verbunden. Die Gesamtlänge des grossen sibirischen Schienenweges, d.h. die sibirische Hauptbahn und die mandschurische Linie mit allen ihren Abzweigungen, wird 8870 km betragen. Die bequemste Reiseroute für die Fahrt vom Atlantischen zum Stillen Ozean ist folgende: Havre–Paris–Köln–Berlin–Alexandrowo–Warschau–Moskau–Tula–Ssamara–Tscheljabinsk–Wladiwostok. Die Gesamtlänge der ganzen Strecke beträgt 11950 km, von denen 10240 km oder 6/7 auf die grosse sibirische Eisenbahn (6510 km) und auf das Eisenbahnnetz des Europäischen Russland (3730 km) entfallen, während sich an den übrigen 1710 km die Eisenbahnen von Frankreich mit 480 km, Belgien mit 160 km und Deutschland mit 1070 km beteiligen. Zur Erleichterung des Exportes sibirischer Produkte ins Ausland hat das Komitee der sibirischen Eisenbahn einen neuen Transportweg nach den westeuropäischen Märkten durch den Hafen von Archangelsk und das Weisse Meer eröffnet dadurch, dass im nordöstlichen Teile des Europäischen Russland eine Bahn von 860 km Länge von der Stadt Perm und dem Binnenhafen Kotlas an der Dwina erbaut worden ist. – Die vorläufigen Betriebsergebnisse der sibirischen Bahn, soweit sie in dem Umfange des Personen- und Warenverkehrs zu Tage traten, haben gleich in der ersten Zeit die Erwartungen bei weitem übertroffen. Auf den west- und mittelsibirischen Teilstrecken sind seit dem Oktober 1895, als die ersten Transporte begannen, bis zum Jahre 1899, in dem bereits die ganze Linie Tscheljabinsk–Irkutsk für den Personen- und Warenverkehr eröffnet war, befördert worden: PassagierePersonen WarenTons (im Laufe von 3 Monaten) 1895   211000     57000 1896   417000   184000 1897   600000   443000 1898 1049000   700000 1899 1075000   657000 –––––––––––––––––––––––––––––––––––– zusammen 3352000 2041000 Unter den Ausfuhrwaren Sibiriens nimmt Getreide die erste Stelle ein (42 % der Gesamtausfuhr) und geht über Reval, Libau, Si. Petersburg und Riga ins Ausland. In zweiter Linie stellen die Erzeugnisse der Vieh- und Geflügelzucht: Fleisch, geschlachtetes Geflügel, Butter (hauptsächlich auf den Londoner Markt gebracht), Talg, Häute, Wolle, Eier. An. Durchführwaren befördert die sibirische Bahn zunächst hauptsächlich Theo, dessen Transport mit jedem Jahre steigt (1897 : 28000 Tons, 1898 : 36000 Tons). Eingeführt werden nach Sibirien vorzugsweise Eisen und Eisenwaren, Zucker, Manufakturwaren, Maschinen und Petroleum. Die schnelle Zunahme des Personen- und Warenverkehrs auf der sibirischen Bahn veranlasste die nachträgliche Bewilligung von Geldmitteln zur Verstärkung der Leistungsfähigkeit dieser Bahn und zur Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit in der ersten Zeit auf 37 km in der Stunde, die von den amerikanischen Bahnen im Ueberlandverkehr angenommene Geschwindigkeit, für Passagierzüge und bis auf 21 bis 23 km für Warenzüge. Bei dieser Geschwindigkeit würden zur Zurücklegung der gegen 8500 km betragenden Strecke von Moskau bis Wladiwostok oder Port Arthur der ganzen Magistrallinie 10 Tage erforderlich sein. (Nach dem Sommerfahrplan 1900 beträgt die Fahrt von Moskau bis Irkutsk 7 Tage, das sind 31 km pro Stunde.) Der Preis für eine Fahrkarte 1. Klasse in Schnellzügen mit Schlafplätzen soll nach dem geltenden Differentialtarif 240 Mark betragen. Die Reise von Paris oder London nach Shanghai wird unter diesen Umständen 16 Tage dauern und in der 1. Klasse 690 Mark kosten (statt 34 bis 36 Tagen und 1950 Mark, die jetzt die Ueberfahrt auf dem Seewege erfordert). Bei weiterer Steigerung der Fahrgeschwindigkeit auf der sibirischen Bahn bis zu der in Europa erreichten Maximalgrenze wird die Fahrzeit späterhin bis auf 10 Tage vermindert werden können. Was nun die Kosten des grossen Unternehmens betrifft, wird mitgeteilt, dass sie für die mit russischen Kräften und mit russischem Gelde – in Sibirien von der russischen Regierung, in den chinesischen Grenzgebieten von einer russischen Privatgesellschaft – ausgeführten Bahnbauten mit ihren Abzweigungen und Hilfsunternehmungen 1700 Millionen Mark übersteigen, wovon bis 1900 bereits über 1100 Millionen Mark verausgabt wurden. Mit dem Bau der Eisenbahn stehen die Kolonisierung Sibiriens und die Erschliessung seiner Reichtümer in engstem Zusammenhang. Der Zuzug von Einwanderern nach Sibirien, so entnehmen wir ferner, hat bedeutend zugenommen und eine ungeahnte Intensität erreicht. Seit der Errichtung des Komitees beträgt die Zahl der Einwanderer: 1893   65000 Personen beiderlei Geschlechts 1894   76000 1895 109000 1896 203000 1897   87000 1898 206000 1899 225000 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– zusammen 971000 Personen beiderlei Geschlechts. Ausserdem wurden in demselben Zeitraum auf den Schiffen der freiwilligen Flotte 25 000 Personen nach dem Ussurigebiet befördert, somit nahezu eine Million Kolonisten. Ausser der Regelung des sibirischen Uebersiedelungswesens, auf das wir nicht näher eingehen wollen, hat das Komitee der sibirischen Eisenbahn viel für die Erforschung und Erschliessung der Produktionskräfte Sibiriens, sowie für die kommerzielle und industrielle Entwickelung des Landes gethan. Die getroffenen Massnahmen erstrecken sich auch auf die Veranstaltung geologischer Forschungen in Sibirien zwecks Auffindung neuer Lagerstätten nützlicherMineralien. Besondere Aufmerksamkeit wurde hierbei auf die Entdeckung von Steinkohlenlagern gerichtet, um für die Bahn, die zum Teil durch waldarme Gegenden führt, billiges Heizmaterial zu beschaffen. Die Schürfungen hatten Erfolg und erwiesen das Vorhandensein einer ganzen Reihe von ergiebigen Steinkohlenlagern zum Teil in nächster Nähe der Eisenbahnlinie (bei den Stationen Sudshenka, Tscheremchowo, Myssowaja), zum Teil aber in grösserer Entfernung von der Bahn. Mehrere neuentdeckte Steinkohlenlager wurden an Privatunternehmer zur Ausbeutung überwiesen. An nützlichen Mineralien wurden ermittelt: Eisenerze in Transbaikalien, Kupfererze im Steppengebiet, Nephrit im Gouvernement Irkutsk u.s.w. Im Interesse der Weiterentwickelung der sibirischen Goldgewinnung, die jährlich im Durchschnitt von 1891 bis 1897 bis zu 30 Tons ergeben, gelangte eine eingehende wirtschaftsstatistische und technische Untersuchung der Goldsandlager im Jenissei-, Lena-, Amur- und Küstengebiet zur Ausführung. Ausserdem wurde zum erstenmal das nordwestliche Gestade des Ochotskischen Meeres in Bezug auf seinen Goldreichtum erforscht, wobei sich an den Flussläufen abbauwürdige Lager nachweisen liessen. Diese Goldsandlager sollen vom Jahre 1900 ab auf 15 Jahre solchen russischen oder ausländischen Unternehmern oder Aktiengesellschaften zur Ausbeute übergeben werden, welche das höchste Angebot hinsichtlich der dem Staate zu zahlenden Abgaben machen. – Um die Schiffahrt auf dem stürmischen Baikalsee, einem der wichtigsten Zufuhrwege der sibirischen Bahn, zu heben, erforscht eine Expedition den See in hydrographischer Beziehung. Diese Arbeiten sind für die wirtschaftliche Entwickelung der an Fischereien und Erzlager etc. reichen Küstengegend von grosser Bedeutung. Ausserdem wurde die hydrographische Erforschung der Mündungen des Ob und des Jenissei, sowie eines Teils des Karischen Meeres begonnen behufs Verbesserung des nördlichen Seeweges nach Sibirien. Es wurde u.a. festgestellt, dass der Jenissei keine Barre hat und für Seeschiffe bis auf 1600 km von der Mündung zugänglich ist, sowie dass der Ob vom Meere aus mit Schiffen von nicht mehr als 12 Fuss Tiefgang befahren werden kann, während für tiefer gehende Fahrzeuge im Ob-Busen eine vorzüglich geschützte Bucht „Nachodka“ Zuflucht bietet. Zar Förderung des Warenaustausches mit den ostasiatischen Ländern China und Japan ist in Wladiwostok ein Handelshafen errichtet worden, der im Winter durch Eisbrecher offen gehalten wird. Auch ist daselbst die Russisch-Chinesische Bank eröffnet worden. An dem Gestade des eisfreien Gelben Meeres wurde am Endpunkt der grossen sibirischen Transkontinentalbahn Ta-lien-wan zur Errichtung des Freihafens Dalnij geschritten. Es erübrigt nur noch, daran zu erinnern, dass nach kaiserlicher Entscheidung Sibirien als Verbannungsort schwerer, sowie politischer Verbrecher zu dienen aufhören soll, welche Massnahme Land und Leuten zu grösstem Segen gereichen wird. A.