Titel: Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20 Jahren.
Autor: W. Hort
Fundstelle: Band 332, Jahrgang 1917, S. 102
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Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20 Jahren. Von Ingenieur Dr. W. Hort, Berlin-Siemensstadt. (Fortsetzung von S. 334 Bd. 331) HORT: Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20 Jahren. IV. Technische Festigkeitslehre. 1. Die Festigkeitslehre hat ihre Entwicklung, zeitlich betrachtet, neben der Elastizitätslehre und in einem gewissen Zusammenhang mit ihr durchlaufen. Von diesem Gesichtspunkt aus war es früher und ist es zum Teil auch heute noch in den Vorlesungen über technische Mechanik üblich, Festigkeitslehre und Elastizität im gleichen Rahmen zu betrachten. Hiernach ist zum Beispiel das weitverbreitete Lehrbuch von Föppl über technische Mechanik angelegt, dessen Bände III und V unsere beiden Wissenszweige in Verknüpfung miteinander vortragen. Neben der eigentlichen Elastizitätslehre behandelt Föppl in diesen beiden Bänden an Fragen, die zur Festigkeitslehre gehören, die experimentelle Prüfung der Elastizitätsgesetze einschließlich der Abweichungen vom Hookeschen Ansatz, die Materialanstrengung, die Wiederholungsbeanspruchung, die elastische Nachwirkung, die Mohrsche Theorie der Bruchgefahr. Im Gegensatz hierzu beschränkt sich Lorenz im IV. Bande seiner technischen Physik auf eine kurze einleitende Betrachtung über den Zug- und Druckversuch zur Gewinnung der beiden Konstanten der klassischen Elastizität, nämlich des Zugmoduls E und des Schubmoduls G, um sich im Hauptteile des Werkes ausschließlich der Ermittlung der Spannungs- und Formänderungszustände innerhalb des Elastizitätsgebietes zuzuwenden. Ueberblickt man die neuere Literatur zur Festigkeitslehre, so ist unverkennbar, daß sich vermöge einer außerordentlich entwickelten Versuchs- und Spekulationstätigkeit der Stoff zu einem nach Umfang und Methoden mehr und mehr selbständig werdenden Wissenszweig angesammelt hat, dessen erstmalige Sichtung sich der Bericht von Th. v. Kármán141) in der Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften angelegen sein läßt. 2. Die Aufgabe der Festigkeitslehre ist eine zweifache. Einmal hat sie die Eigenschaften der Konstruktionsstoffe außerhalb des Elastizitätsgebietes bis zur Bruchgrenze zu erforschen und dabei die Bedingungen des Bruches zu ermitteln, die für die Formeln für die Festigkeitsberechnung der Bauteile maßgebend sind, andererseits wird sie bis auf weiteres den Rahmen bilden können für die Entwicklung der mathematischen Ansätze, nach denen die Formänderungen der Körper vor sich gehen, die nicht dem Hookeschen Gesetz folgen. Wir wissen heute, daß ein Elastizitätsgebiet, in welchem das Hookesche Gesetz gilt, nur für eine beschränkte Anzahl von Stoffen existiert und daß selbst für diese Stoffe das Hookesche Gesetz an Gültigkeit verliert, sobald die Zeit in Rücksicht gezogen wird. Einsicht in diese Fragen kann nur das Experiment verschaffen. So gibt es zum Beispiel für ausgeglühtes Kupfer und Weichblei keine Elastizität (selbst kleinste Formänderungen lassen Dehnungsreste zurück), bei Gußeisen und Steinen kann man die Ergebnisse der Zug- und Druck- oder Biegungsversuche nur durch Interpolationsformeln in Gestalt von Potenzgesetzen142) wiedergeben. 3. Besonders verwickelte Verhältnisse ergeben sich beim Zugversuch an flußeisernen Stäben. In der Abb. 1 (S. 103) ist das Aussehen des gewöhnlichen Zugdehnungsschaubildes dargestellt. Von den eingezeichneten Grenzpunkten sind Elastizitätsgrenze und Proportionalitätsgrenze abhängig von der Schärfe der Beobachtungsmittel, d.h. von dem Maß der Restdehnungen oder Proportionalitätsabweichungen, die man noch erkennen kann. Neuerdings wird zum Beispiel die Elastizitätsgrenze bei der Spannung angenommen, bei welcher sich 0,03 v. H. an bleibender Dehnung ergeben. Die beiden Streckgrenzen sind bei vielen Eisensorten gut ausgeprägt; bei anderen fallen sie zusammen; man nennt sie auch Fließgrenzen. Zugfestigkeit Kl und Bruchgrenze, wie die Bruchdehnung φl sind meistens gut beobachtbar; beide Zahlen sind wesentliche Grundlagen der Materialbeurteilung. Die Stoffeigenschaften innerhalb des Fließgebietes sind neuerdings Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen. Insbesondere hat H. Hort143) die gegenseitigen Beziehungen der Teile x und y des Fließgebietes näher untersucht. Durch Verfolgung der Wärmeentwicklung beim Zugversuch konnte nachgewiesen werden, daß der Fließvorgang im Gebiete x sich ungleichmäßig über die Länge des gezogenen Stabes verteilt, während im Gebiete y der ganze Stab in allen seinen Teilen gleichmäßig fließt. Die Lastschwankungen im Gebiete x werden dabei verursacht durch die ruckweise erstmalige Einleitung des Fließvorganges in den verschiedenen Stabteilen, im Zusammenhang mit der Eigenelastizität der Festigkeitsmaschine; dementsprechend werden die Gebiete x und y als labiles resp. stabiles Fließgebiet bezeichnet.
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Dafür, daß in manchen Fällen, wie in Abb. 1 gezeigt, die obere Fließgrenze beträchtlich über der mittleren Spannung des labilen Gebietes liegt, hat man verschiedene untereinander wenig übereinstimmende Erklärungsversuche, die wir deshalb nicht ausführlicher erörtern. 5. Etwas mehr kann man über das stabile Fließgebiet aussagen. Entlastet man nämlich innerhalb des stabilen Gebietes, etwa bei A oder B (Abb. 2) die Prüfungsmaschine, so verhält sich der Stab wie ein elastischer von etwa demselben Elastizitätsmodul wie der ursprüngliche Stab. Bei erneuter Belastung wird die vorhergegangene Maximallast wieder erreicht, ehe sich der regelmäßige Fließvorgang fortsetzt. Es liegt eine Erhöhung der Elastizitätsgrenze vor; die Längung des Stabes wirkt etwa wie eine Kaltbearbeitung. Auf diese Weise kann man ausgeglühtem Kupferdraht einen Elastizitätsmodul verleihen. Vergleiche zum Beispiel das von H. Hort mitgeteilte Schaubild Abbildung 3. Die Zugdehnungskurve kann man durch die Druckkurve vervollständigen. Nach einem von E. Meyer144) angegebenen Verfahren kann man aus der so aufgenommenen Zug-Druckkurve das Verhalten eines Stabes gleichen Materials bei reiner Biegung voraus berechnen, bei welcher bekanntlich die einzelnen Fasern zum Teil gezogen, zum Teil gedrückt werden. E. Meyer fand, daß bis zu recht erheblichen Belastungen (über die Fließgrenze hinaus) die berechneten und die beobachteten Biegungserscheinungen gut übereinstimmten (Abb. 4). 6. Außer der Beanspruchung auf Zug, Druck, Biegung und Drehung benutzen wir noch die Härteprüfung zur Untersuchung unserer Baustoffe. Dies Prüfungsverfahren ist insofern bemerkenswert, als es im Zusammenhang mit einer der berühmtesten Untersuchungen der mathematischen Elastizitätslehre entstanden ist, nämlich der in Fußnote 119 genannten Untersuchung von H. Hertz.145) Hertz wollte ein absolutes Maß für die Härte einführen, indem er als Härtezahl die größte zur Rißbildung führende Druckspannung auf eine kreisförmige Druckfläche ansprach, die sich bei der Aneinanderpressung zweier Körper aus gleichem Stoff ausbildet. Seine Untersuchung hatte nämlich ergeben, daß die eine gegebene Druckspannung σ0 herbeiführende Kraft P unabhängig von den Körperabmessungen ist. Für eine Kugel, die nach Abb. 5 auf eine Ebene gedrückt wird, gilt: σ0=0,388PE2r23. Nach dem Vorschlag von Hertz hätte man P so lange zu steigern, bis in der Mitte der Druckfläche AB ein Riß auftritt; dann würde das nach der Formel berechnete σ0 als Härte gelten. Angestellte Versuche146) ergaben, daß die so errechneten Härteziffern von den absoluten Körperabmessungen abhängig waren, was Föppl147) auf Oberflächenkräfte zurückführt, die er mit den bekannten Kapillaritätseigenschaften freier Flüssigkeitsoberflächen in Parallele stellt.
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Abb. 1.
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Abb. 2.
Wir lassen unerörtert, in wie weit diese Analogie zutrifft, jedenfalls hat die Komplikation der ursprünglich theoretisch recht einfach erscheinenden Prüfungsmethode durch die praktischen Umstände nicht verhindern können, daß die Kugeldruckprobe, insbesondere im Anschluß an. die Verbreitung der Brinellschen148) Kugeldruckpresse, in lebhafte Aufnahme gekommen ist. Sie verdankt dies der technisch leicht und schnell zu ermöglichenden Versuchsausführung, überall da, wo es auf die Anstellung von zahlreichen Vergleichsproben ankommt. Natürlich fehlt es auch nicht an Bestrebungen, den theoretisch der Kugeldruckprobe anhaftenden Mangel der Abhängigkeit der Zahlenangaben von den Versuchsbedingungen zu beseitigen. Eine Untersuchung von Eugen Meyer149) beschäftigt sich besonders eingehend in dieser Richtung und sucht auch die Kugeldruckprobe in Zusammenhang zu bringen mit dem älteren, von der Mineralogie ausgebildeten Ritzhärteprüfverfahren, sowie der Zylinder-150) und Kegeldruckprobe.151) Diese Versuche geben dankenswerte Aufschlüsse über das Verhalten der Baustoffe, namentlich von Stahl und Eisen, beweisen aber im übrigen ebenso wie zwei Arbeiten von A. Kürth152) die große Verwicklung der Erscheinungen bei den Härteprüfverfahren, die wohl nur dann ihre Lösung finden werden, wenn es gelingt, die Formänderungen oberhalb der Elastizitätsgrenze mit derselben Schärfe rechnerisch zu erfassen, wie die elastischen Deformationen. 7. Die Frage nach der Härtedefinition führt weiter zu dem allgemeinen Problem der Festigkeit oder anders ausgedrückt zum Problem der Zulässigkeit eines gegebenen Beanspruchungszustandes. Eine vorläufige Festsetzung ergibt sich aus der Forderung, daß bei einem Maschinen- oder Bauteil der Spannungs- oder Beanspruchungszustand niemals eine bleibende Formänderung oder gar einen Bruch herbeiführen darf. Hiermit erhalten wir schon zwei Möglichkeiten der Untersuchung, indem wir entweder die mit der Beanspruchung verbundene Spannung oder Dehnung zugrunde legen können.
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Abb. 3.
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Abb. 4.
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Abb. 5.
Die Zug- und Druckspannungen σz und σd an der Proportionalitäts- oder Bruchgrenze sind der Beobachtung beim Zug-Druckversuch besonders leicht zugänglich; ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Spannungen und dem Ueberschreiten der genannten Grenzen ist augenscheinlich. Hieraus wurde bereits von Lamé und Clapeyron153) die später auch von Clebsch154) übernommene Anschauung gefolgert, daß bei allen den Spannungszuständen die Proportionalitäts- oder die Bruchgrenze überschritten wird, bei denen die größte auftretende positive oder negative Hauptspannung die beim einfachen Zug-Druckversuch an den genannten Grenzen ermittelten Spannungswerte überschreitet. Diese Annahme erweist sich als unrichtig, wenn man einen gewöhnlichen reinen Drehungsversuch anstellt. Bei der reinen Drehung treten zwei entgegengesetzt gleiche Hauptspannungen auf, die mit ± σt bezeichnet seien. Im Augenblick der Ueberschreitung der Elastizitätsgrenze müßte nach der obigen Annahme + σt = σz sein. Dies trifft nicht allgemein zu; nach Versuchen von Bauschinger155) mit Bessemerstahl war vielmehr + σt ≅ 0,5 σz. 9. Von B. de St. Venant156) stammt die Anschauung, daß das Ueberschreiten der Proportionalitäts- und Bruchgrenze durch gewisse Werte der Hauptdehnungen bedingt sei, die jenen Grenzen entsprechen. Diese Anschauung liegt den heute gebräuchlichen Festigkeitsformeln des Materialbaues zugrunde. Bezeichnen σx < σy < σz die drei Hauptspannungen, m = 4 den Koeffizienten der Querkontraktion, so wird zum Beispiel die größte Dehnung in der z-Richtung: εT=1E(σzσy+σxm) Beim gewöhnlichen Zugversuch (σy = σx = 0) würde sein: εT=σzE. Beim Druckversuch (σz = 0; σx = – σd; σy = 0) gilt εd=σdE. Beim Torsionsversuch (σx = – σt; σy = 0; σz = + σt) wird: εt=5σt4E. Nach der Dehnungsannahme müßte zum Beispiel an der Elastizitätsgrenze bei den drei Versuchen sein: εz = εd = εt, woraus für die zugehörigen Spannungen folgen würde: σz : σd : σt = 1 : 4 : 0,8. Nach den oben genannten Versuchen von Bauschinger157) gilt jedoch: σz : σd : σt = 1 : 1 : 0,5. Also kann auch die Dehnungstheorie nicht allgemein richtig sein. 10. Es ist nach vorstehendem klar, daß die Theorie der größten Spannung oder der größten Dehnung nur im Falle der einfachen Zugbeanspruchung richtig sein kann. In allen anderen Fällen ist offenbar das Eintreten des Bruches oder das Ueberschreiten der Elastizitätsgrenze nicht von der größten Hauptspannung oder Hauptdehnung abhängig. Hier treten die Theorien in ihr Recht, die die Schubspannung als bestimmende Größe für die genannten Grenzzustände heranziehen. Eine solche Anschauung haben Thomson und Tait158) in ihrer Natural Philosophy entwickelt: Die Bruchgrenze bestimmt sich durch die größte auftretende Schubspannung: τmax=σzσv2 oder durch die Differenz der größten und kleinsten auftretenden Hauptspannungen σz und σx, während die mittlere der drei Hauptspannungen ohne Einfluß bleibt. Dieser Annahme liegt die physikalische Anschauung zugrunde, daß der Bruch- oder Fließbeginn bei gewissen Körpern und Versuchsanordnungen durch ein Gleiten in einer Ebene größter Schubspannung bedingt ist, welche Ebene durch die σy-Achse geht und gegen die σz- und σx-Achse um 45° geneigt ist. Die Schubspannungstheorie erweist sich als zutreffend bei allen an sich oder wenigstens unter hohem allseitigen Druck plastischen Stoffen, dagegen ist sie unzureichend bei den meisten Baustoffen des Maschinenbaues, insbesondere bei der reinen Zug-, Druck- und Drehungsbeanspruchung. 11. Zur Beseitigung dieser Schwierigkeiten sind eine Reihe von Ansätzen aufgestellt worden, die zur Schubspannungstheorie insofern eine Verwandtschaft haben, als sie die Bruch- oder Fließgrenze abhängig machen sowohl von der Schubspannung als von der Normalspannung. Diese Anschauungen gehen auf Coulomb159) zurück, wurden von Dugnet,160) Mesnager und anderen weitergebildet und erhielten schließlich von Mohr161) eine solche Fassung, daß zunächst das Verhalten unserer Maschinenbaustoffe durch sie umfaßt wird. Nach neueren Versuchen von v. Kármán162) lassen sich aber auch die spröden Körper (Marmor) der Mohrschen Hypothese unterordnen, sofern man Zugbeanspruchungen ausschließt. Diese Theorie von Mohr geht von der Tatsache aus, daß bei gewissen Festigkeitsversuchen die Trennung der beanspruchten Teile beim Bruch längs Flächen erfolgt, deren Verlauf den Ebenen größter Schubspannung folgt. Hieraus folgert Mohr in seiner grundlegenden Arbeit,163) daß die Schubspannung beim Fließ- und Bruchvorgang eine Rolle spielt. Nun setzt er die maßgebende Größe der formändernden Schubspannung als abhängig von der in der Gleitebene wirkenden Normalspannung σ voraus nach dem Ansatz: τmaxφ(σ), wo die Funktion φ(σ) durch Versuch zu ermitteln ist. Von der Funktion φ(σ) gewinnt Mohr zunächst eine zeichnerische Vorstellung auf folgende Weise. Die Ebenen, in denen das Gleiten beginnt, müssen auf der Ebene, welche die größte und kleinste Hauptspannung σz und σx enthält, senkrecht stehen. In der Abb. 6 sei OE die Spur einer Gleitebene mit der σz-σx-Ebene. In einem einzelnen Punkt der Ebene OE herrscht eine Spannung, der Normal- und Schubkomponente σ und τ seien. Für diese Komponenten gelten die Ansätze: σ=σz+σv2+σzσv2cos2ϑ, τ=σzσv2sin2ϑ. Bei gegebenem σz und σx stellen sich hiernach σ und τ graphisch nach Abb. 7 dar. Kennzeichnen nun σz und σx einen Spannungszustand an der Elastizitäts- oder Bruchgrenze, so kann man aus dem Spannungskreis K1 die Normal- und Schubspannungen in allen auf der σz-σx-Ebene senkrechten Ebenen entnehmen. Sei nun der Kreis K2 ebenfalls einem Grenzspannungszustand entsprechend und τ = φ(σ) die von Mohr vorausgesetzte Beziehung zwischen der Grenzschubspannung τ und der zugehörigen Normalspannung σ, so muß die Kurve τ = φ(σ) die Kreise K1 K2 . . . der Grenzspannungszustände einhüllen.
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Abb. 6.
Zur Prüfung dieser Theorie von Mohr sind bereits zahlreiche Versuche angestellt worden, die einerseits die Grundannahme der Einflußlosigkeit der mittleren Hauptspannung σy auf den Grenzzustand dartun, andererseits die Gestalt der Grenzkurven τ = φ(σ) ermitteln sollen. Mit Rohren aus Flußeisen und Kupfer experimentierte J. Guest,164) indem er die Fließgrenze für die Beanspruchungsarten Zug-Verdrehung, Zug-Innendruck, Verdrehung-Innendruck bestimmte.
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Abb. 7.
Weitere Versuche mit weichem Stahl in Stab- oder Rohrform stellten Mason,165) Hancock,166) Scoble,167) Smith168) an, durch die die Einflußlosigkeit der mittleren Hauptspannung für die zähen Stoffe dargetan wurde. Für den Beweis der weiteren Mohrschen Annahme der Abhängigkeit der Grenzschubspannung von der Normalspannung sind die Versuche mit zähen Stoffen nicht geeignet, da bei ihnen eine Veränderlichkeit der Grenzschubspannung nicht zu erzielen war. Diese Veränderlichkeit kann man bei Versuchen mit spröden Körpern erzielen, die man allseitigem Druck aussetzt. Nach Versuchen von Föppl169) und anderen, die wenigstens keine Gründe gegen die Mohrsche Annahme liefern, hat v. Kármán170) ausgedehnte Festigkeitsversuche mit Marmor und Sandstein ausgeführt. Zylindrische Probekörper werden achsial bis zum Bruch durch Druck belastet, während ihre Mantelfläche durch gepreßtes Glyzerin verschieden hohen allseitigen Drücken σz unterworfen wurde.
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Abb. 8.
Aus dem veröffentlichten Versuchsbericht gibt Abb. 8 die Festigkeitskurven für Marmor bei verschieden abgestuften σx, aus denen die Spannungskreise für die Elastizitätsgrenze in Abb. 9 gezeichnet sind. In der Tat existiert für die Grenzkreise eine einhüllende Grenzkurve. Wegen weiterer wichtiger Schlüsse aus der v. Kármánschen Untersuchung, insbesondere aus den mit ihr verbundenen Gefügebetrachtungen sei auf die Arbeit selbst verwiesen. Jedenfalls findet die Mohrsche Theorie an den beschriebenen Ermittlungen eine gewichtige Stütze, demgegenüber Versuche von W. Voigt171) mit künstlichen spröden Massen keine durchgreifende Widerlegung bieten. Bedenken gegen die Beweiskraft dieser Versuche sind in erster Linie von Mohr172) selbst erhoben worden; eine endgültige Erklärung des widersprechenden Verhaltens der von Voigt benutzten stearinartigen Probekörper steht allerdings noch aus. Es ist nicht unmöglich, daß die Mohrsche Theorie in erster Linie für eine bestimmte Art des Bruchvorganges richtig ist, die Prandtl173) als Gleitungsbruch zu bezeichnen vorschlägt, während andere Brucharten (zum Beispiel der Trennungsbruch) sich ihr nicht unterordnen; vielleicht liegt bei den Voigtschen Versuchen ein qualitativ ganz anderer Vorgang als ein Gleitungsbruch vor. Da die Gleitungsbrucherscheinungen bei den meisten praktisch verwendeten Baustoffen vorherrschend sind, kann die Mohrsche Theorie bis auf weiteres für diese Stoffe als richtig angenommen werden.
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Abb. 9.
12. Die Festigkeitstheorien, wie sie soeben besprochen wurden, sind maßgebend für die Formeln, nach denen die Maschinen- und Bauteile berechnet werden. Es ist klar, daß die theoretischen Ansichten über die beim Ueberschreiten der Fließ- oder Bruchgrenze vorliegenden physikalischen Vorgänge von Einfluß auf den Bau der Festigkeitsformeln sein müssen. So lautet nach der St. Venantsschen Dehnungstheorie (Nr. 9), die noch heute herrschend ist die Formel für den Durchmesser einer durch das Biegungsmoment Mb und das Torsionsmoment Md beanspruchten Welle, an der Zugrundelegung einer zulässigen Beanspruchung kb: d3=32πkb[0,35Mb+0,65Mb2+Md2]. Nach der Mohrschen Theorie würde dagegen die Formel zu lauten haben d3=32πkbMb2+Md2 Ganz allgemein liefert die Mohrsche Theorie stärkere Abmessungen als die von St. Venant. Näheres hierüber bringt in ausführlicher Weise eine Arbeit von P. Roth.174) 13. Es erübrigt noch einen kurzen Blick auf die Formänderungserscheinungen zu werfen, die unter Berücksichtigung des Einflusses der Zeit beobachtet werden können. Zunächst sind wichtig für die Frage der Bemessung der Maschinenteile die mit oft und rasch wiederholtem Belastungswechsel zusammenhängende Herabsetzung der zulässigen Beanspruchungsgrenzen. Nach den ersten grundlegenden Versuchen von A. Wöhler175) sind die bekannten von Bach176) angegebenen Beanspruchungszahlen für verschiedene Belastungszustände entstanden. Im allgemeinen nimmt die zulässige Maximalbelastung mit zunehmender Wechselzahl ab. Eine weitere Herabsetzung erfährt die Wöhlersche Grenze durch plötzliche Querschnittsänderungen in den beanspruchten Körpern (Einkerbungen, Absätze), wie Föppl177) nachgewiesen hat. Das durch Nachlassen an Festigkeit bei Wechselbeanspruchung gekennzeichnete Stoffverhalten bezeichnet man als Ermüdung, die von Ewing und Humphrey178) näher untersucht wurde. Der genaueren Erforschung der mit dauernd wiederholten Belastungen zusammenhängenden Erscheinungen sind heute ausgedehnte Versuchsanlagen in den größeren Materialprüfungsanstalten, insbesondere im Kgl. Materialprüfungsamt179) Groß-Lichterfelde gewidmet. Weiterhin hat neuerdings die Frage der Bruchgefahr bei stoß- oder schlagartigen Beanspruchungen ausgedehnte Behandlung in Versuchen gefunden. Diese Beanspruchungsart wird maßgebend beim Auftreffen180) von Geschossen auf Widerstände, beim Schmiedeprozeß181) usw. Bei Beanspruchungen, die mit dem Schmieden Aehnlichheit haben, hat Kick182) sein bekanntes Gesetz der proportionalen Widerstände ermittelt. Baumaterialien unterwirft man Fallversuchen,183) Metalle dagegen der sogenannten Kerbschlagbiegeprobe. Ueber letztere ist eine umfangreiche Literatur entstanden, welche im einzelnen anzugeben hier zu weit führen würde, weshalb auf den Bericht von Ehrensberger184) über diesen Gegenstand verwiesen sei. Das ganze Gebiet der Stoß- und Schlagbeanspruchungen befindet sich noch völlig im Zustande der Versuchstätigkeit; eine allgemeine Uebersicht über den Zusammenhang der verschiedenartigen Erscheinungen ist noch nicht gewonnen. 14. Bei genauen Untersuchungen an den verschiedenen Stoffen treten noch eine Reihe von Erscheinungen auf, die bisher weniger von technischer Bedeutung sind als vielmehr den Anlaß zu der Vermutung geben, daß die physikalische Natur der sogenannten festen Körper noch mancher Forschungstätigkeit bedarf, bis wir sie etwa so genau kennen wie etwa diejenige der Gase. Zunächst gibt es eine elastische Hysteresis: Bei Belastung zwischen zwei absolut gleichen Extremen verlaufen die zugehörigen Dehnungen wie in Abb. 10. Die Erscheinung hat viele Aehnlichkeit mit der magnetischen Hysteresis. Ihr sind verschiedene Arbeiten gewidmet, durch die eine Reihe von Regeln ihres Verlaufes gewonnen sind, so insbesondere die, daß für jede zwischen den festen Grenzen A verlaufende Belastungsfolge sich nach einigen Zyklen eine konstante Hysteresisschleife ausbildet. Dieser Umstand hat auch eine gewisse technisch185) wichtige Bedeutung, indem man bei Elastizitätsversuchen den Probestab zweckmäßig zunächst eine Anzahl von Wechselbeanspruchungen durchmachen läßt, um erst dann die elastischen Eigenschaften des „akkomodierten“ Materials festzustellen.
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Abb. 10.
Weiter haben wir die Erscheinung der inneren Reibung,186) die sich in rascher Dämpfung elastischer Schwingungen kund gibt, ferner der verzögerten Deformation,187) d.h. die Formänderung bleibt hinter der Spannungsänderung zurück, sowie die Relaxation,188) d.h. bei gleichbleibender Deformation nimmt die Spannung ab. Die Nachwirkungserscheinungen gewinnen eine gewisse technische Bedeutung insofern, als sie auf die Konstanz von Maßstäben aus gehärtetem Stahl von Einfluß sein können.189) 15. Zur theoretischen Erklärung der im vorstehenden geschilderten Erfahrungstatsachen liegen eine Reihe Ansätze vor, die zum Ziele haben, für die nicht elastischen Formänderungserscheinungen ähnliche Differentialgleichungssysteme zu gewinnen, wie sie zur Berechnung der rein elastischen Formänderungen bereits bekannt sind. Zunächst liegt für das Verhalten der plastischen Körper ein von de St. Venant190) herrührender Ansatz vor, der für das zweidimensionale Gebiet hier mitgeteilt sei. Es bedeuten: u, v  die Komponenten der Fließgeschwindigkeit, σx, σy die Komponenten der Normalspannung,       τ die Schubspannung,   x, y die Koordinaten eines Punktes des Mediums, X, Y die Komponenten der Massenkraft, DDt den aus den Eulerschen Gleichungen der Hydrodynamik bekannten räumlich-zeitlichen Differentialoperator,      ρ die Dichte des Mediums. Dann gelten für die fünf unbekannten Größen u, v, σx, σy, τ bei plastischen Medien: a) Die Bewegungsgleichungen: σxx+τy=ϱ(XDuDt) τx+σyy=ϱ(YDvDt). b) Die Bedingung der Inkompressibilität: ux+vy=0. c) Die Fließbedingung: τ2+(σxσy)24=k2. (k die größte Schubspannung.) d) Die Bedingung für das Zusammenfallen der Ebenen größter Schubspannung und größter Gleitgeschwindigkeit:191) σxσyux+vy=2τuy+vx. Dieses Gleichungssystem ist für gewisse Kraftfelder und Randbedingungen integrierbar; es kann auch auf den Raum192) übertragen werden. Zur Prüfung dieses und ähnlicher Ansätze fehlen zurzeit noch die nötigen Versuche. Immerhin handelt es sich um ein Gebiet, auf welchem die Weiterentwicklung der Forschung auch technisch von Bedeutung werden kann. Wir verweisen wegen weiterer Literatur auf die oben angeführte Arbeit von v. Kármán193) und bezüglich der vorliegenden praktischen Versuche auf eine frühere Zusammenstellung des Berichterstatters.65)