Titel: Lehrlingsausbildung.
Autor: G. Quaink
Fundstelle: Band 332, Jahrgang 1917, S. 118
Download: XML
Lehrlingsausbildung. Von Oberingenieur G. Quaink, Charlottenburg. QUAINK, Lehrlingsausbildung. Durch die Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhause ist vor kurzem wieder die Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit gelenkt worden, die für das deutsche Handwerk und das deutsche Großgewerbe nach dem Kriege von ganz besonderer Wichtigkeit sein wird: Die Erziehung eines tüchtigen Nachwuchses gelernter Arbeiter. Es ist nicht das erste Mal, daß man sich in den gesetzgebenden Körperschaften Deutschlands mit diesem Gegenstande beschäftigt. Seit längerer Zeit schon hat das Handwerk aufgehört, seinen Ueberfluß an gelernten Arbeitern an das Großgewerbe abzugeben; schon vor dem Kriege war es kaum noch imstande, den eigenen Bedarf zu decken. Die Frage, wie geeignete Lehrlinge heranzuziehen und auszubilden seien, war für die Vertretungen des Handwerks nicht leicht zu beantworten und hatte, trotz mancher bemerkenswerten Fortschritte, eine allgemein befriedigende Lösung noch nicht gefunden. Da der Zufluß vom Handwerk her aufhörte, war das Großgewerbe genötigt worden, selbst für die Heranbildung gelernter Arbeiter zu sorgen; denn je mehr und je besser sich die deutsche Industrie entwickelte, um so mehr hatte man den Wert und die Bedeutung des gelernten Arbeiters schätzen gelernt. Nun hat der Krieg die Zahl derjenigen, die sich einem Handwerk zuwenden, ganz erheblich vermindert. Die Möglichkeit, auch ohne einen Beruf gründlich gelernt zu haben, leicht und schnell gut bezahlte Arbeit zu finden, die Kurzsichtigkeit mancher Eltern, denen es bequemer war, die Kinder bald viel Geld verdienen zu sehen, statt sie eine Lehrzeit durchmachen zu lassen und dadurch für ihre Zukunft zu sorgen, oft aber auch die Notwendigkeit, die Kriegsteuerung dadurch zu überwinden, daß die Kinder einen erheblichen Teil der Haushaltsunkosten übernehmen, das alles hat dazu beigetragen, daß im Handwerk heute der Nachfrage nach Lehrlingen kein auch nur einigermaßen entsprechendes Angebot gegenübersteht. Auch in der Industrie macht sich der Mangel an gelernten Arbeitern immer empfindlicher bemerkbar, und er kann zu einer ernsten Gefahr werden, wenn nicht rechtzeitig vorgesorgt wird. Diese Vorsorge kann aber nur darin bestehen, daß es die Industrie selbst in die Hand nimmt, Nachwuchs für die gelernten Arbeiter zu erziehen, daß sie versucht, eine ausreichende Zahl von Lehrlingen zu gewinnen und ihnen in Werkschulen und Lehrlingswerkstätten eine zweckmäßige Vorbildung für ihren Beruf zu geben. Mit dieser Art der Lehrlingsausbildung hat die Siemens & Halske A.-G. Wernerwerk im Jahre 1906 begonnen, indem sie eine eigene Werkschule errichtete, die im Jahre 1908 durch eine besondere Lehrlingswerkstatt ergänzt wurde. Seitdem ist hier die Lehrlingsausbildung durch Verbesserung der systematischen Anordnung des Lehrganges und durch weitere Ausgestaltung der bestehenden Einrichtungen vervollkommnet worden. Die Arbeit der Lehrlingschule hat durch den Krieg keine Unterbrechung erfahren. Um so mehr erscheint es angezeigt, einen Ueberblick über die Einrichtungen zu geben, die sich im Frieden wie im Kriege gleichermaßen bewährt haben. Entsprechend der Eigenart des Wernerwerks werden nur Mechanikerlehrlinge aufgenommen. Von vornherein sei jedoch bemerkt, daß, obwohl die Ausbildung auf die besonderen Bedürfnisse des Wernerwerks zugeschnitten ist, doch die Lehrlinge während ihrer Lehrzeit eine gründliche allgemeine Berufsausbildung erhalten, die sie befähigt, später in jeder anderen feinmechanischen Werkstatt die Stelle eines gelernten Arbeiters auszufüllen oder sich, wenn sie sonst dazu geeignet sind, nach einer entsprechenden Gehilfenzeit selbständig zu machen. Bei der Einstellung werden die Söhne von Beamten und Arbeitern der Firma vor anderen Bewerbern berücksichtigt. Soweit Platz vorhanden ist, können jedoch auch solche Lehrlinge eintreten, die sonst zum Werk in keiner Beziehung stehen. Einstellungen finden in Rücksicht auf die Abschlußzeiten in den öffentlichen Schulen und die Durchführung eines geordneten Lehrplanes in der Lehrlingschule selbst ausschließlich am 1. April und am 1. Oktober statt. Vor dem Kriege fanden jedesmal etwa 25 Lehrlinge Platz, und da die gesamte Ausbildungszeit auf vier Jahre bemessen war, belief sich die Zahl der Lehrlinge auf etwa 200. Um dem Mangel an Facharbeitern möglichst bald abzuhelfen, ist die Schule während des Krieges durch Parallelklassen erweitert worden. Vom 1. Oktober 1916 an werden halbjährlich 55 Lehrlinge eingestellt. Nach vollem Ausbau wird die Schule aus 16 Klassen mit 400 bis 480 Schülern bestehen. Textabbildung Bd. 332, S. 118 Abb. 1. Lehrlingsarbeiten Vorbedingung für den Eintritt ist das Erbringen des Nachweises, daß die erste Klasse einer Gemeindeschule mit ausreichendem Erfolg besucht ist und die körperliche Gesundheit und die Sehfähigkeit gut sind. Vierzehn Tage vor dem Eintritt haben sich aus diesem Grunde die einzustellenden jungen Leute einer Untersuchung durch den Vertrauensarzt des Werkes zu unterwerfen. Die Einzustellenden sind zu einer vierjährigen Lehrzeit auf Grund eines besonderen Lehrvertrages verpflichtet, der den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend eine Probezeit von drei Monaten vorsieht. Während dieser Zeit kann jeder der beiden Teile vom Vertrage zurücktreten, eine Maßnahme, die sich durchaus als zweckmäßig erwiesen hat. Erfahrungsgemäß ist es oft erst nach längerer Beobachtung möglich, mit einiger Sicherheit festzustellen, ob ein Lehrling körperlich und geistig für den Mechanikerberuf geeignet ist. Ein Lehrgeld ist nur von fremden Schülern zu zahlen. Zeigen die Lehrlinge genügenden Fleiß und gute Führung, so erhalten sie jedoch im dritten und vierten Lehrjahre eine Entschädigung, die vor dem Kriege auf sechs bzw. neun Mark in der Woche festgesetzt war. Solche, die sich besonders auszeichnen, können im letzten Lehrjahre durch Akkordarbeiten mehr als neun Mark verdienen; ob dieser Mehrverdienst gewährt wird, hängt jedoch allein von dem Ermessen der Firma ab. Während der Ausbildungszeit gehen praktische Ausbildung und Unterricht in der Werk-Fortbildungsschule nebeneinander her. Die praktische Ausbildung erfolgt zunächst in der Lehrlingswerkstatt. Diese hat eine Grundfläche von etwa 370 Quadratmeter und reicht aus, 130 Lehrlinge gleichzeitig zu beschäftigen. Unter der Aufsicht eines erfahrenen und pädagogisch besonders befähigten Meisters, den in der Beaufsichtigung und Anleitung zwei tüchtige Praktiker unterstützen, erhalten die Lehrlinge hier die erste grundlegende Ausbildung im Feilen, Bohren und Drehen, im Nieten, Löten und Härten. Sie lernen die Herstellung und den Gebrauch der wichtigsten Werkzeuge kennen und üben sich in den wichtigsten Paßarbeiten. Unter strengster Aufsicht und Anleitung zu peinlichster Ordnung und Sauberkeit gehen sie von leichteren Arbeiten allmählich zu schwierigeren über, wie die Abb. 1 bis 3 erkennen lassen, und sind in der Regel nach einem Jahr so weit gefördert, daß sie zu ihrer weiteren Ausbildung und Vervollkommnung einer geeigneten Fabrikations- oder Montagewerkstatt überwiesen werden können. Sie bleiben jedoch nicht dauernd in derselben Werkstatt, sondern werden etwa von Halbjahr zu Halbjahr in andere Abteilungen versetzt, damit sie sich möglichst vielseitig ausbilden und die verschiedensten Fabrikationsverfahren aus eigener Anschauung und Erfahrung kennen lernen können. Sind sie besonders befähigt und strebsam, so werden sie während des letzten Lehrjahres vielfach im Werkzeugbau beschäftigt, wo sie einen genaueren Einblick in die Verfahren der Massenfabrikation und die Herstellung der dafür erforderlichen Werkzeuge und Maschinen erhalten. In die Lehrlingswerkstatt kehren sie erst gegen Schluß der Lehrzeit wieder zurück, um das für die Gehilfenprüfung vorgeschriebene Probestück anzufertigen. Textabbildung Bd. 332, S. 118 Abb. 2. Lehrlingsarbeiten. Textabbildung Bd. 332, S. 118 Abb. 3. Lehrlingsarbeiten. Die Werkschule ist in demselben Gebäude untergebracht wie die Lehrlingswerkstatt. Für den Schulunterricht stehen drei hohe, helle Räume von insgesamt etwa 300 m2 Grundfläche zur Verfügung. Von diesen ist einer (Abb. 4) mit elektrischem Anschluß und einer Experimentiereinrichtung versehen, der man Gleichstrom in beliebiger Stromstärke und Spannung bis zu 20 Amp. und 200 Volt entnehmen kann. Dasselbe Zimmer, das lediglich für Vorträge benutzt wird, enthält auch einen Projektionsapparat und eine kleine Sammlung für den Gebrauch in den technischen Unterrichtsfächern. In der Regel werden jedoch Vorführungsapparate und Anschauungsgegenstände leihweise den Werkstätten oder dem Lager entnommen. Die beiden anderen Unterrichtsräume (Abb. 5) sind für Vorträge und den Zeichenunterricht bestimmt. Die zum Zeichnen benutzten Modelle sind in besonderen Schränken in den Zeichensälen untergebracht. Sie entstammen zum Teil älteren Lagerbeständen des Werks, zum Teil sind sie für ihren Zweck besonders hergestellt. Die Schulräume sind mit Dampf geheizt und elektrisch beleuchtet. Die Zeichensäle haben indirekte Bogenlichtbeleuchtung, damit jegliche Schattenwirkung vermieden wird. Textabbildung Bd. 332, S. 119 Abb. 4. Vortragsraum mit Experimentiereinrichtung. Die Werkschule steht unter der Oberaufsicht des Ministers für Handel und Gewerbe, der durch das Kgl. Landes-Gewerbeamt vertreten wird. Durch Erlaß des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg ist ihr Besuch als Ersatz des Besuches einer Pflichtfortbildungsschule anerkannt. Bei der Aufstellung des Lehrplanes war in erster Linie das Bestreben maßgebend, den Lehrlingen diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die für die Tätigkeit des Mechanikers in der Werkstatt notwendig und nützlich sind. Dazu kam die Aufgabe, an der Erziehung der jungen Leute zu tüchtigen Staatsbürgern und Menschen mitzuwirken. Für die Stoffanordnung und Verteilung und für das Lehrverfahren wurden die ministeriellen Bestimmungen über Einrichtung und Lehrpläne gewerblicher Fortbildungsschulen eingehend berücksichtigt. Textabbildung Bd. 332, S. 119 Abb. 5. Zeichenraum. Der Dauer der Lehrzeit entsprechend hat die Schule vier Jahreskurse, die in Oster- und Michaelisklassen unterteilt sind. Unterrichtsfächer sind: Berufs- und Bürgerkunde, Rechnen, Mathematik, Kalkulation, Buchführung, Zeichnen, Technologie, Physik und Chemie sowie Elektrotechnik. Jede Klasse wird in sechs bis acht Wochenstunden unterrichtet. Den Unterricht erteilen in sämtlichen Lehrfächern nebenamtlich Beamte des Werks, die, darauf ist besonders Rücksicht genommen, neben der vollständigen fachlichen Beherrschung des Lehrgebietes pädagogisches Geschick und Lehrtalent besitzen. Der Vorteil dieser Einrichtung liegt hauptsächlich in der engen Verbindung zwischen Unterricht und Praxis. An der Spitze des Lehrkörpers, der sich in der Hauptsache aus Ingenieuren, nur zu einem kleinen Teile aus kaufmännisch gebildeten Herren zusammensetzt, steht ein Oberingenieur des Werkes. Die Schülerzahl in den Klassen beträgt im Durchschnitt 25; es wird dafür gesorgt, daß sie den Betrag von 30 möglichst nicht überschreitet. Bei entsprechender Vorbildung können die Schüler von einzelnen Fächern befreit werden. Bei der Festsetzung der Unterrichtszeiten ist nicht nur die Arbeitszeit der Lehrlinge, sondern auch die Dienstzeit der Beamten berücksichtigt worden. Ueber den Erfolg des Unterrichts werden halbjährlich Zeugnisse ausgestellt, die auch einen Vermerk über das Betragen in der Schule und Angaben über Betragen, Fleiß und Leistungen in der Werkstatt enthalten. Die Zeugnisse sind mit der Unterschrift des Vaters oder Vormundes der Schule wieder zuzustellen, wo sie bis zur Entlassung des Lehrlings aufbewahrt werden. Lehrlinge, deren Fähigkeiten wider Erwarten nicht ausreichen, die Werkschule mit Erfolg zu besuchen, werden der Pflicht-Fortbildungsschule überwiesen. Textabbildung Bd. 332, S. 120 Abb. 6. Gehilfenstück. Besonderer Wert wird auf einen regelmäßigen und pünktlichen Schulbesuch gelegt, der durch ein entsprechend ausgearbeitetes Meldeverfahren sichergestellt ist. Schulferien gibt es zu Weihnachten, Ostern oder Pfingsten nicht; dagegen findet im Juli eine vierwöchige Unterbrechung des Unterrichts statt, während welcher Zeit die Lehrer ihren Sommerurlaub nehmen. Auch den Lehrlingen kann ein Urlaub bis zu vierzehn Tagen gewährt werden. Der Unterricht selbst ist kostenlos. Nur Lehrbücher, Reißzeuge, Schreib- und Zeichengerät haben die Lehrlinge auf eigene Kosten zu beschauen, was ihnen dadurch erleichtert wird, daß das Wernerwerk die Sachen im großen einkauft und zum Selbstkostenpreis abgibt. Reißbretter, Schienen und Winkel erhalten die Schüler leihweise. Für den Unterricht in Berufs- und Bürgerkunde und im Rechnen sind Lehr- und Lesebücher eingeführt, die sich auch sonst in gewerblichen Fortbildungsschulen bewährt haben. Daneben hat sich die Schule aber auch eigene Unterrichtswerke geschaffen, wie zum Beispiel eine für den Praktiker wertvolle Sammlung von Formeln und Tabellen. Den Abschluß der Lehrzeit bildet im allgemeinen die Gehilfenprüfung. Die Gewerbeordnung schreibt vor, daß allen Lehrlingen, auch solchen, die in industriellen Betrieben beschäftigt sind, Gelegenheit gegeben werden muß, eine solche Prüfung vor dem Prüfungsausschuß der Handwerkerkammer abzulegen. Wenn nun auch die Lehrlinge nicht verpflichtet sind, sich einer solchen Prüfung zu unterziehen, so hat sich doch gezeigt, daß die Aussicht auf die bevorstehende Prüfung ihren Eifer in erfreulicher Weise anfacht. Den Lehrlingen wird deshalb gern gestattet, während des letzten Halbjahres in der Lehrlingswerkstatt das vorgeschriebene Gehilfenstück anzufertigen. Muster derartiger Arbeiten zeigt Abb. 6. Gleichzeitig erhalten die Lehrlinge Gelegenheit, die zu dem Gehilfenstück gehörigen Zeichnungen in den Zeichenstunden anzufertigen. Die Berliner Handwerkskammer arbeitet in allen das Mechanikergewerbe betreffenden Prüfungsfragen mit einem „Ausschuß der Feinmechanik und Elektrotechnik für das Prüfungswesen“ zusammen, der sich zu gleichen Teilen aus Angehörigen des Handwerks und der Industrie zusammensetzt. Da auch die Firma Siemens & Halske in dem Ausschuß vertreten ist, ist sie in der Lage, auf Organisation und Handhabung der Prüfungen einen entsprechenden Einfluß auszuüben. Die Lehrlingschule ist gegründet worden, um der Firma Siemens & Halske einen gut vorgebildeten Nachwuchs an gelernten Arbeitern zu sichern und einen tüchtigen Arbeiterstamm zu erhalten. Mit Absicht werden deshalb die Lehrlinge günstiger gestellt, deren Väter dem Werk bereits angehören. Die seit der Gründung der Schule verflossenen Jahre haben gezeigt, daß das für diesen Zweck aufgewendete Kapital gute Früchte trägt, so daß dem durch die Firma gegebenen Beispiel eine rege Nachfolge zu wünschen ist, was über den Rahmen der einzelnen Werke hinaus nur zur Ertüchtigung des Mechanikernachwuchses im allgemeinen beitragen kann.