Titel: Die Biegungsbeanspruchung über die Streckgrenze hinaus.
Autor: P. Stephan
Fundstelle: Band 332, Jahrgang 1917, S. 353
Download: XML
Die Biegungsbeanspruchung über die Streckgrenze hinaus. Von Professor P. Stephan, zurzeit im Felde. STEPHAN: Die Biegungsbeanspruchung über die Streckgrenze hinaus. Vor mehr als 20 Jahren hatte bereits Wehage in der Z. d. V. d. I. den Fall untersucht, daß die Biegungsbeanspruchung eines ursprünglich geraden Stabes die Streckgrenze des betreffenden Materials überschreitet. Die Arbeit wird wohl in der Literatur gelegentlich erwähnt, ohne daß aber die technische Praxis von ihren Ergebnissen jemals Anwendung macht. Die Wichtigkeit des Gegenstandes dürfte demnach eine Wiederholung der Rechnungen, die dem Verfasser aus naheliegenden Umständen nicht vorgelegen haben, und ihre Anwendung auf einige Sonderfälle rechtfertigen. Die Voraussetzungen, von welchen die Untersuchung ausgeht, sind folgende: Zuerst die bekannte Naviersche, daß die Querschnitte des gebogenen Stabes eben bleiben, die ja innerhalb der Genauigkeitsgrenzen der technischen Rechnungen für die meisten Fälle richtige Ergebnisse liefert; dann die verhältnismäßig einfache Formeln gestattende, daß der Krümmungshalbmesser des Stabes im Verhältnis zur radialen Ausdehnung des Querschnittes groß bleibt, und schließlich, daß die Dehnungskurve des Materials für Zug und Druck die gleiche oder doch nahezu übereinstimmende ist. 1. Rechteckquerschnitt. Die Verteilung der Beanspruchungen über die Querschnittshälfte zeigt Abb. 1. Es gilt dann mit den Bezeichnungen der Abbildung σ=σS.yy1, und die Größe des Biegungsmomentes ist gegeben durch Mb=0y12.bdy.σ.y+y11/2h2b.dy.σS.y. Die Ausführung der Integration liefert Mb=b.h24.σS.[113(y11/2h)2] . . (1) Dabei ist die leichte Krümmung der Dehnungskurve zwischen der Proportionalitätsgrenze und der Streckgrenze als für das Ergebnis belanglos vernachlässigt worden.
[Textabbildung Bd. 332, S. 353]
Abb. 1.
Für die Dehnung der äußersten Faserschicht gilt die bekannte Gleichung der Biegungslehre, die aus der Navierschen Voraussetzung folgt, εmax=1/2hϱ, wenn ρ den Krümmungshalbmesser des Stabes nach der Biegung aus dem ursprünglich geraden Zustand bedeutet. Wird die vorstehende Vernachlässigung beibehalten, also das Hooke sehe Gesetz bis zur Streckgrenze als gültig angesehen, so ist nach Abb. 1 εmax=α.σS1/2hy1, worin a die Dehnungsziffer des Materials darstellt. Durch Gleichsetzen beider Ausdrücke erhält man den Krümmungshalbmesser aus ϱ1/2h=y11/2h.1α.σS . . . . . (2) Hört jetzt die Wirkung des Biegungsmomentes Mb auf, so suchen die in Abb. 2 schraffierten elastischen Spannungen den Stab wieder gerade zu strecken, deren Dehnungslinie parallel zu dem geneigten Ast der ersten Dehnungslinie verläuft, wie ein einfacher Zugversuch mit selbsttätiger Aufzeichnung der Dehnungslinie lehrt. Die Größe des rückbiegenden Momentes folgt aus Mr=1/2hy11/2h2.b.dyσ.y mit σ=σS.y(1/2hy1)1/2h(1/2hy1)=σS(yy11/2hy1+1) zu Mr=b.h24.σS.[y11/2h13.(y11/2h)2] . . (3)
[Textabbildung Bd. 332, S. 353]
Abb. 2.
Unter dem Einfluß dieses rückbiegenden Momentes vergrößert sich der Krümmungshalbmesser von ρ auf ρr und die Dehnung der äußersten Faser geht zurück auf εr=1/2hϱr, wie Abb. 3 angibt. Da die Querschnitte eben bleiben, so treten die in Abb. 3 schraffierten Dehnungen auf, und man entnimmt der Abbildung ε1εmaxεr=1/2hy11/2h, woraus nach Einsetzen der Werte ε1=α.σ1, εmax=1/2hϱ, εr=1/2hϱr die im Abstande ½ hy1 von der Schwerachse herrschende größte Spannung folgt: σ1=1α.(1/2hy1).(1ϱ1ϱr). Mit Benutzung von Gleichung (2) erhält man hieraus σ1σS=(1y11/2h).(1/2hy11/2hyr) . . (4) Auf der nach dem Krümmungsmittelpunkt zu gelegenen Seite des Querschnittes, wo σS eine Druckspannung ist, ist σ1 eine Zugspannung; das umgekehrte gilt auf der Außenseite des Querschnittes.
[Textabbildung Bd. 332, S. 354]
Abb. 3.
Die Größe des der Rückbiegung widerstehenden Spannungsmomentes berechnet sich nach den Angaben der Abb. 3 aus Ms=2.b.(1/2hy1).1/2σ1.23.(1/2hy1)+2.b.y1.1/2σ1.(1/2hy1+1/3y1) zu Ms=b.h26σ1.(112.y11/2h) . (5) woraus nach Einsetzen von Gleichung (4) folgt: Ms=b.h24.σS.(1y11/2h).(1/2hy11/2hyr).(2313.y11/2h) (5a) Hierin ist der Abstand yr vorläufig noch unbekannt. Zu seiner Ermittlung kann Gleichung (1) benutzt werden in der Form Mb(MrMs)=b.h24σS.[113.(yr1/2h)2]. Werden hier die Werte für Mb, Mr und Ms aus den Gleichungen (1), (3), (5a) eingesetzt, so ergibt sich als Bestimmungsgleichung für yr, wenn der Kürze halber y11/2h=z1, yr1/2h=zr gesetzt wird: zr3z1 + zr (2 – 3 z1 – 2 z12) = 2 z1 – 3 z12 + z13 (6) Damit liefert Gleichung (2) die Größe des schließlichen Krümmungshalbmessers ρr aus ϱr1/2h.α.σS=yr1/2h . . . . . . (7) Naturgemäß sind nur die Werte kleiner als 1 richtig. Für den Fall yr > ½ h, wo also nach der Rückbiegung die Streckgrenze des Materials nicht überschritten wird, gilt die Formel der elastischen Biegungslehre ϱr=b.h312.1/αMbMr+Ms . . (8) woraus folgt ϱr1/2hα.σS=1+(1y11/2h).(112.y11/2h)(1y11/2h).(1+1/2hy1) (9) Man bemerkt, daß alle Endwerte von dem Verhältnis y11/2h abhängig sind. Die folgende Zusammenstellung enthält die zahlenmäßige Ausrechnung für verschiedene Verhältnisse y11/2h. Zur klareren Veranschaulichung sind die einzelnen Werte in Abb. 4 aufgetragen, aus der sie für die meisten Näherungsrechnungen mit ausreichender Genauigkeit abgegriffen werden können.
[Textabbildung Bd. 332, S. 354]
Abb. 4.
1y11/2h 2Mbbh24.σS 3Mrbh24σS 4Msbh24σS 5yr1/2h=ϱr1/2hασS 6σ1σS 1 0,6667 0,6667 0      ∞ 0 0,9 0,7300 0,6300 0,0334 5,0000 0,0911 0,8 0,7867 0,5867 0,0679 2,4889 0,1696 0.7 0,8367 0,5367 0,1066 1,6425 0,2459 0,6 0,8800 0,4800 0,1556 1,2000 0,3333 0,5 0,9167 0,4167 0,2248 0,91330,9086 0,4497 0,4 0,9467 0,3467 0,2754 0,6100 0,5164 0,3 0,9700 0,2700 0,2568 0,3723 0,4531 0,2 0,9867 0,1867 0,1848 0,2167 0,3080 0,1 0,9967 0,0867 0,0898 0,1016 0,1418 0 1 0 0 0 0
Die vorstehenden Ergebnisse finden zum Beispiel Anwendung bei Dampfkesselmänteln, Gefäßen und dergleichen. Ein Dampfkesselmantel für ρ = 9 at Ueberdruck aus Flußeisen von der Zerreißfestigkeit Kz = 3600 at, der Streckgrenze σS = 2200 at und der Dehnungsziffer α=121000001at hat bei \frakfamilyS=4,5-facher Sicherheit und dreireihiger Ueberlappungsnietung bei 240 cm Innendurchmesser die Wandstärke h = 1,8 cm; es ist also ρr ~ 121 cm. Damit wird ϱr1/2hα.σS=1210,9.22002100000=0,1408, dem entspricht die größte im Innern des Bleches auftretende Restspannung σ1 = 0,2007 ∙ σs = 441 at. Hierzu tritt die über den ganzen in der Nietreihe der Längsnaht stehen gebliebenen Blechquerschnitt gleichmäßig verteilte Zugbeanspruchung σ2=Kz\frakfamilyS=36004,5=800 at. Außerdem wirkt in achsialer Richtung bei einreihiger Ueberlappungsnietung noch die Zugspannung σ3=Dp4.h.φ=240.94.1,8.0,56=536 at. Die größte, allerdings nur an den Stoßstellen der Nietreihen auftretende Gesamtspannung ist mithin nach Wehage (Z. d. V. d. I. 1905) σmax=(σ1+σ2)2+σ32=12412+5362=1351 at, das ist das 0,965-fache der Proportionalitätsgrenze σP= 1400 at des Materials, die man gewöhnlich nicht zu überschreiten pflegt, bis zu der man aber bei rein statischer Beanspruchung unbedenklich gehen kann. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Vorspannung σ1 im Laufe der Zeit auf rund ¾ des ursprünglichen Wertes zurückgeht, wie in D. p. J. 1905/07 ausführlich wiedergegebene amerikanische Untersuchungen gelehrt haben. Dadurch wird der Einfluß von Korrosionen, die außerdem immer die äußere, wenig vorgespannte Haut betreffen, aufgehoben.
2. Kreisquerschnitt. Mit den Bezeichnungen der Abb. 5 erhält man wie unter Nr. 1: σ=σS.yy1, εmax=rϱ=α.σS.ry1; ferner gilt df=2.x.dy, x=r2y2. Damit ergibt sich die Größe des Biegungsmomentes: $$Mb=20y1ydf.σ+2.y1rydf.σS=4σS.[1y1.0y1y2.r2y2dy+y1ryr2y2.dy].$$ Nach Ausführung der Integration bleibt Mb=43.r3σS.kz1, . . . . (10) worin der Kürze halber y1r=z1 und kz1=112z12+340z14+1112z16+1384z18+32816z110+713312z112+ . . . (11) gesetzt sind. Zur Erzielung der Biegung nach dem Halbmesser ρ hat am Draht eine gleichmäßig über den Querschnitt πr2 wirkende Spannung σb anzugreifen, für die der Zusammenhang gilt Mb=π.r2.σb.ϱ=43.r3.σS.kz1. Hieraus folgt σbσS=4r3πϱkz1, oder mit 3π16=k1 σbσS=kz14k1.rϱ . . . . . (12) Für das Rückbiegungsmoment erhält man aus Mr=ry1r4x.dy.σ.y mit σ=σS(yy1ry1+1), wenn wieder yr=z, y1r=z1 gesetzt wird: Mr=4r3σS{1z11z11z2(1z2)1/2dz(1z11)1z11z(1z2)1/2dz} und nach Ausführung der Integration Mr=43r3σS[k1(1z1)k1z1]1z1 . (13) worin die Reihenwerte k1 und k1z1 der Formel (11) zu entnehmen sind. Der obige Wert von Mr gilt für den Fall, daß das Biegungsmoment Mb bald nach Ausführung der Biegung aufhört zu wirken. Dauert seine Einwirkung lange Zeit hindurch an, so wird die Formänderung mehr und mehr eine bleibende und die Spannungen gehen bis auf rund ¾ ihres ursprünglichen Wertes herunter (vgl. oben). Der Stab bleibt selbst dann gebogen, wenn die Spannungen die Streckgrenze nicht erreichten, eine Erscheinung, die zum Beispiel an den Eisenbahnwagenfedern seit langem bekannt ist. In dem letzteren Fall ist also der vorstehende Wert von Mr noch mit dem Faktor 34 zu multiplizieren: Mr=34.Mr . . . . . (13a)
[Textabbildung Bd. 332, S. 355]
Abb. 5.
Das der Rückbiegung entgegenwirkende Spannungsmoment ermittelt sich aus Ms=0ry14x.dy.σ.y+ry1r4.x.dy.σ.y, worin aus Abb. 3, nachdem ½ h durch r ersetzt ist, einzusetzen ist: σ=σ1.yry1 und σ=σ1.ryr(ry1). Damit wird Ms=4r3σ1.{11z101z1(1z2)1/2z2dz+1z11z11(1z2)1/2zdz1z11z11(1z2)z2dz.}, und nach Ausführung der Integration Ms=43.r3.σ1.(k1z1k1)1z1 . . (14) Wird wieder sinngemäß Gleichung (4) benutzt, so folgt schließlich Ms=43r3σS(1z11)(1z11zr)(k1z1k1) (15) Auch dieser Wert geht im Laufe der Zeit zurück auf Ms=34Ms . . . . . . . . (16)
[Textabbildung Bd. 332, S. 356]
Abb. 6.
Zur Bestimmung des Wertes ryr=1zr wird Gleichung (10) benutzt in der Form MbMr+Ms=43.r3σSkzr. Nach Einsetzen der Gleichungen (10), (13) bzw. (13a) und (15) bzw. (16) ergibt sich hieraus wenn noch Gleichung (11) für kzr dazugenommen wird, als Bestimrnungsgleichung für yrr=zr: zr{kz1+k1z1(0 bzw. 14)+k1z1(1z11)[1z1+(1 bzw. 34)]1k11z12+12zr2340zr41112zr6 . . . .}=(1z11)(k1z1k1) . . (17) die durch Näherungsrechnungen aufgelöst werden muß.
[Textabbildung Bd. 332, S. 356]
Damit erhält man schließlich entsprechend den Gleichungen (7), (8) und (9): ϱrr.α.σS=yrr für yrr<1 . . (18) und ϱrr.4αr3=1MbMr+Ms für yrr1, woraus nach einigen Umformungen und der Bemerkung, daß k1=3π16, folgt ϱrrασS=k1+(1z11)(k1z1k1)kz1(1 bzw. 34)1z1[k1(1z1)k1z1]+1z1(1z11)(k1z1k1) (19) Zum Geradebiegen des etwa auf eine Rolle gewickelten Drahtes ist eine Zugspannung σ0 erforderlich, die sich berechnet aus πr2σ0.ϱr=MbMr+Ms=43.r3.σSkzr zu σ0=kzr4k1.r.σSϱr für zr<1 . (20) bzw. σ0=MbMr+Msπr3.rϱr für zr1 . (21) Die vorstehende Zusammenstellung enthält wieder die zahlenmäßige Ausrechnung der Formeln für verschiedene Verhältnisse y1r. Zur klareren Veranschaulichung sind die einzelnen Werte in Abb. 6 aufgetragen, aus der sie für die meisten Näherungsrechnungen mit ausreichender Genauigkeit abgegriffen werden können. (Schluß folgt.)