Titel: Auszug aus dem Berichte, welchen Hr. Arago der französischen Deputirtenkammer in Betreff der Eisenbahnfrage erstattete.
Fundstelle: Band 68, Jahrgang 1838, Nr. LXXXVIII., S. 425
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LXXXVIII. Auszug aus dem Berichte, welchen Hr. Arago der franzoͤsischen Deputirtenkammer in Betreff der Eisenbahnfrage erstattete. Aus dem Echo du monde savant, 1838, No. 17. Arago's Bericht uͤber die Eisenbahnfrage. Ein Communicationssystem, das sowohl in Hinsicht auf Wohlfeilheit als in Beziehung auf Geschwindigkeit gut genannt werden kann, bildet unstreitig das Hauptelement des Reichthumes und der Wohlfahrt eines großen Volkes. Zu allen Zeiten und allerwaͤrts widmeten deßhalb auch Staatsmaͤnner und sachkundige Techniker diesem Gegenstande die lobenswertheste Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Drei oder vier Daten duͤrften genuͤgen, um einen richtigen Begriff von der praktischen und commerciellen Wichtigkeit der Verbesserungen zu geben, welche die Transportmittel von Beginn unserer socialen Verhaͤltnisse an bis zur Erfindung der Eisenbahnen erfuhren. Die Erfahrung hat dargethan, daß ein Pferd von mittlerer Kraft, welches innerhalb 24 Stunden 8 bis 9 Stunden lang im Schritte geht, so daß es sich mit jedem neuen Tage in gleichem Kraͤftezustande befindet, nicht mehr als 100 Kilogr. auf seinem Ruͤken zu tragen vermag. Dasselbe Pferd nun wird, ohne sich mehr zu ermuͤden, an einem Wagen angespannt durch Ziehen fortschaffen: auf einer gewoͤhnlichen, guten, mit Steinen    aufgefuͤhrten Landstraße    1000 Kil. auf einer Eisenbahn 10,000  – auf einem Canale 60,000  – Der Erfinder des Transportes auf Wagen anstatt des Transportes auf Saumrossen erwies der Menschheit mithin eine große Wohlthat; denn er verminderte durch seine Erfindung die urspruͤnglichen Transporte kosten auf den zehnten Theil. Eine eben so bedeutende Verbesserung in Hinsicht auf den Wagentransport erwuchs aber aus der Erfindung der Eisenbahnen, welche durch Verminderung des Widerstandes die Pferdekraft, oder wenigstens jene, welche einen Nuzeffect gibt, verzehnfachten: so zwar, daß die Last eines von einem Pferde gezogenen Eisenbahnwagens das Hundertfache von dem betraͤgt, was dasselbe Pferd auf seinem Ruͤken fortzuschaffen vermoͤchte. Bei diesen allerdings bewundernswerthen Resultaten duͤrfen wir jedoch nicht unbeachtet lassen, daß uns die Canaͤle ihrer noch außerordentlichere bieten; denn man erinnere sich nur, daß ein Saumroß auf einer stehenden Wasserflaͤche eine 6 Mal groͤßere Last zieht, als auf einer Eisenbahn! Bei allem dem darf andererseits eben so wenig vergessen werden, daß der Transport auf Pferden, wenn er auch an und fuͤr sich kostspielig ist, dafuͤr beinah uͤberall, auf kaum gebahnten Pfaden und selbst auf sehr abschuͤssigem Boden Statt finden kann, waͤhrend zum Baue einer Landstraße gewisse Bedingungen erforderlich sind, und waͤhrend eine solche uͤberdieß per Lieue bloß an einfacher Auffuͤhrung in der ersten Anlage auf 70,000 Fr. zu stehen kommt, und an jaͤhrlichen Unterhaltungskosten mehr dann 2000 Fr. verschlingt; waͤhrend ein Canal per Lieue gegen 500,000 Fr. kostet, und waͤhrend endlich an manchen Eisenbahnen die Herstellung einer Lieue mit einem Kostenaufwande von 3 Mill. Fr. verbunden war. Die Eisenbahnen stuͤnden heut zu Tage, als Mittel zur Verminderung des Widerstandes aller Art, der sich beim Transporte auf den Landstraßen ergibt, betrachtet, offenbar unter den Canaͤlen, wenn die Fortschaffung auf ihnen nur mittelst Pferden geschehen koͤnnte. Die ersten Dampflocomotiven waren der Sache nicht foͤrderlich; erst im Jahre 1829 tauchten auf der Liverpool-Manchester-Bahn neue Maschinen auf, die den Stand der Dinge veraͤnderten. Bis zum Jahre 1813 hoffte man, den Lauf der Wagen auf den Eisenbahnen nur mit Zahnraͤdern und Zahnstangen oder mittelst einer Gliedervorrichtung bewirken zu koͤnnen, die man fuͤglich mit den schief gestellten Beinen eines im Ruͤkwaͤrtsgehen ziehenden Menschen vergleichen kann. Dieser ganze unbequeme, gebrechliche und gefaͤhrliche Apparat blieb an den verbesserten Locomotiven weg; die natuͤrliche Verzahnung, das bestaͤndig erneuerte Eingreifen der dem Auge unbemerkbaren Unebenheiten der Radfelgen in die Vertiefungen des Metalles der Schienen, und umgekehrt, ersezte Alles zur Genuͤge. Diese große Vereinfachung machte es moͤglich, daß man zu ganz unerwarteten Geschwindigkeiten, welche jene des schnellsten Pferdes drei und vier Mal uͤbertreffen, gelangen konnte; und erst von dieser Zeit an datirt sich eine neue Epoche fuͤr die Eisenbahnen. Anfangs waren sie nur zum Waarentransporte bestimmt; jezt bringt uns jeder Tag, jede neue Erfahrung der vielleicht nicht mehr fernen Zeit naͤher, in der sie nur mehr von Passagieren werden durchflogen werden. Die Schienen, die ehemals die Hauptsache waren, nehmen gegenwaͤrtig in dem ganzen Systeme nur mehr den zweiten Rang ein, so daß man auf unserer dermaligen Stufe die Eisenbahnen besser Locomotiv- oder Dampfbahnen nennen wuͤrde. Wenn man in den Tagesblaͤttern, namentlich in den englischen und amerikanischen, von den wirklich erstaunlichen Geschwindigkeiten, die bereits mit den Locomotiven erzielt wurden, liest, so wird man den Glauben, daß keine bedeutenden Verbesserungen mehr in Aussicht stehen, und daß man beinahe die hoͤchste Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, leicht verzeihlich finden. Und dessen ungeachtet ist eine solche Meinung, wie natuͤrlich sie auch immer scheinen mag, ein großer Irrthum; denn die Eisenbahnen sind so zu sagen noch in ihrer Kindheit; und betrachtet man sie, wie sie sind, so wird man in der That beinahe noch allerwaͤrts auf Routine, auf ein Herumtappen und auf Ungewißheit stoßen. Die ersten, fuͤr Passagiere bestimmten Locomotiven wogen nur 5 Tonnen; allmaͤhlich stiegen sie auf 7, 8, 10 und 12 Tonnen, und dermalen verfertigt man ihrer, welche auf 6 Raͤdern ruhend 18 Tonnen wiegen. Urspruͤnglich trugen die adhaͤrirenden Raͤderpaare nur 5 Tonnen; an den neueren Maschinen dagegen sind sie mit 8 Tonnen belastet. Die Schienen beduͤrfen daher einer Verstaͤrkung, obschon sie nach und nach bis jezt schon folgende Gewichtsreihe durch, liefen: 28, 35, 40, 50, 51 und 82 engl. Pfd. auf den Meter. Dabei darf nicht vergessen werden, daß jeder derlei Austausch der Schienen beinahe immer mit einer Aufopferung der Steinbloͤke, der Stuͤhle und der zur Befestigung dienenden Keile verbunden war. Die urspruͤngliche, 4 Fuß 10 Zoll betragende Spur- oder Geleisweite der Bahnen erschien auch als ungenuͤgend, so zwar, daß Brunel fuͤr die von London nach Bristol zu fuͤhrende Bahn eine Spurweite von 7 Fuß annehmen zu muͤssen glaubte. Man beabsichtigt hiedurch die leichtere Anwendung groͤßerer Maschinen; denn bei 7 Fuß Spurweite ist zwischen den Raͤdern Raum fuͤr groͤßere Kessel. Man wird also innerhalb einer bestimmten Zeit mehr Dampf erzeugen, und mithin auch eine groͤßere Kraft und eine groͤßere Geschwindigkeit erzielen koͤnnen, wenn sich keine unvorhergesehenen Hindernisse in den Weg legen. Eben so wird bei steigender Spurweite auch ein groͤßerer Durchmesser der Raͤder moͤglich werden; und obschon dieser Durchmesser bei unseren Nachbarn ohnedieß bereits von 4 Fuß 6 Zoll auf 5 Fuß, dann auf 5 Fuß 6 Zoll und endlich auf 6 Fuß stieg, so beabsichtigt man fuͤr die neue London-Bristol-Bahn doch Raͤder von 8 Fuß im Durchmesser. Mit solchen Raͤdern wird man, wenn man sich nicht verrechnet, die groͤßten Geschwindigkeiten erzielen, ohne daß man gezwungen waͤre, die ohnehin schon uͤbermaͤßige Raschheit der Kolbenschwingungen noch hoͤher zu steigern: eine Verbesserung, die in financieller Hinsicht nicht gering anzuschlagen ist, da diese Geschwindigkeit eine der Hauptursachen der Abnuͤzung der Locomotiven ist. Wenn es erlaubt waͤre in dieser Hinsicht einen etwas gemeinen Vergleich anzustellen, so koͤnnte man sagen, daß die dermalige Geschwindigkeit der Locomotiven aus einer aͤußerst raschen Wiederholung kleiner Schritte erwaͤchst, waͤhrend man mit Raͤdern von 8 Fuß dasselbe durch große Schritte erreichen wird. Die Veraͤnderung der Raͤder der Locomotiven wird zu aͤhnlichen Abaͤnderungen der Raͤder der Transportwagen fuͤhren. Es steht also eine gaͤnzliche Erneuerung des Materiales auf den Eisenbahnen, und was noch mehr ist, eine Erweiterung der Viaducte, ein gaͤnzlicher Umbau der Tunnels etc. in Aussicht. Bei der Anwendung staͤrkerer Maschinen wird man gewiß auch die engen Graͤnzen, welche jezt noch dem Gefaͤlle der Eisenbahnen gestekt sind, uͤberschreiten koͤnnen; selbst wenn die Anwendung einiger in Vorschlag gebrachten Zahnstangen den Eisenbahnenbau nicht jenes Zwanges entfesselte, durch den die etwas gebirgigen oder huͤgeligen Laͤnder des neuen Communicationsmittels beraubt sind. Eine geradlinige Bahn mit den dermalen gebraͤuchlichen Wagen hat ferner wohl unbestreitbare Vorzuͤge vor einer merklich krummlinigen; allein diese Vorzuͤge muͤssen gar oft fuͤr ungeheure Summen erkauft werden. Ein bescheidener franzoͤsischer Ingenieur, Hr. Laignel, hat bereits eine der in dieser Hinsicht obwaltenden Schwierigkeiten trefflich geloͤst; andere Loͤsungen, welche wirklich der Pruͤfung unterliegen, stehen zu erwarten, und gelingen diese, so wird dieß von dem wesentlichsten und wohlthaͤtigsten Einfluͤsse auf die Eisenbahnentwuͤrfe seyn; denn von diesem Augenblike an koͤnnten die Bahnen bis in das Herz der Staͤdte eindringen, ohne Alles vor sich her niederzuwerfen. In Betreff des Legens der Schienen selbst haben wir beinahe so viele Systeme, als Baumeister. Hier nimmt man schwache Steinwuͤrfel, die in gar keiner Verbindung mit einander stehen; dort bedient man sich einfacher hoͤlzerner Querschwellen, deren Elasticitaͤt man einen großen Vorzug beimißt; und geht man noch etwas weiter, so findet man einen sehr tuͤchtigen Ingenieur, der stets auf gute Gruͤnde sich fußend das Holz durch Granit ersezt. Wird sich wohl die mathematische Analysis schon demnaͤchst aller dieser wichtigen Fragen bemaͤchtigen? Noch fehlen ihr selbst die ersten numerischen Elemente hiezu. Vor Kurzem noch schlug man die Kraft, welche noͤthig ist, um eine Tonne von 2240 Pfd. auf den Schienen fortzuschaffen, auf 8 engl. Pfd. an; und schon jezt scheint man sie auf 7 Pfd. herabstellen zu wollen. Und was sollen wir erst von der Dampfmaschine, dem wesentlichsten Theile der Locomotiven, sagen? Die unwiderstehliche Kraft, die sie verarbeitet, circulirt in den ihr angehoͤrigen Organen bald in kleinen Portionen, bald in großen Stroͤmen, und zwar unter einem dem Maschinisten beliebigen Druke. Hieraus erwachsen jene bald langsamen, bald so raschen Bewegungen; jene bald allmaͤhlichen, bald beinahe augenbliklichen Veraͤnderungen in der Geschwindigkeit, die, wenn man dem Gange der Maschine folgt, beinahe zu dem Wahne fuͤhren koͤnnten, daß man es mit den launenhaften Regungen eines mit Leben und Willenskraft ausgestatteten Wesens zu thun habe. Alles dieß ist wunderbar schoͤn; allein durchdringen wir die Huͤlle, so finden wir in ihr einen Apparat, der beinahe bestaͤndig in Unordnung geraͤth, der fortwaͤhrenden Reparaturen unterliegt, und der die Compagnien mit zu Grunde richten hilft. Betrachten wir, welche Triebkraft in dem verzehrten Brennmateriale enthalten ist; messen wir andererseits die von der Locomotive in Thaͤtigkeit gesezte Kraft, und wir werden nur abermals neue Unvollkommenheiten erbliken. Und ist diesen Uebeln nicht zu steuern? Huͤten wir uns wohl, uns diesem Glauben hinzugeben! Erinnern wir uns nur an die Reform, welche unser Landsmann Séguin der aͤltere in der Locomotion bewirkte, als er, sich der Roͤhrenkessel seiner Vorgaͤnger bemaͤchtigend, auf die Idee kam, das Wasser in den urspruͤnglich fuͤr das Spiel der Flamme bestimmten Raum zu bringen, und dafuͤr die Flamme durch die urspruͤnglich dem Wasser zugedachten Roͤhren streichen zu lassen. Erinnern wir uns, was in Hinsicht auf den Zug nur dadurch allein gewonnen wurde, daß man durch den Schornstein jenen Dampf austreten ließ, der, nachdem er seine Wirkung im Pumpenstiefel vollbracht, fruͤher fuͤr weiter unbrauchbar gehalten wurde, und den man daher ehemals frei in die Luft entweichen ließ. Wir haben daher allen Grund neue Verbesserungen zu hoffen und auf Vereinfachung der Dampfmaschine zu zahlen. Soll man nun aber aus diesen Zweifeln, aus diesen Ungewißheiten, aus diesen in Aussicht stehenden Hoffnungen den Schluß ziehen, daß vorlaͤufig gar keine Eisenbahnen zu bauen seyen Nein, tausend Mal Nein! Die dermaligen Eisenbahnen haben in Hinsicht auf die Geschwindigkeit und in Beziehung auf den Personentransport unbestreitbare Vorzuͤge vor allen bekannten Communicationsmitteln, und man soll daher solche Bahnen bauen. Allein unverzeihbar waͤre es, wenn man ohne irgend einen wirklichen Vortheil eine Vertheilung der Arbeit traͤfe, bei der es unmoͤglich waͤre, jene Verbesserungen zu benuzen, deren Nothwendigkeit Jedermann fuͤhlt, welche Sachverstaͤndige voraussehen, welche die Praktiker zu vollbringen auf dem Punkte stehen, und die sich unstreitig Bahn machen werden. Die Regierung verlangt die gleichzeitige Anlage von 4 Bahnen. Nehmen wir fuͤr einen Augenblik an, diese 4 Bahnen hatten gleiche Laͤnge und deren Bau wuͤrde 12 Jahre dauern. Man wuͤrde also die Koͤpfe saͤmmtlicher Bahnen nach dem dermalen angenommenen Systeme beginnen, und hiedurch gebunden waͤre es dem Baumeister unmoͤglich, von den Fortschritten, welche die Kunst innerhalb 12 Jahren unstreitig machen wird, Nuzen zu ziehen. Die mit dem Jahre 1850 vollendeten Bahnen haͤtten mithin saͤmmtlich alle die Fehler der Bahnen von 1838! Wenden wir dagegen alle unsere Kraͤfte einer einzigen dieser Bahnlinien zu, so wird man sie nach drei Jahren, im Jahre 1841 dem Publicum eroͤffnen, und beim Beginnen der zweiten Bahn von allen unterdessen erfundenen Verbesserungen, von allen innerhalb drei Jahren gesammelten Erfahrungen Nuzen ziehen koͤnnen. Eben so wird der dritten Bahn dann eine 6 jaͤhrige und der vierten eine 9 jaͤhrige Erfahrung zu Gunsten kommen; und leztere, gleichfalls mit dem Jahre 1850 vollendet, wird nur um drei Jahre, nicht aber wie nach ersterem Bausysteme, um volle 12 Jahre zuruͤk seyn! Schon diese einfachen Betrachtungen beweisen die Unmoͤglichkeit der Annahme des Gesezentwurfes etc.