Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 228
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 196 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. Ausrüstung der ⅖ gek. Schnellzuglokomotive S. 193: Zwei Friedmannsche selbstanziehende Injektoren, von denen der eine dauernd läuft; Adamssche Sicherheitsventile; Bourdonsche Schmierpresse („Telescopompe“); Wasserstandsglas mit Schutzvorrichtung und mit zwei getrennten Probierhähnen für Wasser und Dampf; Luftsandstreuer nach Gresham für beide Triebradpaare; Westinghouse-Bremse des letzten Modells, auf die beiden Triebachsen und die Hinterachse wirkend (Luftzylinder der Pumpe mit Kühlrippen); Einrichtung für Dampfheizung. Stark abfallendes Dach des Führerhauses zur Verkleinerung der Vorderwandfläche und dadurch des Luftwiderstandes. Anstrich und sonstiges Aeussere: schokoladenbraun durchwegs (daher der Name in Frankreich: „locomotives chocolat“), gelb gemalte dünne Streifen als Einfassungen, Pufferschwelle feuerrot mit weisser Nummer; Stangen, Puffer usw. blank. Durchbildung im Ganzen und Einzelnen, ebenso wie die Ausstattung und Anordnung aller Teile vorzüglich. Der Führerstand mit Umsteuerung ist links, ebenso auch die Westinghouse-Luftpumpe, welche ihren Platz an der Seite der Rauchkammer erhalten hat. Der mit Wasserschöpfer versehene (nicht ausgestellte) Tender ist im Gegensatz zu den bisherigen Drehgestelltendern nur dreiachsig, mit Rücksicht auf den vergrösserten Radstand der Lokomotive, trotz welchem noch das Drehen auf Drehscheiben von 17 m Durchmesser erfolgen sollte. Der Wasservorrat ist dementsprechend von 20 auf 19,2 cbm und der Kohlenvorrat von 5,0 auf 4,0 t zurückgegangen, wobei sich das Dienstgewicht von 45,5 auf 41,9 t ermässigte. Zur Verkleinerung des Luftzwischenraumes zwischen Tender und erstem Wagen sind die hinteren Tenderpuffer sehr kurz gehalten. Die Leistungen dieser Lokomotiven bei Probefahrten und im täglichen Betrieb sind bekanntlich derartig bemerkenswerte, dass rasch manche andern Bahnen dazu übergingen, sich dieselbe Maschinengattung zu verschaffen. Daher rührt die Einführung derselben auf den preussischen Staatsbahnen, wenn auch dort infolge der Ermässigung des Kesseldrucks auf 14 at und bedeutend geringerer Heizfläche sowie kleinlicher Betriebsvorschriften und ängstlicher Mannschaft die Erfolge weit hinter den französischen zurückbleiben; die englische Westbahn beschaffte sich ebenfalls, vergleichshalber, ein Muster dieser Gattung. Was mit diesen Lokomotiven auf der französischen Nordbahn erreicht worden ist, zeigtddie Tatsache, dass seit 1889 die Zugslasten von 150 auf 300 t, die fahrplanmässigen Geschwindigkeiten gleichzeitig von 70 auf 97 km/St. gestiegen sind. Die Betriebsvorschriften sind nämlich: (1889) 150 t h. T. auf 1 : 200 mit 65 km/St. jetzt 250 t h. T. auf 1 : 2000 mit 100120 km/St. 300 t. h. T. auf 1 : 2000   90–92110–120 Zu dieser Beschleunigung des Verkehrs hat allerdings nicht nur die Verstärkung der Lokomotiven, die Einführung des Verbundsystems usw. beigetragen, sondern auch der Fortfall mancher Aufenthalte, Verbesserung der Signaleinrichtungen und des Oberbaues usw., kurz, solche Verbesserungen, durch welche die Lokomotive in den Stand gesetzt wurde, dauernd ihre grösste Leistung zu entwikkeln. Der Erfolg zeigt sich am besten in einer Uebersicht über die besten damaligen und jetzigen fahrplanmässigen Fahrten. Strecke Entfer-nungkm FahrzeitSt./Min. Geschwindig-keitkm/St. 1889 1904 1889 1904 Paris–Lille 251 3.45 2.50 66,9 88,6 Paris–Calais 298 4.13 3.15 70,6 91,8 Paris–Boulogne 254 3.57 2.49 64,2 90,2 Paris–St. Quentin 153 2.15 1.35 68,0 96,7 Paris–Feignies (–Brüssel) 230 3.40 2.30 62,8 92,0 Paris–Jeumont (–Lüttich) 238 3.50 2.35 62,2 92,2 Während die Fahrten vom Jahre 1889 auch für die damalige Zeit nichts besonderes bedeuten (auch nicht im Vergleich zu Deutschland), hat sich durch die Fahrten von 1904, also im Lauf von 15 Jahren, die französische Nordbahn, an die Spitze des Schnellverkehrs des europäischen Festlandes gestellt, obwohl die Zuglasten aufs Doppelte gestiegen sind. Die schnellste Fahrt der Zusammenstellung ist diejenige von Paris nach St. Quentin, ausgeführt durch Zug No. 179, „Nord-Express“, Luxuszug I. Kl. (Paris–Petersburg). Eine gelegentliche Ueberlastung des Zuges hat sich für die Durchführung der vorschriftsmässigen Fahrzeit jedoch nicht als Hindernis erwiesen, ein Beweis dafür, dass die Lokomotive noch nicht an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen ist. So z.B. bestand dieser Zug am 14. Nov. 1903 aus zehn belasteten Vierachsern im Gesamtgewicht von 354 t hinter dem Tender, einschliesslich Lokomotive und Tender also rund 460 t. Die Strecke wurde zurückgelegt in 1 St. 33 Min., entsprechend einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 98,7 km/St. (Fig. 11). Die ersten 100 km wurden zurückgelegt in 1 St. 1 Min. 46 Sek., d.h. mit durchschnittlich 96,8 km/St., worin der Anfahrverlust und die Verluste durch Langsamfahren in Compiègne, Creil (50 km/St.), Tergnier (80 km/St.) mit Wiederanfahren enthalten sind. Das Anfahren wird zwar durch Gefälle bis St. Denis beschleunigt, dieser Gewinn aber durch eine nachfolgende 20 km lange Steigung von 1 : 200 mehr als aufgehoben; auf dieser Rampe, deren Gipfel bei Survilliers liegt, wurde mit 90–95 km/St. gefahren; der darauf folgende, ungefähr ebenso lange und ebenso steile Abstieg nach Creil brachte dann den Zug auf 124 km/St. Die in Creil beginnende, ziemlich wagerechte, gegen Ende aber wieder mit 1 : 333 steigende Strecke bis St. Quentin wurde grossenteils mit 110–115 km/St. befahren, und wenn die drei erwähnten Verlangsamungen durch Signale nicht gewesen wären, so hätte die so wie so erstaunliche Durchschnittsgeschwindigkeit noch ziemlich erhöht werden können. Diese fahrplanmässige Fahrleistung übertrifft bei Berücksichtigung aller Umstände viele deutschen Probeschnellfahrten und lässt auf jeden Fall sämtliche deutschen Betriebsfahrten weit hinter sich, auch diejenige des deutschen Paradezuges Berlin-Hamburg; der letztere hat 86 km/st. Reisegeschwindigkeit auf der vollständig flachen Strecke Textabbildung Bd. 321, S. 229 Fig. 11. Fahrt des Zuges 179 („Nord-Express“) am 14. November 1903. Belastung: 354 t hinter dem Tender (40 Achsen). Lokomotive: ⅖ Vierzylinder Verbund No. 2645. Hamburg-Wittenberge, führt aber nur sechs D-Wagen mit einem Gewicht von etwa 230 t, einschl. Belastung, und wiegt einschl. Lokomotive und Tender etwa 330 t. Die Lokomotivleistung ist in diesem Fall mit vielleicht 750 PS grade die Hälfte der französischen. Der Kohlenverbrauch dieser französischen Lokomotiven hat sich trotz der hohen Leistungen bis 1750 PS zu nur 12,5 kg/km durchschnittlich ergeben, und auf die Leistungseinheit bezogen zu nur 9 kg/PSi. Das Bessere ist der Feind des Guten; infolgedessen hat man anderwärts diese Maschinengattung entweder ganz übersprungen, oder bei Neubeschaffungen rasch wieder verlassen, um einer noch stärkeren Bauart Eingang zu gewähren, welche an Heizfläche (in Serve-Rohren) um etwa 20 qm (also an Leistung etwa 150 PS), an Rostfläche 0,25 qm, an Dienstgewicht um etwa 8 t überlegen ist, und eine Reihe von andern Verstärkungen ausserdem naturgemäss aufweist. Es ist die „Orléans“-Bauart, so genannt, weil die Paris–Orleans-Bahn nach den Erfahrungen der Nordbahn im Jahre 1902 ohne Vorgänger sofort diese verstärkte Bauart sich in der Stärke von 14 Stück (No. 3001 bis 3014) beschaffte. Von dieser Gattung wurden auch der englischen Westbahn im Jahre 1905 zwei Stück und der Pennsylvania-Bahn 1904 ein Stück geliefert, welch letzteres in St. Louis ausgestellt war. Auch an die preussische Staatsbahn ging die Bauart über, jedoch mit der Abänderung, dass die schmale Feuerbüchse durch die amerikanische breite Form ersetzt ist; die elsässische Maschinenbau-Gesellschaft allein hat an die preussische Staatsbahn von der „Nord“-Bauart 6 Stück, von der „Orléans“-Bauart 29 Stück geliefert. Endlich ist auch die belgische Staatsbahn dazu übergegangen, und hat ein Stück der neuen Gattung ausgestellt, nämlich die folgende Nummer dieser Aufzählung. (Fortsetzung folgt.)