Titel: Versuchsmethode zur Ermittlung der Spannungsverteilung bei Torsion prismatischer Stäbe.
Autor: Hugo Anthes
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 342
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Versuchsmethode zur Ermittlung der Spannungsverteilung bei Torsion prismatischer Stäbe. Von Dipl.-Ing. Hugo Anthes. Versuchsmethode zur Ermittlung der Spannungsverteilung bei Torsion prismatischer Stäbe. A. Mathematische Grundlagen der Arbeit. Theorie der Torsion: De St. Vénant hat die Spannungsverteilung und die Formänderung prismatischer Stäbe, die auf reine Torsion beansprucht sind, auf Grund der mathematischen Elastizitätstheorie ermittelt.De St. Vénant, Mémoires sur la Torsion des prismes, Paris 1853. Schon geometrisch einfache Querschnitte führen dabei auf umfangreiche analytische Entwicklungen; bei zusammengesetzten Querschnitten wird die Rechnung meist aber sehr umständlich oder gar undurchführbar. De St. Vénant setzt in seiner Theorie ausser der Annahme isotropen Materials und der Gültigkeit des Hookschen Proportionalitätsgesetzes noch voraus, dass die Mantelfläche des auf Verdrehung beanspruchten Stabes frei von äusseren Druckkräften ist, und dass in beliebigen Querschnitten die gleiche Spannungsverteilung herrscht. Nur unter diesen bestimmten Voraussetzungen hat de St. Vénant die genaue Lösung gegeben. In den in der Technik vorkommenden Fällen ist die letztgenannte Voraussetzung, gleiche Spannungsverteilung in beliebigen Querschnitten, häufig nicht erfüllt. Rechnet man aber dennoch, wie es tatsächlich fast immer geschieht, mit den idealen Annahmen de St. Vénants, so liefern die Ergebnisse nicht die wahre Spannungsverteilung und die wahre Formänderung; es ist vielmehr noch nachträglich zu prüfen und abzuschätzen, in wieweit die jeweiligen Umstände das richtige Ergebnis beeinflussen.Vergl. Föppl, Bd. III, S. 435 u. ff. Es sei hier bemerkt, dass z.B. der Grundfall der Praxis, in wieweit der Angriff der äusseren Kräfte bei einem auf Verdrehung beanspruchten endlichen Stabe die Spannungsverteilung beeinflusst, nicht gelöst ist. Die von de St. Vénant gegebenen Lösungen sind von GrashofGrashof, Die Festigkeitslehre, Berlin, 1866. den Bedürfnissen der Ingenieure angepasst worden; insbesondere hat er die viel benutzte Näherungsformel für den rechteckigen Querschnitt angegeben.Vergl. die Formel für den rechteckigen Querschnitt in dem Taschenbuch „Hütte“, allerdings dort nicht als Näherungsformel bezeichnet. Einen ähnlichen Zweck, Angabe von Näherungslösungen, haben auch die Arbeiten von BredtBredt, Kritische Betrachtungen zur Drehungselastizität, Z. d. V. d. I. 1896, S. 785. und Schulz;Schulz, Beitrag zur Torsionsfestigkeit, Z. für Arch.- und Ing.-Wesen, 1899, S. 202. sie geben eine Anleitung für die Abschätzung der Spannungsverteilung für wichtigere zusammengesetzte Querschnitte. In der vorliegenden Arbeit wird eine Methode angegeben, die gestattet, die Spannungsverteilung eines auf reine Verdrehung beanspruchten prismatischen Stabes bei ganz beliebiger Querschnittsform durch einen einfachen Versuch zu ermitteln. Die Grundlagen dieser Methode bilden zwei Analoga, die im Folgenden zunächst kurz erörtert werden sollen: Textabbildung Bd. 321, S. 343 Fig. 1. Erstes Analogon: Geht man zur Darlegung des ersten Analogons von dem Gleichgewicht der inneren Kräfte aus, so lautet die Gleichgewichtsbedingung eines Körperelementes gegen Verschieben in Richtung der Stabachse, die hier in die Richtung der x-Achse fallen soll (Fig. 1): \frac{\partial\,\tau_x}{\partial\,x}+\frac{\partial\,\tau_{x\,y}}{\partial\,y}+\frac{\partial\,\tau_{x\,z}}{\partial\,z}=0 Vergl. Foppl, Bd. III. worin τxy und τxz die Komponenten der Schubspannung in Richtung der y- und der z-Achse des Querschnitts sind, und σx die Normalspannungskomponente in Richtung der x-Achse ist. Da es sich hier um reine Verdrehung handelt, ist letztere gleich Null, und man erhält die vereinfachte Gleichung: \frac{\partial\,\tau_{x\,y}}{\partial\,y}+\frac{\partial\,\tau_{x\,z}}{\partial\,z}=0 . . . . 1) Schreibt man die hydrodynamische Kontinuitätsbedingung für den Fall der ebenen Strömung einer inkompressibelen Flüssigkeit zwischen festen Wänden in der Form: \frac{\partial\,v_y}{\partial\,y}+\frac{\partial\,v_z}{\partial\,z}=0 . . . . . . 2) worin vy und vz die Geschwindigkeitskomponenten in Richtung der y- und z-Achse der Strömungsebene sind, so erkennt man aus dem gleichen Aufbau der beiden vorstehenden Gleichungen, dass man die Schubspannungen mit den Geschwindigkeiten einer im Querschnitte strömenden Flüssigkeit vergleichen kann.Zuerst angegeben von Thomson und Tait, Handbuch der theoretischen Physik. 1874. S. 228. (Fig. 2). Man kann daher schreiben: Textabbildung Bd. 321, S. 343 Fig. 2. τxy = cvy; τxz = cvz. Zweites Analogon: Dieses beruht ebenfalls auf hydrodynamischer Grundlage. Es ist von Prandtl angegeben worden.Physikalische Zeitschrift, Jahrgang 1903. S. 758. Leitet man die Komponenten der Geschwindigkeit einer Strömung von einer Stromfunktion ψ ab, so kann man setzen: v_y=-\frac{\partial\,\Psi}{\partial\,z}, v_z=\frac{\partial\,\Psi}{\partial\,y}. Analog sollen hier die Spannungskomponenten τxy und τxz von einer Stromfunktion ψ abgeleitet werden, so dass man hat: \tau_{x\,y}=-\frac{\partial\,\Psi}{\partial\,z}, \tau_{x\,z}=\frac{\partial\,\Psi}{\partial\,y}. In der Hydrodynamik bezeichnet man den Wert \frac{\partial\,v_z}{\partial\,y}-\frac{\partial\,v_y}{\partial\,z} als die Wirbelstärke bezüglich der x-Achse. Für den Fall der Torsion kann man zeigen, dass der entsprechende Ausdruck \frac{\partial\,\tau_{x\,z}}{\partial\,y}-\frac{\partial\,\tau_{x\,y}}{\partial\,z} eine sehr einfache Bedeutung hat: Es sei ϑ der Verdrehungswinkel in Bogenmass für die Längeneinheit (1 cm) des Stabes. Der Querschnitt bei x (Fig. 3) verdreht sich dann gegen den Querschnitt bei x = 0 um den Winkel ϑ . x. Textabbildung Bd. 321, S. 343 Fig. 3. Es wird dann die Verschiebung eines Körperelementesin der y-Richtung η = – ϑ . x . z, die Verschiebung eines Körperelementesin der z-Richtung ζ = ϑxy; die Verschiebung eines Körperelementesin der x-Richtung ξ Ferner gelten die Beziehungen:Vgl. Foppl, Bd. III, S. 443. \tau_{x\,y}=G\,\left(\frac{\partial\,\xi}{\partial\,y}+\frac{\partial\,\eta}{\partial\,x}\right); \tau_{x\,z}=G\,\left(\frac{\partial\,\xi}{\partial\,z}+\frac{\partial\,\zeta}{\partial\,x}\right); worin G den Gleitmodul bedeutet. Die Wirbelkomponente bezüglich der x-Achse nimmt alsdann die einfache Form an: \frac{\partial\,\tau_{x\,z}}{\partial\,y}-\frac{\partial\,\tau_{x\,y}}{\partial\,z}=2\,G\,\vartheta. Setzt man für τxz und τxy die Differentialquotienten der Stromfunktion ein, so erhält man: \frac{\partial^2\,\Psi}{\partial\,y^2}+\frac{\partial^2\,\Psi}{\partial\,z^2}=2\,G\,\vartheta . . . . . . 3) Uebereinstimmenden Bau mit Gleichung 3 zeigt aber die Differentialgleichung derjenigen Fläche, welche eine Flüssigkeitslamelle von konstanter Spannung S bildet, auf einer Randkurve von der Form des ebenen Querschnittsumrisses (des verdrehten Stabes) aufruht und eine gleichförmige Belastung p für die Flächeneinheit der Randebene trägt. Für die Fläche gilt die Differentialgleichung: \frac{\partial^2\,u}{\partial\,y^2}+\frac{\partial^2\,u}{\partial\,z^2}=\frac{p}{S} . . . . . 4) worin u die Höhenordinate der Fläche ist. Steht dagegen die Belastung senkrecht zu den Flächenelementen einer Flüssigkeitslamelle, so genügt letztere der Gleichung: \frac{1}{R_1}+\frac{1}{R_2}=\frac{p}{S} Gray, Lehrbuch der Physik, Deutsch von Auerbach. worin R1 und R2 die beiden Hauptkrümmungsradien in einem Punkte sind. Die Gleichung lässt sich auch schreiben: \frac{\left[1+\left(\frac{\partial\,u}{\partial\,z}\right)^2\right]\,\frac{\partial^2\,u}{\partial\,y^2}-2\,\frac{\partial\,u}{\partial\,y}\cdot \frac{\partial\,u}{\partial\,z}\cdot \frac{\partial^2\,u}{\partial\,y\,\partial\,z}+\left[1+\left(\frac{\partial\,u}{\partial\,y}\right)^2\right]\,\frac{\partial^2\,u}{\partial\,z^2}}{\left[1+\left(\frac{\partial\,u}{\partial\,y}\right)^2+\left(\frac{\partial\,u}{\partial\,z}\right)^2\right]^{\frac{3}{2}}}=\frac{p}{S} worin u die Höhenordinate, y, z die in der Randebene zu messenden Koordinaten eines Punktes der Fläche sind, und S die auf die Längeneinheit entfallende Spannkraft eines Schnittes der Haut ist (Fig. 4a). Textabbildung Bd. 321, S. 344 Fig. 4a. Textabbildung Bd. 321, S. 344 Fig. 4b. Unter der Annahme, dass die Neigung der gewölbten Fläche überall sehr klein ist, können in obiger Differentialgleichung die Grössen \left(\frac{\partial\,u}{\partial\,y}\right)^2,\ \left(\frac{\partial\,u}{\partial\,z}\right)^2 und \left(\frac{\partial\,u}{\partial\,y}\cdot \frac{\partial\,u}{\partial\,z}\right) vernachlässigt werden, und es ergibt sich für die Fläche die einfachere Gleichung: \frac{\partial^2\,u}{\partial\,y^2}+\frac{\partial^2\,u}{\partial\,z^2}=\frac{p}{S}. Aus diesem Analogon hat Prandtl folgende Beziehungen zwischen der Gestalt der Haut und der Verteilung der Torsionsspannungen abgeleitetVgl. Prandtl, Eine neue Darstellung der Torsionsspannungen bei prismatischen Stäben von beliebigem Querschnitt. „Z. für Physik“ 1903, S. 758. (Fig. 4b): 1. Die Wagerechtschnitte (Schnitte parallel zur Ebene der Randkurve) des Hügels ergeben im Grundriss Spannungslinien, d.h. die Tangenten dieser Kurven geben die Richtung der Spannung für den betreffenden Punkt des Grundrisses an. 2. Die Grösse der Spannung eines Querschnittspunktes ist proportional dem Gefälle des Hügels an der betreffenden Stelle, das ist proportional der trigonometrischen Tangente des Neigungswinkels der Berührungsebene. Legt man zwei Wagerechtschnitte in der Höhe u und u + du durch die Haut, so ist das Gefälle \mbox{tg}\,\alpha=\frac{d\,u}{d\,b}, worin db den Abstand der beiden Höhenlinien im Grundriss bedeutet. Nach obigem wird also die Schubspannung \tau=x\cdot \frac{d\,u}{d\,b}. Der Proportionalitätsfaktor x lässt sich ermittelnVergl. die Abhandlung von Prandtl. zu: x=\frac{2\,G\,\vartheta\cdot S}{p}. Die Komponenten von τ in Richtung der y- und z-Achse des Querschnitts sind dann: \tau_{x\,y}=-x\cdot \frac{\partial\,u}{\partial\,z};\ \tau_{x\,z}=x\,\frac{\partial\,u}{\partial\,v}. 3. Das Volumen des Hügels (d.h. der Rauminhalt zwischen der Lamelle und der Ebene der Randkurve) ist proportional dem Torsionsmoment des Stabes. Ist Md das Torsionsmoment, und V das Volumen, so kann gezeigt werden, dass die Gleichung gilt: Md= 2xV. Diese Beziehungen zwischen einer Flüssigkeitslamelle und dem Querschnitte eines auf Torsion beanspruchten prismatischen Stabes bilden die Grundlage für die nachstehend angegebene neue Versuchsmethode, bei der die Flüssigkeitslamelle aus einer Seifenlösung gebildet wurde. B. Die Versuchsmethode. a) Erläuterung der Methode. 1. Beschreibung der Versuchseinrichtung. Textabbildung Bd. 321, S. 344 Fig. 5. Schnitt n–n durch den Apparat; Ansicht des Apparates von oben In Fig. 5 stellt A einen flachen vorne offenen Kasten der angegebenen Abmessungen dar. Auf der offenen Vorderseite ist das Blech angebracht, aus dem der zu untersuchende Querschnitt a ausgeschnitten ist. Der Kasten A hat an der oberen Fläche ein Röhrchen R, das durch den Gummischlauch s1 mit der Bürette B verbunden ist. Von ihr führt der Gummischlauch s zu der oben offenen Bürette C. Die beiden kommunizierenden Büretten sind teilweise mit Wasser gefüllt. Der obere Teil der Bürette B steht durch Schlauch s1 in Verbindung mit dem Luftvolumen in A. Durch Heben der Bürette C steigt der Wasserspiegel in B und drückt ein an der Bürette B abzulesendes Luftvolumen V in den Apparat A. Ueber den ebenen Blechausschnitt a ist eine Seifenhaut gespannt. Sobald die Luft in A hineingedrückt wird, nimmt die Seifenhaut die Form eines Hügels an. Oben ist gezeigt worden, dass das Volumen V ein Mass für die Grösse der Drehmomentes ist. In den später durchgerechneten Beispielen ist V auch noch in anderer Hinsicht von grosses Bedeutung. Die Messung von V muss daher möglichst sorgfältig erfolgen. Die Büretten hatten einen Durchmesser von 10 mm und ermöglichten noch eine Ablesung und damit eine Bestimmung von V bis auf 1/20 ccm. Das Innere des Kastens A war bis auf einen kleinen Luftkanal l, nach dem Röhrchen R hin mit Gips ausgegossen. Dieser wurde während des Versuches mit Wasser feucht gehalten. Durch Verdunsten des Wassers wurde der allmählich trocknenden Seifenhaut neue Feuchtigkeit zugeführt und ihre Beständigkeit erhöht. Textabbildung Bd. 321, S. 345 Fig. 6 a. Kitt; b. Zufeilung. Die Bleche mit den Ausschnitten zur Begrenzung der Probehaut wurden auf A aufgekittet. Wurden sie aufgeschraubt und mittels Gummi gedichtet, so zeigte sich ein Verbiegen und die Voraussetzung der ebenen Randkurve war nicht mehr erfüllt. Immerhin zeigten sich trotz genauen Abrichtens der Bleche in den Spiegelungen derselben mehr oder weniger Verzerrungen am Rande, deren Grund wohl in kleinen auf der Richtplatte nicht zu beseitigenden Verbiegungen der Bleche zu suchen ist. Der Umfang der Blechausschnitte war, wie in Fig. 6 angegeben ist, scharf zugefeilt, um ein möglichst genaues Ansetzen der Seifenhaut zu erhalten. Die Seifenlösung wurde aus einer Mischung von ölsaurem Natron, Glycerin und Wasser hergestellt.Siehe Boys, Seifenblasen, Vorlesungen über Kapillarität. Wie ich erst später erfahren habe, soll eine Mischung von Marseiller Seife und Glycerin noch dauerhaftere Blasen liefern.Siehe Gray, Lehrbuch der Physik, Bd. I, Anm. S. 798. (Fortsetzung folgt.)