Titel: Graphodynamische Untersuchung einer Heusinger-Joy-Steuerung.
Autor: Eduard Dafinger
Fundstelle: Band 322, Jahrgang 1907, S. 82
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Graphodynamische Untersuchung einer Heusinger-Joy-Steuerung. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Bewegungsverhältnisse der Steuerungsgetriebe. Von Dipl.-Ing. Eduard Dafinger, München. Graphodynamische Untersuchung einer Heusinger-Joy-Steuerung. Wenn man ein Steuerungsgetriebe auf seine Bewegungsverhältnisse untersucht, so bestimmt man für jeden einzelnen bewegten Steuerungsteil die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen bei den verschiedenen Stellungen des Getriebes. Ihre praktische Bedeutung erhält die Untersuchung, wenn man diese Kenntnis der Bewegungen dazu benutzt, die dynamische Wirkung der bewegten Massen aufzusuchen. Wenngleich diese Aufgabe eine sehr dankbare wäre, insoweit ihre Lösung manche Unsicherheit in der Berechnung der Zapfen in den Gelenken und der Abmessungen der Stangen beseitigen würde, wird sie selten gemacht, da sie sehr umständlich und zeitraubend ist, und da auch die geringen Umlaufzahlen der Maschinen oder die geringen Massen der bewegten Teile sie nicht immer nötig machen. Diese letzteren Gründe treffen aber für die Lokomotivsteuerungen nicht zu. Denn gerade im Eisenbahnwesen zeigt sich das Bestreben, die Zuggeschwindigkeit zu erhöhen, was nur durch eine höhere Umlaufzahl der Lokomotivräder zu erreichen ist, da eine Vergrößerung des Triebraddurchmessers aus konstruktiven Gründen nicht mehr möglich ist. Es erscheint deshalb wünschenswert, die Bewegungsverhältnisse und die dynamische Wirkung des vorliegenden Steuerungsgetriebes zu kennen. Die Untersuchung hat auch eine allgemeine Bedeutung, da sich die Resultate auf die meisten Steuerungen der gleichen Gattung anwenden lassen. Denn, wenn für die gleiche Steuerung nur die Umlaufzahl des Kurbelzapfens eine andere wird, so würde das an den Resultaten nichts ändern; es wird nur der Maßstab der gefundenen Werte einer Korrektur bedürfen. Aendern sich aber auch die Abmessungen der Steuerung, so ist doch im allgemeinen anzunehmen, daß die Verhältnisse der einzelnen Hebel- und Stangenlängen zu einander, somit auch die Verhältnisse ihrer Massen ziemlich die gleichen bleiben. Unter dieser Voraussetzung ist es nur nötig Geschwindigkeit, Beschleunigung und dynamische Wirkung für eine Kurbelstellung zu bestimmen, um dadurch den Maßstab festzulegen, mit dessen Hilfe dann wiederum eine Benutzung der früheren für eine andere Steuerung gleicher Gattung gefundenen Werte gestattet ist und um dadurch Anhaltspunkte für die Beurteilung der neuen Steuerung zu gewinnen. Die hier gewählte Steuerung ist prinzipiell eine Heusinger-Steuerung, deren Schwinge jedoch nicht in der üblichen Weise durch ein Exzenter, sondern von der Triebstange aus mittels Lenker und Gegenlenker angetrieben wird. Diese Bauart, welche der Joyschen ähnlich ist, wird häufig als Heusinger-Joy-Steuerung bezeichnet. Ihr geometrischer Zusammenhang ist aus Fig. 1 zu erkennen und ihre erste Ausführung findet sich bei den Schnellzugslokomotiven der französischen Westbahn. Die hier behandelte Steuerung ist die der ⅖ gekuppelten Schnellzugslokomotive der bayerischen Pfalzbahnen, erbaut 1899 von der Lokomotivfabrik Kraus & Co. in München. (Vergl. Organ des Fortschritts des Eisenbahnwesens, Jahrg. 1899 S. 1.) Die Steuerung führt bei einer Kurbeldrehung eine durch ihren geometrischen Zusammenhang eindeutig vorgeschriebene Bewegung gegenüber der Lokomotive aus. Die einzelnen Steuerungsglieder haben somit eine ganz bestimmte relative Geschwindigkeit und Beschleunigung, und üben ursächlich der letzteren auf die Gelenkpunkte des Getriebes ganz bestimmte Kräfte aus, die als Trägheitskräfte oder Massendrücke bezeichnet werden sollen. Geschwindigkeit, Beschleunigung und Trägheitskraft sollen im vorliegenden Fall für eine Bewegungsperiode, d. i. eine Kurbeldrehung, unter Zugrundelegung einiger notwendiger Annahmen ihrer Grösse und Richtung nach bestimmt werden. Die zu lösende Aufgabe gliedert sich somit in die drei folgenden Teile: I. Bestimmung der Geschwindigkeit; II. Bestimmung der Beschleunigung und III. Bestimmung der von den bewegten Massen des ganzen Steuergetriebes herrührenden Trägheitskräfte. Unter der Annahme konstanter Zuggeschwindigkeit werden relative Beschleunigung und relative Trägheitskraft auch zugleich die absolute Beschleunigung und Trägheitskraft sein, während die absolute Geschwindigkeit die Resultierende aus der relativen und der Zuggeschwindigkeit sein muss. Hier sollen, wie schon erwähnt, nur die relativen Werte bestimmt werden; d.h. man könnte sich den Fall auch so denken, daß die Lokomotive selbst stehen bleibt und die Kurbel mit einer bestimmten Umlaufzahl rotiert. Im nachstehenden werden deshalb auch für relative Geschwindigkeit, Beschleunigung und Kraft kurzweg die Ausdrücke Geschwindigkeit, Beschleunigung und Kraft gebraucht. Um ein genaues und vollständiges Bild zu erhalten über die Größe und Aenderung der gesuchten Werte an einem der Steuerungsgelenkpunkte, muß man bei einer größeren Anzahl Kurbelstellungen für jeden ausgezeichneten Punkt des Getriebes Geschwindigkeit, Beschleunigung und Trägheitskraft suchen und die erhaltenen Resultate in Tabellen oder Kurven sammeln. Nur dann ist es möglich mit ziemlicher Genauigkeit anzugeben, wann die im allgemeinen veränderlichen Größen ein Maximum erreichen, dessen Kenntnis für die praktische Berechnung der Hebel- und Stangenabmessungen von Wichtigkeit ist. Textabbildung Bd. 322, S. 82 Fig. 1. Die Tabellen und Kurven werden natürlich um so vollständiger und genauer, je mehr Kurbelstellungen man untersucht. In der vorliegenden Arbeit sollen Geschwindigkeit, Beschleunigung und Kraft für 16 verschiedene Kurbelstellungen bestimmt werden. In den Fig. 240 ist die Bestimmung dieser Werte für das ganze Steuergetriebe und den Kurbelmechanismus durchgeführt. Von diesen Figuren, welche der Erläuterung dienen, wird vor allem verlangt, daß sie nicht durch eine ungünstige Lage der einzelnen Linien, Schnittpunkte usw. das Verständnis erschweren. Dies zu erreichen ist aber nur möglich, wenn man auf einen folgerichtigen Zusammenhang der Einzelfiguren untereinander verzichtet und für jede die Hebel- und Stangenlagen, sowie die in den Getriebeteil, der durch die betreffende Figur behandelt werden soll, eingeleitete Bewegung oder Kraft ohne Rücksicht auf die vorangegangene Figur neu wählt. I. Bestimmung der Geschwindigkeiten. Bei der Annahme einer konstanten Zuggeschwindigkeit folgt für die Kurbel eine konstante Umlaufzahl und damit auch eine konstante Winkelgeschwindigkeit. Die Lokomotiven der Pfalzbahn, denen die hier behandelte Steuerung entnommen ist, sind gebaut unter der Annahme, daß sie eine Maximalgeschwindigkeit von 120 km i. d. Stunde erreichen sollen. Diese Annahme soll auch hier zugrunde gelegt werden und gibt bei einem Triebraddurchmesser von D = 1980 mm und einem Kurbelradius von R = 285 mm eine Kurbelzapfengeschwindigkeit von A_v=\frac{120\cdot 1000}{60\cdot 60}\cdot \frac{2\cdot R}{D}=\frac{120000\cdot 2\cdot 285}{3600\cdot 1980}=9,596 m/Sek. Die am Kurbelzapfen A eingeleitete Geschwindigkeit ist damit gegeben; die der übrigen ausgezeichneten Punkte soll in den nachfolgenden Figuren gesucht werden. Die Geschwindigkeit wird zweckmäßig in einem solchen Maßstab eingetragen, daß die Ausgangsgeschwindigkeit Av gleich dem Kurbelradius der Zeichnung wird. Für die Aufsuchung der Geschwindigkeiten der Steuerungsteile ist es zuerst notwendig auf einige Lehrsätze und Bezeichnungen aus der Bewegungslehre hinzuweisen. Unter Pol versteht man den momentanen Drehpunkt eines Systems. Polstrahl und Geschwindigkeit stehen senkrecht aufeinander. Die auf dem Pol abgetragene, also um 90° gedrehte Geschwindigkeit wird als die lotrechte Geschwindigkeit eines Punktes bezeichnet. Die Geschwindigkeiten der Punkte eines bewegten Systems verhalten sich bekanntlich wie die Abstände der Systempunkte vom Pol. Im übrigen soll für die Bezeichnungsweise in den Figuren die von Burmester in seinem Lehrbuch befolgte durchgeführt werden. Das ganze bewegte Getriebe kann man hinsichtlich der Geschwindigkeitsbestimmung in zwei Teile trennen, deren erster den Kurbelmechanismus und die Stangen BC, CD, EF, FG und die Kulisse umfaßt. Diese Getriebeteile erhalten nur von einer Seite, von der Kurbel aus eine Bewegung eingeleitet und ist die Bestimmung ihrer Geschwindigkeiten in den Fig. 25 erläutert. Textabbildung Bd. 322, S. 83 Fig. 2. Fig. 2. Gegeben ist die Kurbelzapfengeschwindigkeit Av und gesucht soll die Kreuzkopfgeschwindigkeit Rv werden. Es ist dann AQ die lotrechte Geschwindigkeit des Kurbelzapfens und P der Pol der Stange AR; denn der Polstrahl von A ist die verlängerte Kurbel und der Polstrahl von R muß das Lot in R auf der Kreuzkopfgleitbahn sein. Damit ist die Richtung der Geschwindigkeit Rv gegeben, da sie nach obigem Lehrsatz senkrecht auf dem Polstrahl PR und als Geschwindigkeit eines Punktes des Systems AR den gleichen Drehsinn des Systems um den Pol wie die schon bekannte Geschwindigkeit Av ergeben muß. Die Grösse von Rv bestimmt sich nach der Gleichung, die sich aus der wechselseitigen Beziehung der Geschwindigkeiten zweier Punkte eines Systems zu ihren Polstrahlen ergibt. Es ist: Rv : Av = RP : AP. Diese Gleichung kann graphisch gelöst werden, wenn man Av auf dem Polstrahl abträgt; d.h. die lotrechte Geschwindigkeit einzeichnet und durch den Endpunkt derselben eine parallele Gerade zu AR zieht. Diese Parallele muß dann auf dem Polstrahl von R die lotrechte Geschwindigkeit von R abschneiden. Da Av gleich dem Kurbelradius gezeichnet wurde, ist AQ die lotrechte Geschwindigkeit von A und muß RR' die lotrechte Geschwindigkeit von R sein. Damit ist Rv der Größe und Richtung nach bestimmt. Aus der Figur läßt sich weiter eine sehr einfache zweite Konstruktion der Kreuzkopfgeschwindigkeit ableiten. RA wird über A hinaus verlängert bis zum Schnitt mit dem Lote in Q auf der Kreuzkopfgleitbahn. QTRR' ist dann ein Parallelogramm und folglich QT = RR' d.h. QT ist der Größe nach die gesuchte Kreuzkopfgeschwindigkeit Rv. Ihre Richtung ist wie oben zu bestimmen. Fig. 3. Nachdem die Geschwindigkeiten Av und Rv bekannt sind, kann die Geschwindigkeit eines auf der Triebstange AR liegenden Punktes B bestimmt werden. Der Pol des bewegten Systems AR ist aus Fig. 2 schon bekannt, und da B diesem System angehört, muß PB der Polstrahl von B sein. Man zieht durch den Endpunkt Q der lotrechten Geschwindigkeit von A eine parallele Gerade zur Triebstange AR, die auf dem Polstrahl von B die lotrechte Geschwindigkeit BB' des Punktes B abschneidet. Die Richtung der Geschwindigkeit von B muß senkrecht zum Polstrahl sein und dem durch Av und Rv gegebenen Drehsinn des Systems um den Pol P entsprechen. Textabbildung Bd. 322, S. 83 Fig. 3. In den meisten Fällen wird für das System AR der Pol sehr entfernt von der Zeichnung liegen, was dann die oben erwähnte Auffindung des Polstrahls von B durch einfaches Verbinden des Punktes B mit dem Pol unmöglich macht. Für diesen Fall wird zur Konstruktion des Polstrahls BP die Tatsache benutzt, dass jede zu AR parallele Gerade von den drei Polstrahlen AP, BP und RP im gleichen Verhältnis geteilt wird wie AR selbst durch die Punkte A, B und R. Es muß sich deshalb verhalten: AB : BR = QB' : B'R'. Teilt man somit QR' in diesem bekannten Verhältnis, so ist der dadurch gefundene Teilpunkt B' zugleich der Endpunkt der lotrechten Geschwindigkeit von B. Die Richtung von Bv bestimmt sich wieder wie oben. (Fortsetzung folgt.)