Titel: Mathematische Forschung und Technik.
Autor: E. Jahnke
Fundstelle: Band 325, Jahrgang 1910, S. 519
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Mathematische Forschung und Technik. Von E. Jahnke in Berlin.Aus der Festrede des Verfassers zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers und Königs, gehalten am 27. Januar 1910 in der Aula der Kgl. Bergakademie Berlin. Mathematische Forschung und Technik. Die Beziehungen zwischen mathematischer Forschung und Technik, allgemeiner die Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und Technik, bilden das Fundament der Technischen Hochschulen, denen auch die Bergakademien zuzuzählen sind. Die Technischen Hochschulen sind hervorgegangen aus der Ueberzeugung, daß wahrer Fortschritt, daß durchgreifende technische Verbesserungen nur durch ernstes Studium der Naturwissenschaften und Mathematik möglich sind, daß die wissenschaftliche Forschung die Grundlage aller Industrie und Technik ist. Nun hat das Verhältnis zwischen Mathematik und Technik im Laufe der Jahrhunderte mannigfache Wandlungen erfahren. Noch Euler umfaßte nicht bloß das mathematische Wissen seiner Zeit, dessen Grenzen er gewaltig erweiterte. Wer dem Baseler gerecht werden will, muß auch seiner großen Leistungen um die wissenschaftliche Technik gedenken. Allerdings, da sich in deutschen Landen zu jener Zeit erst schwache Ansätze von Technik und Industrie regten, haben seine Zeitgenossen die Tragweite dieser Untersuchungen nicht erkannt. Ein Menschenalter später vermag noch das gottbegnadete Genie eines Gauß Mathematik und Physik, Astronomie und Geodäsie zu umspannen. Aber schon bei ihm zeigen sich die Anfänge einer Abkehr von technischen Problemen, die in einer Bevorzugung astronomischer Fragen zum Ausdruck kommt; und diese Abkehr findet ihren prägnanten Ausdruck in Lagranges Mécanique analytique! Vollends die späteren Mathematiker haben gerade genug zu tun, das gewaltige Gebäude auszubauen, das Euler, Gauß und Lagrange aufgeführt haben. Und wie in der Mathematik, so war es auf allen Gebieten der exakten Wissenschaften. Eine Fülle der merkwürdigsten und interessantesten Resultate sammelte sich an, neue, bisher ungeahnte Naturkräfte wurden aufgedeckt, die Grenzen unseres Naturerkennens mehr und mehr erweitert. Das neunzehnte Jahrhundert steht unter dem Eindruck einer Gigantenfülle anstürmenden Tatsachenmaterials, wie sie das Menschengeschlecht in geschichtlicher Zeit noch nicht erlebt hat. Die Folge dieses ins Ungeheure angewachsenen Materials war eine Zersplitterung der Kräfte, welche die Verständigung der verschiedenen Berufsarten immer schwieriger machte. Insbesondere bildete sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Mathematik und den Gebieten ihrer Anwendung ein mehr oder minder schroffer Gegensatz heraus. Er wird verständlich, wenn man bedenkt, wie viele und welche Mannigfaltigkeit von mathematischen Gebieten in kurzer Frist der Forschung erschlossen wurden, wie viele Probleme aber noch ihrer Durcharbeitung harrten, so daß zur Bewältigung der schwierigen analytischen Aufgaben, „die dem neunzehnten Jahrhundert zur Lösung anheimfielen“, alle Kräfte herangezogen werden mußten. Es ist begreiflich, daß man im Jubel über die Schönheiten der neu entdeckten mathematischen Provinzen vielfach die Grenzen des Erlaubten überschritt und, nach immer weiteren Schönheiten forschend, die Anwendungen auf die Praxis stark vernachlässigte. Auf der anderen Seite wurde der Techniker durch die rauhe Wirklichkeit vor Fragen gestellt, die dringend Beantwortung heischten. Die mathematischen Theorien entsprachen den tatsächlichen Verhältnissen im allgemeinen nicht. Und so sah er sich auf das Experiment verwiesen und gewöhnte sich, in ihm allein die Quelle allen technischen Fortschritts zu erblicken. Eine recht bemerkbare Kluft zwischen mathematischer Forschung und Technik tat sich auf. Wenigstens was die Analysis betrifft! Und sie ist ja immer gemeint, wenn es sich um den Gegensatz zwischen Technik und Mathematik handelt. Denn in den geometrischen Methoden hatte man – wenigstens vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts an – den Zusammenhang mit der Praxis nie aus den Augen verloren. Die von Monge geschaffene Géométrie descriptive, die von Poinsot und Chasles, gewissermaßen als Reaktion gegen die einseitige analytische Richtung, geschaffene geometrische Mechanik und die von Culman als Wissenschaft begründete Graphische Statik gehören schon seit langem zum Rüstzeug eines jeden Technikers. Endlich war es den Analytikern gelungen, die neuen mathematischen Provinzen zu durchforschen; die Theorie der elliptischen und Abelschen Funktionen, sowie die allgemeine Funktionentheorie, die Theorie der Differentialgleichungen und die höhere Algebra waren zu einem gewissen Abschluß gebracht. Der Sinn für die Anwendungen mathematischer Forschung erwachte wieder. Verdankt sie doch den Problemen der Praxis nicht bloß ihre Entstehung, sondern auch Befruchtung mit neuen Ideen, die den Anstoß zur Formulierung neuer Begriffe, zur Aufstellung neuer Algorithmen gegeben haben. Mit wachsendem Nachdruck trat der Wunsch hervor, sich den Anforderungen von Physik und Technik zu nähern, und begegnete sich mit Bestrebungen der modernen Technik, die schon längst auf stärkere Heranziehung der mathematischen Methoden hindrängten. Demgegenüber machten sich auf technischer Seite Strömungen geltend, die auf eine Einschränkung der grundlegenden, insbesondere auch der mathematischen Studien hinzielen. Diese Strömungen entspringen einer Stimmung, aus welcher heraus noch heute weite Kreise unseres Volkes der Mathematik eine Stellung zuweisen möchten, die man mit einem modernen Wort als splendid isolation bezeichnen kann. Sicher sind die Tage vorüber, wo es nötig war, Angriffen auf die mathematischen Studien und insbesondere auf die Analysis ernsthaft zu begegnen, wie sie von dem Metaphysiker Hamilton und nach ihm von dem Philosophen Schopenhauer erhoben worden sind. Ebenso wie wir nicht zu befürchten brauchen, ein zweites Mal so überschwengliche Lobpreisungen der Mathematik und ihrer Vertreter zu hören wie aus dem Munde des Dichters Novalis. Der Romantiker hält die Mathematiker für Menschen aus anderem Holze, für die einzig glücklichen Wesen, denen es nicht möglich ist, einen Schnitzer zu machen: „Reine Mathematik ist Religion.“Vergl. A. Pringsheim, Wert und Unwert der Mathematik. Münch. Ak. Ber. 1904. An diese Vorstellung des Romantikers klingt auch ein WortWie Herr Senator Blaserna die Güte hatte mir mitzuteilen, rührt das Diktum von dem Philosophen und Staatsmann Vincenzo Gioberti (1801–1852) her und lautet genauer so: „A ogni modo, io reputo beate le matematiche, dove i dilettanti non riescono.“ Vergl. Gioberti, Introduz. allo studio della filosofia, t. 1 (opere edite e inedite, vol. 1). Brüssel 1844, S. 6. an, das jüngst der römische Senator Blaserna, der Präsident der Accademia dei Lincei, bei einer Wasserfahrt in la Bella Venezia zum Fürsten Bülow zitierte: „Benedette le matematiche, perchè non hanno dilettanti!“, nachdem Fürst Bülow aus Rousseaus „Confessions“ das auf ein venezianisches Erlebnis bezügliche Wort: „Lasciate la donna e studiate la matematica“ angeführt hatte. Man kann vielleicht sagen, daß die Kurve, die den Umschwung zur gerechten Würdigung der Mathematik graphisch veranschaulicht, beständig, wenn auch schwach, ansteigt. Zum Beweise dafür sei es mir erlaubt, auf die Journalistik zu verweisen. Es ist heute nicht weiter auffällig, wenn während der Tagung der Deutschen Naturforscher-Versammlung führende Zeitungen von den Sitzungen der mathematischen Sektion Notiz nehmen. Witzblätter dürfen es hin und wieder wagen, ihren Lesern mathematische Scheinbeweise, wie die bekannten Beweise dafür, daß 0 = 1 sei, vorzusetzen. Bei Gelegenheit der Beratung über die Erbschaftsteuer rechnete ein Witzblatt unserem Finanzminister die gewaltige Summe heraus, die ihm ein einziger Pfennig an Zinseszins eingebracht haben würde, wenn er ihn um Christi Geburt zu 4 v. H. angelegt hätte. Und neuerdings treten große Tageszeitungen in Konkurrenz mit mathematischen Zeitschriften, indem sie Beweise des sogen. letzten Fermatschen Satzes zum Abdruck bringen, allerdings Beweise, die sämtlich für diese Welt zu schön, also nach einem Steinerschen Schluß falsch sind. Es ist bemerkenswert, wie die Vertreter der allerverschiedensten Berufe sich an diese Aufgabe heranwagen. Unter den Verfassern der Manuskripte, die mir in meiner Eigenschaft als Redakteur des Archivs der Mathematik und Physik zugegangen sind, finden sich ein Buchhalter, Postexpeditor, Chemiker, ein Pastor, Bergingenieur, Oberbauinspektor, ein Apotheker, Assessor, Regierungsrat, Major, Oberstleutnant und sogar ein ehemaliger Minister. Der Eifer aller dieser Herren, denen sich neuerdings auch das weibliche Geschlecht zugesellt, wird allerdings erklärlich, wenn man erfährt, daß auf den wirklichen Beweis der Fermatschen Behauptung ein Preis von 100000 M ausgesetzt ist.Ein richtiger Beweis ist auch heute noch nicht erbracht. Wenn man also hiernach wohl sagen darf, daß die frühere starre Ablehnung der Mathematik von Seiten des großen Publikums einer milden Duldung gewichen ist, so gibt es unter den Praktikern weite Kreise, die in der Mathematik nichts weiter als eine Maschine sehen, eine Maschine, die ihn mit den einfachsten Formeln und Rechenregeln und, wo nur möglich, mit numerischen Tafeln zu versehen hat. Nach der Ansicht dieser KreiseVergl. Forsyth, Address. Brit Ass. 1897, 541–549. hat die Mathematik ihre Schuldigkeit getan, wenn sie einen Packesel der praktischen Wissenschaften abgibt. Diese Auffassung hat sicher insofern Berechtigung, als der Praktiker Resultate braucht und keine Methoden. Auch läßt sich nicht bestreiten, daß dem Praktiker durch Zuschärfung der mathematischen Methoden auf praktische Aufgaben viel Zeit erspart werden kann und muß, wollen wir anders dem Machschen Gesetz von der Oekonomie geistiger Arbeit gerecht werden. Und wo dies geschehen kann, sei es durch Rechnungen, die vom Mathematiker durchgeführt werden müssen, um ein praktisches Resultat sicherzustellen, sei es durch Umwandlung des Integrals einer Bewegungsgleichung in eine für die numerische Auswertung bequeme Form, sei es durch Ausbildung von Approximationsmethoden, die im Minimum an Zeit zu einem praktischen Optimum an Genauigkeit in den Resultaten führen, in allen solchen Fällen wird auch der Mathematiker bereit sein, berechtigten Wünschen entgegenzukommen. Es wäre falsch zu meinen, daß der Praktiker, der von uns die Lösung einer Aufgabe verlangt, uns damit eine Last auferlege. Im Gegenteil, wir haben uns, nach dem Ausspruch eines der größten Mathematiker der Gegenwart, Henri Poincaré, bei ihm dafür zu bedanken. Man darf aber nicht vom Mathematiker erwarten, daß er seine höchste Aufgabe erfüllt zu haben glaubt, wenn er den jeweiligen Anforderungen in Physik und Technik gerecht wird, wenn er den Praktiker mit dem nötigen Rüstzeug und mit Darstellungen versieht, die geeignet sind, ihn schnell in das besondere Gebiet einzuführen, das ihn interessiert. Denn die Mathematik ist doch nicht bloß eine gute Dienerin, sie ist auch eine gute Lehrmeisterin, die dem Ingenieur schon manches unerwartete Resultat als einfache Schlußfolgerung aus mathematischen Ansätzen geliefert hat, die durch Aufdeckung der gesetzmäßigen Zusammenhänge zum tieferen Verständnis der Wirklichkeit wesentlich beigetragen und auf diese Weise zu neuen Erscheinungen geführt hat. „Wer auf die analytischen Entwicklungen verzichten wollte, würde das schärfste und zuverlässigste Werkzeug zur Verarbeitung der Beobachtungstatsachen aus der Hand geben“.A. Föppl, Vorlesungen über technische Mechanik. Dritter Band: Festigkeitslehre. 2. Aufl., S. VII. Die wunderbare Erscheinung, daß die Krümmung der Erdoberfläche, die eine Fortpflanzung des Lichtes hindert, für die Ausbreitung der Wellen der drahtlosen Telegraphie kein Hindernis darstellt, daß diese vielmehr auf der Erdoberfläche von Europa bis Amerika zu laufen vermögen, findet ihre Erklärung erst durch Betrachtung der partiellen Differentialgleichungen des Problems. Zwar ist es wohl bekannt, daß diese Wellen eine viel größere Länge haben als die Lichtwellen. Doch kann diese Tatsache jene Erscheinung nicht erklären,Vergl. H. Poincaré. Sechs Vorträge aus der reinen Mathematik und mathematischen Physik. S. 23–31, Leipzig 1910, B. G. Teubner. da es doch immer nur auf das Verhältnis der Wellenlänge zum Krümmungsradius des zu überwindenden Hindernisses ankommt. Erst die Differentialgleichungen lehren, wie neuerdings Herr SommerfeldSitzungsber. Münch. Ak. vom 9. 1. 09. gezeigt hat, daß es sich bei den Wellen der drahtlosen Telegraphie in der Hauptsache um ein Analogon zu den Hertzschen Draht wellen handelt, indem sich aus den vom Sender ausgehenden Wellen in größerer Entfernung vorzugsweise der schon von Uller und Zenneck studierte Typ von Oberflächenwellen ausbildet, so daß die Erde die Wellenfortpflanzung wesentlich mitbestimmt. Eine solche Unterstützung der Technik durch die mathematische Forschung ist aber nur dadurch möglich, daß die Mathematik ihren eigenen Zielen, ihren eigenen Aufgaben nachgegangen ist und nachgeht, unbekümmert um mögliche Verwendbarkeit der Ergebnisse für die Praxis. Der Utilitarismus ist für den Fortschritt der Wissenschaft weder der beste Anreiz noch der wirksamste Führer zu gesicherten Resultaten. Häufig – das ist zuzugeben – ist er der einzig mögliche Führer. Auf diese Weise haben viele Gebiete der mathematischen Physik und Technik begonnen – ich erinnere nur an die Thermodynamik –, und ihre Entwicklung hat zu neuen Zweigen der reinen Mathematik den Grund gelegt. So ist die Theorie der Fourierschen Reihen entstanden, die auf die Ausbildung der Reihentheorie überhaupt entscheidenden Einfluß ausgeübt hat. Diese neuen Provinzen der Mathematik haben sich dankbar erwiesen, indem sie die Quelle, der sie entsprangen, neu belebten und ihre Ergiebigkeit mehrten. Aber vielfach ist der Steg des praktischen Nutzens zu schmal und auch zu unregelmäßig, als daß er weit führen könnte. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, bereitet sich schon ein Wechsel in den Anschauungen jener Praktiker vor, den Lord Kelvin in die Worte kleidet; „that there is no useful mathematical weapon, which an engineer may not learn to use.“ Rankine,Preface to Applied Mechanics, London 1898, Ch. Griff in and Co. 15. Aufl. dem das Verdienst gebührt, das Interesse für theoretische Behandlung technischer Probleme auch in England geweckt zu haben, präzisiert den Unterschied des Ingenieurs vom Mathematiker etwa so: The question for the Engineer is – what am I to do? And he must decide immediately. For the Mathematician the question is – what am I to think? And he can take an unlimited time. Die steigenden Anforderungen, die in der Praxis an den Beruf des Ingenieurs gestellt werden, zwingen zu einer Vertiefung seiner mathematischen Vorbildung und zu einer Schulung in der reinen Mathematik, um ihm die erforderliche Sicherheit in ihrer selbstständigen Anwendung zu geben. Ein Blick in die Handbücher, die er zu Rate zieht, lehrt, daß ein Techniker von heute ein mathematisches Rüstzeug und ein mathematisches Wissen besitzen muß, wie man solches – vor noch nicht gar so langer Zeit – nicht bei allen Berufsmathematikern finden konnte. In diesem Sinne bereitet sich auch in Nordamerika ein bedeutsamer Umschwung in der Erziehung der Ingenieure vor.Vergl. Siegmund Müller, Die Technischen Hochschulen in Nordamerika. Leipzig 1908. B. G. Teubner. Und in dem Maße, wie dieser Wandel sich vollzieht, wird auch die allgemeine Wertung des mathematischen Wissens in die Höhe gehen, nach dem Vorgange Frankreichs, wo die von dem großen Napoleon gegründete Ecole Polytechnique schon längst in weiten Kreisen des Volkes eine Ahnung von der Bedeutung der mathematischen Forschung geweckt hat, wobei andererseits zugegeben werden muß, daß die einseitige Betonung der Mathematik in der Ausbildung der französischen Ingenieure mit Schuld daran ist, wenn z.B. die Elektrotechnik in Frankreich gegenüber der deutschen stark ins Hintertreffen geraten ist. Einen schlagenden Beleg für meine Anschauung sehe ich in dem Vorgehen des Elektrotechnischen Vereins zu Berlin. Von der Erkenntnis ausgehend, daß es mannigfache Hindernisse zu beseitigen gibt, die sich der Annäherung und Verständigung zwischen dem Mathematiker und dem Techniker in den Weg stellen, hat er in den letzten Semestern Mathematiker und mathematisch geschulte Techniker herangezogen, welche Vorlesungen zur Einführung in die Vektoranalysis und über Maxwells elektromagnetische Theorie gehalten und Referate über den Stand der Theorie in den einzelnen Gebieten der Elektrotechnik erstattet haben.In diesem Zusammenhang wäre noch auf die von Herrn Kneser und mir im Jahre 1901 gegründete Berliner Mathematische Gesellschaft hinzuweisen, die den Vorzug genießt, eine ganze Reihe von Technikern zu ihren Mitgliedern zu zählen. Und Reiter auf die von mir seit 1908 herausgegebene Sammlung: Mathematisch-Physikalische Schriften für Ingenieure und Studierende. Leipzig, B. G. Teubner. Allerdings wird es auch Sache der Mathematiker sein, eine in neuerer Zeit bemerkbare Neigung zur Scholastik einzudämmen und, statt sich in formalen Verallgemeinerungen und in unfruchtbarer Ueberkritik zu ergehen, zu der manchmal ganz vergessen scheinenden Aufgabe der Mathematik zurückzukehren, konkrete Probleme zu lösen.Vergl. hierzu auch P. Stachel, Jahresber. Deutsch. Math. Ver. 17, 363–375. 1908. Es ist interessant zu beobachten, daß gerade die amerikanischen Mathematiker, also die Vertreter eines Landes, dem wir nur zu geneigt sind, ideales Streben abzusprechen, gewissermaßen als Reaktion gegen die nur praktischen Zielen zugewandte Betätigung ihrer Landsleute, in ihren Zeitschriften zum großen Teil Gebiete bearbeiten, die von einer möglichen Anwendbarkeit auf konkrete Probleme, vorläufig wenigstens, noch weltenfern sind. Aus der Geschichte der Technik können wir lernen, daß die Mathematik wirksame Hilfe nur bieten kann und wird, wenn sie in ihrer systematischen Entwicklung die Grenzen von Nutzen und Anwendung überschreiten darf, daß sie für eine gedeihliche Entwicklung frei sein muß von allen Beschränkungen, die ihr ein falsch verstandener Utilitarismus aufzwingen möchte. Es sei mir gestattet, einige Beispiele zu Hilfe zu rufen, um darzulegen, welche wichtigen Resultate nur aus der engen Verbindung von Technik und mathematischer Forschung hervorgehen konnten, und um die Stellung ins rechte Licht zu rücken, die neben der Technik die Mathematik zu beanspruchen ein volles Anrecht hat, um zu zeigen, wie unverständig die Mathematiker handeln würden, wollten sie den praktischen Erfolg als den einzigen Führer für die Wahl und die Ausdehnung ihrer Untersuchungen akzeptieren.Vergl. auch Forsyth, Brit. Ass. 1897, 541–549. Die Mathematik ist begonnen worden von Technikern, denn sicherlich, Geometrie ist das Werk der Feld- und Landmesser. Aber nachdem das geometrische Gebäude, dessen erste Bausteine aus Babylon und Aegypten stammen, durch Euklid und Apollonias von Pergae eine klassische Darstellung gefunden hatte, haben die Techniker bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts nicht mehr viel hinzugefügt. Sie haben sich begnügt, aus dem mathematischen Handwerkskasten das handlichste Werkzeug herauszusuchen, aber wenig getan, das geliehene Werkzeug zu verfeinern. Die Brennpunktseigenschaften der Kegelschnitte waren den Griechen bereits im vierten und dritten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung wohl bekannt, aber sie blieben an die 2000 Jahre ungenutzt liegen, bis Kepler in ihnen auf Grund von Beobachtungen die Lösung des uralten Rätsels unseres Planetensystems fand. Ein weiterer großer Fortschritt war es, als es Newton gelang, die Planetenbewegung auf die Wirkung von Kräften zurückzuführen, die mit großer Annäherung einem einfachen Gesetze folgen. Diese mechanische Erklärung gewann einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, als sie erlaubte, noch eine Reihe von Erscheinungen, die über die Keplerschen Gesetze hinausgehen, in Uebereinstimmung mit der Erfahrung vorauszusagen. Und das ist ja das Kennzeichen eines wahren Fortschritts in der Theorie, wenn er die Richtschnur für die Auffindung neuer Beobachtungstatsachen abgibt. Ein anderes Resultat mathematischer Forschung, das gleichfalls auf allgemeineres Verständnis rechnen darf, ist die Entdeckung des Planeten Neptun durch Leverrier, der seinen Rechnungen Beobachtungen über Störungen der Uranusbahn zugrunde legte. Es war ein Triumph menschlicher Geisteskraft, als es dem Astronomen Galle gelang, die Existenz des neuen Planeten nicht weit von dem durch Leverrier vorhergesagten Orte festzustellen. Ebenso waren es scharfsinnige analytische und geometrische Ueberlegungen über die Eigenschaften der Wellenfläche, die Sir W. R. Hamilton die Existenz der konischen Refraktion am optisch zweiachsigen Arragonit enthüllten, bevor ein menschliches Auge die Erscheinung geschaut hatte. Solcher eklatanten Beispiele, wo die mathematische Deduktion zur Auffindung einer Naturerscheinung geführt hat, gibt es allerdings nicht viele. In den gewöhnlich auftretenden Fällen liegen die Verhältnisse bei weitem verwickelter. Meist ist die Empirie vorangegangen, worauf dann die mathematischen Methoden erlaubt haben, aus dem vorliegenden Erfahrungsmaterial gesetzmäßige Zusammenhänge zu erschließen. Und darin liegt ja auch die eigentliche Bedeutung des mathematischen Kalküls für die Technik! Denn natürlich – und das kann nicht oft genug betont werden – wir können aus der mathematischen Mühle nicht mehr herausholen als wir hineingetan haben; aber wohl können wir es in einer Form gewinnen, die für die Zwecke unserer Erkenntnis unendlich viel nützlicher ist. Poncelet ist ein Ingenieur, der, aus der Ecole Polytechnique hervorgegangen, mit den Machtmitteln der mathematischen Analyse ausgerüstet war. Er gilt als der eigentliche Schöpfer der heutigen technischen Mechanik. Der von Coriolis eingeführte Begriff der mechanischen Arbeit, der in seiner Uebertragung auf alle Energiegrößen eine so hervorragende Rolle spielt, wurde zuerst von Poncelet auf konkrete Maschinenprobleme angewandt. Seine Schriften enthalten bereits die Begriffe der Energiewanderung und Energieaufspeicherung in einem Schwungrade, sowie eine klare Erkenntnis der Beziehungen zwischen Regulator und Schwungrad. Seine Theorie der Festigkeit elastischer Körper bildet noch heute die Grundlage zur Berechnung der mehrfach beanspruchten Maschinenelemente. Daneben hat Poncelet als Mathematiker Gewaltiges geleistet: Unter den Begründern der synthetischen Geometrie muß sein Name mit an erster Stelle genannt werden. Nach ihm hat besonders Redtenbacher, dem ebenfalls eine beträchtliche mathematische Durchbildung zur Seite stand, den Maschinenbau erheblich gefördert, u.a. durch Behandlung des Problems der oszillatorischen Bewegung der Lokomotive während der Fahrt. Nach Redtenbacher haben Radinger und andere deutsche Techniker auf diesem Gebiete mit Erfolg weiter gearbeitet. Und diese spekulativen Forschungen – von denen sich England lange Zeit ferngehalten hat, weil ihr Erfolg in der Technik nicht unmittelbar in die Augen sprang – haben inzwischen reiche Früchte getragen und den Ruhm des deutschen Maschinenbaus begründen helfen.Vergl. K. Heun, Die kinetischen Probleme der wissenschaftlichen Technik. Leipzig 1900, B. G. Teubner. – A. Föppl, Die Mechanik im neunzehnten Jahrhundert. München 1902, E. Reinhardt. Abbe ist der Typus eines Mannes, bei dem exakte physikalische Beobachtung mit mathematischer Durchführung der beobachteten Erscheinungen Hand in Hand geht. Indem er sich mit dem Praktiker Karl Zeiß zusammentat, hat er die Jenenser Werkstätten geschaffen, die den Bau der optischen Instrumente auf eine neue Basis stellten und Deutschland unbestritten die führende Rolle auf diesem Gebiete sicherten. Die Methode, deren sich Abbe und seine Mitarbeiter bedienten, und die jetzt in Deutschland weite Verbreitung gefunden hat, ist die der rechnerischen Empirie. Ihr verdankt Deutschland die großen Erfolge in der wissenschaftlichen Optik. Auf rechnerischer Grundlage allein war es möglich, mit dem vorhandenen Material die bestmögliche Leistung zu erzielen und neue Anforderungen an das Material zu formulieren. Aehnlich ist es mit den neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen, wie sie von Castigliano, Mohr und Müller-Breslau mit so großem Erfolge entwickelt worden sind. Ihre Begründung finden sie in den Gesetzen der Mechanik, unter denen das Gesetz der virtuellen Verschiebungen und der Satz von der Formänderungsarbeit grundlegende Bedeutung beanspruchen. Bei dieser Gelegenheit verdient ein Ergebnis der neuesten historischen ForschungVergl. Eugen Meyer-Charlottenburg, Zur Geschichte der Anwendungen der Festigkeitslehre im Maschinenbau: Hat Watt sich zur Bemessung seiner Maschinenteile der Festigkeitslehre bedient? Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie. Jahrbuch des Vereins Deutscher Ingenieure. Erster Band. Herausgegeben von C. Matschoss. Berlin 1909, J. Springer. S. 108. erwähnt zu werden, nämlich daß schon James Watt die wichtigsten Abmessungen der auf Festigkeit beanspruchten Teile seiner Maschinen auf Grund von Festigkeitsrechnungen gewählt hat. (Schluß folgt.)