Titel: Der Polygonschutz in elektrischen Leitungen und Netzen.
Autor: Franz
Fundstelle: Band 340, Jahrgang 1925, S. 28
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Der Polygonschutz in elektrischen Leitungen und Netzen. FRANZ, Der Polygonschutz in elektrischen Leitungen und Netzen. Verbindet man die Erzeugungsstelle elektrischer Kraft mit der Verbrauchsstelle durch eine einzige Uebertragungsleitung, die man etwa an beiden Enden durch Ueberstromausschalter sichern möge, so wird beim Eintritt einer Störung – Kurzschluß, Erdschluß – ein Ueberstrom entstehen, der den Ueberstromschutz zum Ansprechen bringt und so die kranke Leitung abschaltet. Von dem Augenblick an bis zur Vollendung der Ausbesserungsarbeiten bleibt der Verbraucher stromlos. Bei vielen Industrien – ich erinnere an die chemischen Betriebe – ist jedoch eine Unterbrechung des Stromes – wenn auch nur kurzzeitig – gleichbedeutend mit empfindlicher Störung eines meist langwierigen Produktionsganges. Es liegt nun der Gedanke nahe, solche Betriebe, die auf ununterbrochene Stromaufnahme angewiesen sind, und schließlich alle Stromabnehmer dadurch vor Schaden zu bewahren, daß die Kraftübertragung mittels mehrerer, parallelgeschalteter Leitungsteile erfolgt, die so bemessen sind, daß die Gesamtleistung bei Ausfall einer oder mehrerer Leitungen durch den Rest der Verbindungen übertragen werden kann. Eine solche Leitungsanordnung heißt gewöhnlich „Netz“. Die Verwirklichung dieses Gedankens setzte eine Einrichtung voraus, die bei Fehlerstrom nur die beschädigte Leitung außer Betrieb setzte. Mit dem gewöhnlichen Ueberstromschutz war dies nicht zu erreichen; denn es ist bekannt, daß sich bei einem Kurzschluß der Strom aus allen Zweigen plötzlich auf die eine Stelle geringsten Widerstandes vereinigt. Bei dieser Gelegenheit bringt der auftretende Kurzschlußstrom sämtliche im Netz liegenden Maximalschalter zur Auslösung. Es kam also darauf an, die Fehlerströme schon im Augenblick des Auftretens zur Abschaltung der einen, kranken Leitung zu verwenden. So entstand der Polygonschutz, der auf verschiedenen Wegen Eingang in die Praxis gefunden hat. Seine Wirksamkeit soll an Hand eines bestimmten, gut bewährten Systems (System Bauch, S.S.W.) beschriebenwerden, in Anlehnung an den in Heft 8/9. der Siemens-Zeitschrift (3. Jahrgang, 1923) erschienenen Aufsatz von Dipl.-Ing. R. Völzing. Der Schutz beruht auf der Vergleichung der in den einzelnen Leitungen fließenden Ströme. Zu diesem Zweck liegen in den Hauptstromkreisen Stromwandler, deren sekundäre Wicklungen in Reihe geschaltet sind, so daß sie ein Polygon bilden. Sind die Hauptleitungen gleich stark, so fließen in ihnen gleiche Ströme. Bei zunächst gleich angenommenem Uebersetzungsverhältnis der Stromwandler werden daher auch die Sekundärwicklungen von gleichen Strömen durchflössen. Sind die Hauptleitungen ungleich stark, so wird dies durch geeignete Wahl der Uebersetzungen der Wandler soweit ausgeglichen, daß in jedem Fall bei normalen Stromverhältnissen in den Polygonecken gleiche Spannung herrscht. Schließt man nun die Polygonecken diagonal über je ein Relais, so müssen die Relais stromlos bleiben, solange der normale Zustand aufrechterhalten bleibt. Aendert sich aber in einer Leitung anläßlich irgend eines Fehlers die Stromstärke, so wird in der Sekundärwicklung des der Leitung zugeteilten Wandlers eine andere Spannung als gewöhnlich induziert. Da die Sekundärwicklungen der zu den gesunden Leitungen gehörigen Wandler bei ihrer hohen Impedanz als Drosselspulen wirken, so kann sich die im Polygon auftretende Spannungsänderung nur über die Relais ausgleichen, die an den beiden Enden der vom Fehlerstrom beeinflußten Wicklung liegen. Die Relais wiederum betätigen einen Hilfsstromkreis, der die Abschaltung der Fehlerleitung besorgt. Die Erscheinungen treten an beiden Stationen der kranken Leitung in ähnlicher Weise auf. Nur die Richtung des zusätzlichen Fehlerstromes ist die entgegengesetzte. Die Art der Abschaltung wollen wir an Hand des Prinzipschaltbildes (Abb. 1) verfolgen. W1 bis W4 sind die primären Wicklungen der den Leitungen I–IV zugeteilten Stromwandler. W1'–W4' bildet das Polygon der sekundären Wandlerspulen, dessen Eckpunkte über die Relais R1–R4 zu einem gemeinsamen Mittelpunkte geführt sind. Die Kontakte der Relais sind vollkommen zyklisch vertauschbar einerseits mit den Auslösespulen zur Betätigung der Leitungsabschaltung A1–A4 und andererseits mit der Hilfsstromquelle B verbunden. Die Schaltung ist, wie man erkennt, so gewählt, daß jeweils nur die Auslösespule erregt wird, die die fehlerhafte Leitung vom Netz trennt. Ist z.B. ein Kurzschluß in II, so wird zwar Relais R1 und R2 ansprechen, aber nur Schalter A2 kann auslösen. Durch Hilfskontakte, die mit dem Schalter verbunden sind, (nicht eingezeichnet) wird nach Ausschalten einer kranken Leitung der dazugehörige Wandler (W2') kurz geschlossen und das entsprechende Relais (R2) abgeschaltet. Da der Schutz noch einer weiteren Leitung (im gezeichneten Fall Leitung III) von jedem Relais abhängig ist, so wird durch besondere Hilfskontakte am Ausschalter bewirkt, daß das nächste Relais die Tätigkeit des abgeschalteten übernimmt. Auf diese Weise wird das Polygon von neuem geschlossen und zum Schutz weiterer Leitungen vorbereitet. Textabbildung Bd. 340, S. 29 Abb. 1. Bei Kurzschluß und Erdschluß sprechen die Relais auf einen im Polygon zusätzlich auftretenden Fehlerstrom an; bei Leitungsbruch, als dessen Folge die zugeordnete Wandlerwicklung stromlos wird, gleichen sich die normalen Polygonströme über die Relais aus, da die hohe Leerlaufimpedanz der stromlosen Wicklung den Ausgleich über die Wicklung selbst verhindert. Wir wollen nun das hier gegebene Prinzip auf ein Drehstromnetz anwenden, wie es der Wirklichkeit entspricht. Die wichtigste Erfahrung, die man in der Praxis gemacht hat, ist die, daß es zur vollkommenen Sicherung der 3 Phasen genügt, nur 2 Phasen mit Stromwandlern auszustatten und die Sekundärwicklungen der sämtlichen Wandler einer Station zu einem einzigen Polygon zusammenzufassen. Das Grundschaltbild des Dreiphasenschutzes ist in Abb. 2 angegeben. Es ist daraus sofort ersichtlich, daß bei Kurzschlußzwischen R–T und S–T der einfache Fehlerstrom im Polygon auftritt, während bei Kurzschluß zwischen R–S die Fehlerströme der beiden Wandler sich summieren. Eine besondere Anordnung wurde erforderlich, um das Netz auch gegen Bruch der einen, nicht erfaßten Phase zu schützen. Es wurden nämlich die Wandler der einen Station an die Phase R u. S gelegt, die Wandler der Gegenstation an S u. T, so daß die 3 Phasen durch das Zusammenwirken der beiden Stationen gesichert werden, indem zuerst die eine Stelle abschaltet, worauf bei der andern Stelle infolge der Stromlosigkeit die Relais ebenfalls in Tätigkeit treten. So ist der einfache Polygonschutz in der Lage, mit einem Relais pro Leitung 4 Kurzschluß-, 3 Leitungsbruch- und 3 Erdschlußmöglichkeiten zu beherrschen. Textabbildung Bd. 340, S. 29 Abb. 2. Textabbildung Bd. 340, S. 29 Abb. 3. Die für die Ausführung wichtigen Einzelheiten lassen sich leicht aus dem Schaltbild (Abb. 3) ersehen, an Hand dessen der Vorgang bei der Abschaltung kranker Leitungen klargelegt werden soll. Nehmen wir Leitung II als beschädigt an, so wird in Station 1 die dadurch hervorgerufene Stromänderung sich in einer Spannungsdifferenz der Wandlergruppe W2' gegenüber W1' u. W3' und damit in der Betätigung der Relais R1 u. R2 auswirken. Auf Grund der Schaltung wird durch R1 u. R2 der Hilfsstromkreis B geschlossen – auf dem Weg über die oberen Kontakte von R1 und die unteren Kontakte von R2, so daß Spule A2 Strom erhält und den Schalter der Leitung II herausnimmt. Durch Hilfskontakte wird gleichzeitig Wandler W2' kurzgeschlossen (a), das Relais R2 abgetrennt (b) und für eine neue Störung der Hilfsstromweg nach Relais R1 freigegeben (c), das nunmehr an Stelle von R2 den Schutz von Leitung III mit zu übernehmen hat. In Station 2 ist die Schaltung vollkommen symmetrisch zu 1 angeordnet, so daß auch hier nur A2 in Tätigkeit treten kann. Damit ist die Leitung II beidseitig vom Netz abgetrennt. Die letzten 2 Leitungen I und III werden bei neuer Störung zusammen abgeschaltet, wofern nicht durch ein besonderes Richtungsrelais auch noch die SelektivwicklungSelektiv- auswählend, hier: die gesunde von der kranken Leitung trennend. bei diesen Leitungen aufrechterhalten wird. Diese Forderung führt freilich nicht mehr auf einfache Schaltungen, da nunmehr für jede Phase ein gesondertes Polygon aufgestellt werden muß, und da ferner für jede Leitung 1 Energierichtungsrelais, 2 Stromrelais, 1 Zwischenrelais und 1 Zeitrelais zur Verwendung kommen müssen. In den meisten Fällen genügt die einfache Anordnung, bei der die letzten beiden Leitungen gleichzeitig abgeschaltet werden, da eine Leitung meist an und für sich nicht imstand sein wird den gesamten vorher durch drei oder mehr Zweige übertragenen Strom allein ohne Schaden auszuhalten. Wird nach einer Störung der Hauptschalter der einen Station wieder eingeschaltet, so öffnet sich (sieht Abb. 3) Hilfskontakt a und c, während b sich schließt. Ohne besondere Maßnahme würde daraufhin in dem vorher im Gleichgewicht befindlichen Polygon eine Stromunsymmetrie eintreten, die den Schalter sofort wieder abtrennen müßte. Um dies zunächst zu verhüten schließt man parallel zu Kontakt a den Wandler durch Schaltelement N (in unserm Fall N2) kurz, so daß der in W2' etwa auftretende Strom sich ohne Wirkung auf die sonstigen Polygonströme über den Stromzeiger (Str.2) und das Maximalstromrelais (J2) ausgleichen kann. Nun können drei Fälle vorkommen: 1. Der Kurzschluß besteht noch: der Wandler der Leitung führt einen so großen Strom, daß das Maximalrelais J2 anspricht und durch Betätigung des Hilfsstromkreises den Hauptschalter A2 abtrennt. 2. Die Störung ist beseitigt, aber die Gegenstation hat die Leitung noch nicht eingelegt: Dann zeigt der Strommesser St2 die Ströme in den Wandlern der fehlerfreien Leitungen an. 3. Die Störung ist beseitigt, Gegenstation hat eingeschaltet: dann sind die Ströme in sämtlichen Wandlern gleich groß. Der Stromzeiger geht in die Nullstellung zurück. – Daraufhin schaltet man N2 aus und die Leitungen sind wieder selektiv geschützt. Die Nützlichkeit der Stromzeiger Str. liegt auf der Hand: ohne weitere Verbindung läßt sich die Tätigkeit der Gegenstation soweit beurteilen, daß danach die eigenen Maßnahmen getroffen werden können. Wird nach Beendigung des Einschaltvorganges versehentlich das Schaltelement N nicht abgetrennt, so bleiben sämtliche Leitungen nur unter dem allgemeinen Ueberstromschutz in Betrieb, während die Selektivwirkung des Polygonschutzes natürlich ausfällt. Franz.